Fahrradklima

„Du fährst Fahrrad in Berlin? Das wäre mir viel zu gefährlich!“ Kerstin kann nicht sagen, wie häufig sie diese Aussage im Familien-, Freundes- und Kollegenkreis schon gehört hat. Dabei ist ihr klar, dass das Radfahren in der Metropole mit einem erheblichen Risiko für Gesundheit und Leben verbunden ist, das einen umsichtigen und defensiven Fahrstil erheischt. Im Schnitt werden pro Jahr in der deutschen Hauptstadt zwölf Menschen auf dem Rad von Autos totgefahren, etwa 600 Menschen werden bei Kollisionen zum Teil schwer verletzt. Hätte Kerstin schulpflichtige Kinder, überlegte sie es sich dreimal, ob sie sie allein mit dem Rad zur Schule fahren ließe.

Sobald sie in moderat geneigter Haltung auf ihrem Trekkingrad sitzt, ist Kerstin hellwach. Sie kann sich im Verkehrstumult keinen Augenblick der Abgelenktheit leisten, will sie nicht unter die Räder kommen. Auf dem Weg zur Arbeit wird sie mit chronischen Behinderungen konfrontiert: Rechts abbiegende PKW wie LKW missachten die Vorfahrt geradeaus fahrender Radfahrer (m/w/d), Autotüren werden abrupt zum parallel verlaufenden Radweg aufgestoßen, die Radwege (soweit überhaupt vorhanden) sind oft zu schmal und durch Verwurzelungen an vielen Stellen aufgebrochen, permanent parken Autos illegal wie straffrei auf Radwegen, bei Baustellen wird der Radverkehr unversehens zwischen die Karossen gelenkt, beim Überholen halten junge telefonierende Araber am Steuer den vorgeschriebenen Mindestabstand zum Rad nicht ein, und und und.

In Sachen Fahrrad ist Kerstin verwöhnt. Ihre beschauliche Heimatstadt Münster gilt seit jeher als Vorzeigekommune der Alltäglichkeit des Radverkehrs. Das liegt nicht nur an den zahlreichen Studenten (etwa 40.000 von insgesamt gut 300.000 Einwohnern), die auch aus finanziellen Gründen das Fahrrad für die innerstädtischen Wege nutzen, sondern zuerst an einer klugen Verkehrspolitik, die konsequent auf die Leeze setzt. Die Promenade, ein zentraler Ring von vier Kilometern Umfang, ist den Fahrrädern vorbehalten, Einbahnstraßen dürfen auch in der Gegenrichtung benutzt werden, vorbildlich gewartete Schnellradwege schließen die Vororte an die City an, vor über 20 Jahren bereits entstand am Bahnhof das erste Fahrradparkhaus der Republik speziell für Pendler. So ist es hier nicht der Rede wert, dass der Oberbürgermeister mit dem Velo ins Rathaus fährt, auch wenn er nicht von der lokalen Presse dabei fotografiert wird.

Berlin wächst jährlich um etwa 50.000 neue Einwohner (m/w/d). Die Stadt leidet unter ihrer ungebremsten Attraktivität, denn die stetig mehr werdenden Radfahrer verfügen schlicht über zuwenig Platz, um sicher, schnell und komfortabel zum Ziel zu gelangen. Die autogerechte Stadt der 1960er Jahre mit ihrer Arroganz der Fläche bleibt in Preußen steinerne Realität. So zerschneidet die verharmlosend Bismarckstraße und Kaiserdamm genannte Stadtautobahn das Quartier Charlottenburg wie eine Front; je vier Spuren für den fließenden Autoverkehr in beiden Richtungen werden um drei Parklinien ergänzt, ohne dass auf dieser Ader Busse der BVG eingesetzt würden. Die Magistrale gehört zu den am stärksten mit Lärm und Feinstaub belasteten der ganzen Stadt – für den Senat kein Grund, den Autoverkehr zugunsten der Anwohner zu reduzieren.

Aus den Erfahrungen skandinavischer, niederländischer und Schweizer Großstädte weiß die Stadt- und Verkehrsplanung seit langem, dass eine sichere Infrastruktur die Menschen zum Radfahren animiert. Dabei bilden Kinder, Frauen und Senioren mit ihrem erhöhten Sicherheitsanspruch den Maßstab, keineswegs junge sportliche Männer, die den Radweg kurzerhand zum Trainingsparcours umwidmen. Allerdings traut sich keine Verwaltung an die zeitgemäße Neuverteilung des öffentlichen Raumes: Parkplätze werden nicht zu Radwegen gemacht, sie bleiben vielmehr gratis; feste Bügel zum Anschließen der Räder werden auf Bürgersteigen angelegt und nehmen den Fußgängern (m/w/d) Raum; Ampelschaltungen richten sich weiter nach der Geschwindigkeit der Autos. Zu tief sitzt bei den politisch Verantwortlichen die Angst vor der Motorlobby.

In einer alle zwei Jahre durchgeführten Umfrage zum Fahrradklima versucht der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) die Debatte um die politische Förderung des urbanen Radverkehrs empirisch zu stützen. 2018 haben insgesamt 170.000 Menschen Angaben gemacht, lediglich 15 % davon sind Mitglied im ADFC. Die Zahlen für ganz Deutschland fallen bescheiden aus: Das Fahrradklima, verstanden als generelle Zufriedenheit beim Radfahren, wird bundesweit mit einer 3,9 (nach Schulnoten) bewertet; 2016 lag der Wert noch bei 3,8. Das Gefühl der Sicherheit auf dem Rad wird mit einer 4,2 noch schlechter beziffert; dabei verbessert sich der Wert mit abnehmender Größe der untersuchten Stadt. 81 % aller Befragten (gar 86 % der Frauen) halten es für wichtig, auf eigenen Radwegen vom Autoverkehr getrennt zu sein – und genau diese Anlagen fehlen resp. sind mangelhaft.

In Berlin ist die Situation nur deprimierend zu nennen. Sicher sind die 4.546 Teilnehmer (m/w/d) der Umfrage bei einer Einwohnerzahl von rund 3,5 Mio. an der Spree nicht repräsentativ, sie geben aber als engagierte und erfahrere Klientel eine Tendenz an. Die allgemeine Lage ist mit einer blamablen 4,3 gewichtet, das Sicherheitsgefühl auf dem Rad wird mit einer 4,8 benotet, Konflikte mit KFZ sowie die Breite der Radwege erhalten eine bedrohliche 5,1. Der Schluss aus dieser Statistik ist nicht schwer zu ziehen: Wenn es dem Senat mit seinem Mobilitätsgesetz ernst ist und er den Anteil des umweltverträglichen Radelns am Verkehr spürbar erhöhen will, muss er – umgehend – mit entsprechenden Maßnahmen die Menschen zum sicheren und bequemen Radfahren einladen. Er muss endlich (mehr) Radwege bauen und dem motorisierten Verkehr Fahrspuren wegnehmen.

Wenn Kerstin über die breite Allee des 17. Juni durch den Tiergarten cruist, pedaliert sie im runden Tritt und gerät in einen Flow. In der Ferne ist das Brandenburger Tor auszumachen, von den Seiten überdeckt der Duft der blühenden Bäume den Dieseldreck der Blechkisten, der Fahrtwind spielt mit ihrem langen Haar unter dem Helm. Inmitten der anderen Radler (m/w/d) fühlt sie sich als Teil eines subversiven Kollektivs, das aus Lust an der eigenen Bewegung täglich Fahrrad fährt und die Schonung des Klimas dabei gerne mitnimmt. Die letzte Meile zum Büro führt durch eine sogenannte Fahrradstraße, die genauso zugeparkt ist wie jede andere und wo die SUV wie Panzer patrouillieren. Nein, Deutschland ist beileibe keine Avantgarde beim Fahrradklima. Aber es gibt hier immer mehr Menschen, die via Mobilität und Lebensstil das gebotene Umlenken einleiten. Autofreie Stadtzentren geraten zur ersten Etappe dieser Tour.