Das Bild hat ihr ihre Cousine via Signal geschickt. Sie hatte es im Fotoalbum ihrer Eltern gefunden und abfotografiert, um ihnen zur diamantenen Hochzeit eine digitale Diashow ihrer gemeinsamen Jahre zu schenken. Als Kerstin das Bild auf dem Telefon bei einem Essen im Restaurant am See sah, war sie gerührt und fasziniert. Gerührt, weil die Aufnahme, die mutmaßlich drei Jahre vor ihrer Geburt gemacht wurde, auch ihre nachmaligen Eltern zeigt; fasziniert, weil der Schnappschuss der Familie väterlicherseits bis ins Detail komponiert wirkt, als hätte Diego Velázquez die Personen sorgsam arrangiert und auf die Leinwand gebannt. Genau wie auf dem berühmten Gemälde „Las Meninas“ fehlt auf dem Foto ein klares Zentrum, es ist durchzogen von mehreren sich kreuzenden Blickachsen und daher voller Bewegung und Tiefe.
Das Bild im Querformat im Verhältnis von 4:3 ist tagsüber im Freien entstanden, wahrscheinlich im Spätsommer, im Hintergrund sind belaubte Zweige und eine hell-beige Hauswand auszumachen. Zu sehen im Vordergrund ist die Familie von Kerstins Vaters, genauer seine Eltern und seine vier Geschwister samt Partnerinnen respektive Partner. Kerstins Großeltern und ihrer jüngster Sohn sitzen auf einer Bank, von ihren älteren Kindern umringt; auf ihren Knien wiegen sie die beiden ersten Enkel. Deren Alter erlaubt die Datierung der Aufnahme auf wahrscheinlich 1962, dem Geburtsjahr des zweiten Enkels, der als Baby von seiner Oma gehalten wird. Die Farben des Bildes haben mit den Jahrzehnten auch in seiner digitalen Fassung erkennbar an Leuchtkraft eingebüßt, mit der Ausnahme zweier roter Kostümjäckchen von Kerstins Tanten dominiert ein stumpfes Gemisch von Weiß über Grau, Oliv und Schlamm zu Schwarz. Die seinerzeit im Privaten noch kaum verbreitete Farbfotografie unterstreicht die Wichtigkeit der Aufnahme für die Abgebildeten.
Besonders deutlich entbehrt die Aufnahme einer klaren verbindenden Blickrichtung der versammelten Personen, vielmehr lassen sich einzelne Perspektiven und Beziehungsinseln ausmachen. Ganz am linken Bildrand steht Kerstins kommender Vater im Profil, der seine frisch angetraute Ehefrau lachend ansieht und dabei ihre Ellenbeuge umfasst; diese ballt die Hand des umschlossenen Arms zur Faust und blickt leise lächelnd nach unten, als zöge sie sich gedanklich aus der Situation heraus. Neben den beiden steht die einzige Schwester ihres Vaters, noch leicht drall und madonnenhaft nach überstandener Schwangerschaft und Geburt ihres ersten Sohnes; hinter ihr steht, mit direktem Blick in die Kamera und wie beim Tanz mit linker Hand an der Taille seiner Gattin, der ehemalige Schulkamerad ihres Vaters und jetzige Schwiegersohn ihrer Großeltern. Rechts daneben steht deren zweiter Sohn, die Augen melancholisch abwärts gesenkt, während seine Ehefrau den Kopf leicht schräg hält und aus vollen Wangen in die Kamera schmunzelt. Am rechten Bildrand steht schließlich die Frau, die den Großeltern ihren ersten Enkel gebar; unter toupierter Frisur blickt sie versonnen und nur angedeutet lächelnd in die Kamera, die gegebenenfalls ihr nicht in der Gruppe anwesender Mann und ältester Sohn der Eltern bedient.
Ganz links auf der Bank, damit auf der vordersten von vier Bildebenen, sitzt der jüngste Sohn, der aufgrund einer bald ausbrechenden chronischen psychischen Erkrankung nicht heiraten sollte. Sein rechter Ellenbogen ruht auf der Lehne, die Finger seiner rechten Hand stehen auf dem rechten Oberschenkel, als wollte er nach vorne aus dem Rahmen schnellen; im jugendlich schönen Gesicht liegt ein fester Blick direkt ins Objektiv. Neben ihm seine Mutter mit weiß gewordenem Haar, die voller Freude über die Augen mit ihrem zweiten Enkelsohn auf ihrem Schoße kommuniziert. Am rechten Rand sitzt ruhig und geerdet der Großvater mit dem ersten Enkelkind; während dieses aufmerksam geradeaus schaut und die rechte Hand in Richtung Betrachterin erheben will, scheint des Großvaters Blick nach innen zu gehen, seine verschränkten Hände halten den kleinen Jungen kontemplativ schützend. Die Erwachsenen auf dem Bild sind in ihren Zwanzigern, die Männer in Anzug und Krawatte, die Frauen in Twinset und Schmuck, was alle Beteiligten um mindestens zehn Jahre älter wirken lässt.
Diese Familie ist zur Hälfte auch Kerstins Familie, sie führt deren Tradition gemeinsam mit ihrer Schwester sowie ihren Vettern und Basen fort. Das Wort „Familie“ findet sich im Deutschen ab dem 15. Jahrhundert, es ist entlehnt aus dem lateinischen familia (von famulus, der Diener). Das Wort bedeutet zunächst die Hausgenossenschaft einschließlich der Sklaven respektive das Gesinde und wird dann später sprachlich enggeführt auf die biologische Einheit von Eltern und Kindern sowie Kindeskindern. Die Familie ist nichts, was sich die Einzelne aussucht; sie wird vielmehr in ein konkretes Milieu hineingeboren, das sie von klein auf formt und prägt für das weitere Leben, ökonomisch, emotional, geistig, körperlich und kulturell. Über Generationen lassen sich Ähnlichkeiten äußerlicher und wesenhafter Natur finden; so verfügt Kerstin entschieden über Anteile des Familiengesichtes, das ihr Großvater unverkennbar trägt, ihr Vater ebenfalls und mit dem Alter auch ihre Cousins, unter anderem die angedeutete Spalte des Kinns. Ihre dezent vorgebeugte Haltung und ihr leichter Knochenbau kommen indes aus der Richtung ihrer Mutter und deren Familie, ebenso die Partie um die Augen und die Stirn. Ihren ausgeprägten Drang nach Unabhängigkeit und Selbstständigkeit verdankt sie hingegen beiden Eltern.
Auf dem besprochenen Bild scheinen sich die beiden Großeltern wohlverdient zur Ruhe zu setzen. Sie haben mit ihren Kindern, allesamt in den 1930er Jahren geboren, den II. Weltkrieg überstanden in der Evakuierung auf dem Bauernhof, wo sie unter Hunger litten und es zu Bombardements kam. Nach dem Krieg hat sich die Familie, die aus einfachen Verhältnissen stammt, in der Trümmerlandschaft ein eigenes Haus gebaut, unter erheblichem Eigenanteil der arbeitenden Kinder. Doch war das Glück in diesem Haus nur von kurzer Dauer, führte doch die Trasse einer geplanten Schnellstraße direkt über das Grundstück. Doch wurde der Familie nach der erzwungenen Übernahme ihres Hauses durch die Stadt ein vollwertiger Ersatz in grüner Umgebung angeboten. Das Bild zeigt die alt gewordenen Eltern im Kreise ihrer Kinder zu einer Zeit, als der Umzug in die letzte Bleibe bereits absehbar war – der aufgehobene Moment weist aus der Vergangenheit in die Zukunft. Sie können das Gelobte Land des Friedens aus der Ferne sehen und werden es auch betreten.
Fünf der abgelichteten zwölf Personen auf der Aufnahme leben heute nicht mehr, etliche weitere sind unter gleichem Namen und aus anderen Familien hinzugekommen und tragen den Staffelstab weiter. Das ewige Werden und Vergehen zeigt sich besonders im Alter – so bekommt Kerstins Vater phänomenologisch immer größere Ähnlichkeit mit ihrem Großvater, also seinem Vater. Nach dessen Tod Mitte der 1970er Jahre zog Kerstins Familie in das Haus der Großeltern, an Weihnachten kam dann die wachsende Familie zu Kaffee, Klatsch und Kuchen zusammen. Das volle Haus mit Gelächter, Hundegebell, Zigarettenqualm und Zuckerkater hat sich fest in Kerstins Erinnerung verankert. Die Haustür wurde mit den Jahren ebenso erneuert wie die Fenster, die Terrasse wurde mit rotem Stein neu ausgelegt, vor allem sind die Bäume, Sträucher und Hecken in den Gärten zu imposanter Höhe angewachsen. Auch heute ist dieses Haus für sie das Elternhaus, das der ihren und jenen ihres Vaters.
Was ist nun das Typische dieser Familie? Die katholische Konfession ist den meisten lediglich Konvention, einigen jedoch Lebensstütze. Beruflich gibt es keinen gemeinsamen Nenner, auch wenn Bildung und Wissen als Grundlage des gesellschaftlichen Erfolgs hoch geschätzt werden; akademische Tätigkeiten sind ebenso vertreten wie handwerkliche und kaufmännische, unter den Angehörigen sind Angestellte, Beamte und Unternehmer. Manche Wege verliefen solide wie eine breite schattige Allee, andere sind gekennzeichnet durch Stolpern, Fallen und Wiederaufstehen, manche Hoffnung auf Erfüllung und Berufung ist am Schicksal zerschellt. Eine tiefe Verbundenheit, ja Liebe zur westfälischen Heimat lässt sich bei allen finden, bei jenen, die immer am Ort geblieben sind, bei den Rückkehrern nach Jahren und bei denen, die regelmäßig aus den fernen Metropolen zu Besuch kommen. Vielleicht ist die Neigung zur Schwermut als Charakteristikum zu nennen, die sich in gehäuften Depressionen ebenso offenbart wie in der Verführbarkeit durch Alkohol sowie Medikamente und die auch vor einer Schizophrenie und einer Transidentität nicht halt macht.
Und natürlich ist der Familienname als Bindeglied zu nennen, Webseite, Klingelschild und Grabstein zierend. Kerstin, ledig und kinderlos wie ihre Cousine, ist es gewohnt, ihren Namen bei einer Vorstellung anderen Menschen gegenüber zumeist zu wiederholen, regelmäßig auch zu buchstabieren. Neulich war sie überrascht, als eine Kollegin sie fragte, ob sie aus Westfalen komme. Es stellte sich heraus, dass die Kollegin in der gleichen Gegend wie Kerstin geboren wurde und ihr der Name geläufig war. So ist die Familie eingelassen in den größeren Zusammenhang der Region, des Landes, der Nation und der Sprache. Das westfälische Platt, das ihre Großeltern noch flüssig sprechen konnten, vermag Kerstin in groben Zügen noch verstehen; gleiches gilt für den tradierten Gaunerjargon der Massematte. Das Bodenständige und die Sturheit, auch als Ausdauer bekannt, haben sie ihr über die Generation ihrer Kinder mitgegeben. Heute sind die Familien kleiner, nach zwei Kindern ist meist Schluss, auch sind die Mütter bei der Erstgeburt älter als noch vor 60 Jahren. Auf dem Bild ihrer Vorfahren sieht Kerstin zwölf Individuen, mehrere Paare und eine Sippe. Sie selbst ist noch eine vage Idee in den Herzen ihrer Eltern. Doch es kommt der Tag, an dem sie geboren sein wird und teil hat an etwas Größerem, das man Leben nennt.