Die Erfindung des Rades zum Transport schwerer Lasten ist eine Zäsur in der Geschichte der Menschheit. Doch dauerte es bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, bis zwei Räder hintereinander gereiht an einen Rahmen befestigt wurden zur Fortbewegung, zunächst sich wippend mit den Füßen am Boden abstoßend, ausgangs des Jahrhunderts den Antrieb über eine Kette auf das Hinterrad nutzend. Im Schweizer „Velo“, verkürzt aus dem französischen vélocipède, worin das lateinische velox (schnell) und pes (Fuß) stecken, trägt diese Wurzel weiter.
Heute hat sich das Fahrrad technisch, ästhetisch und kulturell ausdifferenziert. Es gibt den Klassiker des Hollandfietses für gemütliches Radeln mit geradem Rücken, minimalistische Rennschnitten aus Carbon wie beim Giro d’Italia, Lastenräder mit Zwillingssitz für die Fahrt zur Kita und das Fixie in Neonfarben ohne Bremsen für den urbanen Hipster. Angesichts schamloser Anschaffungspreise im hohen vierstelligen Bereich eignet sich das Rad fraglos als Statussymbol, entsprechend schicke Textilien tun als funktionaler Körperschmuck das ihre.
Das Fahrrad ist darüber hinaus das ideale Verkehrsmittel für die chronisch stauverstopften Städte. Es emittiert keinerlei Schadstoffe, kommt ohne fossile Energien aus, ist sparsam im Platzanspruch, eignet sich für Jugendliche, Sportler und Senioren, männlich wie weiblich gleichermaßen, dient dem Transport alltäglicher Güter, schenkt eine definierte Figur, trainiert en passant das Herz-Kreislauf-System und schont obendrein die Gelenke. Beim Radfahren sind alle Sinne aktiviert, Mensch und Maschine werden eins in der Bewegung im Raum, das Erlebnis der Elemente Sonne, Wind, Erde und Regen sowie der Zeit ist unverstellt.
Als fahrradfreundliche Städte werden immer wieder Kopenhagen, Toronto, Amsterdam und Helsinki genannt. Diese Metropolen haben ihre Infrastruktur bewusst zugunsten des Fahrrads und des Schutzes der Radler im Verkehr organisiert, sie behalten breite innerstädtische Straßen komplett den Rädern vor, erlauben ihnen die Benutzung von Einbahnstraßen in beiden Richtungen, stiften ein gepflegtes Netz an Radwegen, bieten ihnen großzügigen Parkraum und forcieren Park-and-Ride-Lösungen für Pendler.
Nie war es leichter, die persönlichen Interessen – Gesundheit, Mobilität, Fitness, Zeitersparnis – mit denen der Allgemeinheit – saube(re)re Luft, Lärmminderung, Raumgewinn, Ressourcenschonung – zu verbinden. „Gerade im Gegensatz zum jahrelang vorherrschenden Monotheismus der Gasmotoren und Auspuffrohre könnte der Polytheismus des Radfahrens einen unvorhersehbaren Prozess mit vielfältigen Möglichkeiten in die Wege leiten. Die Flug- und Fluchtwege, die das Fahrrad bietet, folgen nicht den Flüssen der Waren, des Geldes, des Kapitals.“ So utopisch formuliert es Steen Nepper Larsen, Soziologe an der Universität Aarhus.
In der flächendeckend versiegelten Autorepublik Deutschland ticken die Verkehrsplaner weiterhin benzingerecht wie in den 1960er Jahren, ganz im Sinne der SUV-Fetischisten, denen auch gesundheitsschädliche Stickstoffwerte in der Atemluft die Lust an ihren zivilen Panzern nicht nehmen. Zudem gelten in Berlin, Hamburg, Köln und München Radfahrer als mobile Verkehrshindernisse. Dass sie auf der Straße vulnerabel sind und bei Zusammenstößen mit den tonnenschweren Blechkisten schwere bis tödliche Verletzungen riskieren, wird ihnen zum Schaden ausgelegt: Dann sollen sie eben nicht fahren!
Kinder machen einen wichtigen Schritt in ihrer motorischen Entwicklung, wenn sie erstmals spielerisch auf dem Rad die Balance halten, ohne zu stürzen; sie erleben es als Selbstermächtigung, sich mit eigenem Tritt schnell wie ein Hund zu bewegen. Sie lernen das Fließgleichgewicht zu halten, zu lenken, Kurven zu fahren, eventuellen Hindernissen auszuweichen, je nach Situation zu verlangsamen oder zu beschleunigen; zuerst nachmittags auf dem gehegten Schulhof, dann peu à peu auf dem Bürgersteig und schließlich auf dem Radstreifen im realen Verkehr.
Das Fahrrad kommt ihrem Bewegungsdrang entgegen, dieser wird allerdings gebremst durch eine konservative Verkehrspolitik, die sich an den grotesken Bedürfnissen des Autos orientiert. Ihnen wird eingeimpft, dass Rad fahren per se gefährlich ist – als sei es ein Naturgesetz, dass Radfahrer als Verkehrsteilnehmer zweiter Klasse behandelt werden. Wenn Kinder erst einmal Rad fahren können, verlernen sie es nie wieder, es wird zu einer Sprache ihres Leibes – und das Leben der Straße avanciert zu deren Grammatik.
Viele Menschen sehnen sich in einer digitalisierten Welt danach, unvermittelte Erfahrungen zu machen, die sich im Körper zeigen und nicht auf einem Monitor. Rad fahren, ein komplexer wie simpler Mechanismus, weitet das Kontrollfeld des Menschen: Er beherrscht eine filigrane Konstruktion, kultiviert seine Kinästhesie und erlebt sich als aktiver Teil einer Menge in permanenter Bewegung. Oder in den Worten Steen Nepper Larsens: „Die Mobilität des Rades erinnert uns vielmehr an den alten Traum, frei wie ein Vogel zu sein, ganz anders als eine Autofahrt auf der Schnellstraße, die diese Erfahrung austauschbar werden lässt.“