Abseits der Städte, wo Radfahren mangels geeigneter Infrastruktur mit erheblichen Gefahren für Leib und Leben verbunden ist, gibt sich die Autorepublik Deutschland paradoxe Mühe, den Radverkehr zu fördern. Einrichten, Warten und Kommunizieren sogenannter Fernradwege zielen auf eine naturnahe Erschließung des Landes und seiner Regionen, sowohl für die Alltagsnutzung als auch den sanften Tourismus. Als Beispiele bester Praxis dürfen der Fernradweg Berlin-Kopenhagen sowie der Oder-Neiße-Radweg genannt werden.
Kaum ist die deutsche Kapitale samt Radau und Dichtestress verlassen, rollt das agile Trekkingrad im angestammten Ausdauertempo. Kein permanentes Zucken, Wenden, Drehen und Weichen mehr, stattdessen ein zügiges Gleiten vor sattem Raps in würziger Frühherbstluft. Bis ins dänische Fahrradmekka am Øresund sind gut 600 Kilometer zurückzulegen, wie eine Schautafel am Rande Oranienburgs erläutert. Für den Fernradweg werden schütter befahrene Nebenstraßen mit eigens geschaffenen Radpassagen und abseitigen Wirtschaftspfaden kombiniert und auf Radkarten ausgewiesen, das weiß-grüne Fahrrad-Piktogramm und das spezielle Wegelogo an den Abzweigungen helfen bei der Orientierung.
„An einem Sommermorgen da nimm den Wanderstab, es fallen Deine Sorgen wie Nebel von Dir ab.“ Dieses Motto Theodor Fontanes zu seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg lässt sich umstandslos auf das Radfahren übertragen. Die Route Richtung Fürstenberg, dem südlichen Einfallstor zur Mecklenburgischen Seenplatte, führt durch einen dichten Kiefernwald, fingerlange Nadeln liegen in Büscheln auf dem Boden, zwischen den Stämmen bricht sich der Strahl der tief stehenden Sonne. Die Bäume scheinen kein Ende zu nehmen, sie lichten sich, wenn sich die Flüsse und Kanäle zu Seen verbinden, die ihre Gestade ins Gehölz vorschieben. Ein stilles Wasserland mit einem Hauch von Karelien.
Ein individuell eingesessener Ledersattel ist eine exzellente Investition für eine mehrtägige Tour, während der Nacken und Lenden, Hüften und Schenkel ohne zu schmerzen arbeiten sollen. Die britische Sattlerei Brooks mit ihren Wurzeln im Pferdesport bietet zudem ergonomisch geformte Lenkergriffe mit Lederüberzug feil; ein Accessoire, das das Rad stilistisch veredelt und funktional Taubheitsgefühlen im Handgelenk vorbeugt. Auch mit den klug gefüllten Packtaschen am hinteren und vorderen Gepäckträger läuft das Rad stabil und schnell, dank der straff gepumpten, mäßig profilierten schmalen Reifen.
Die mäandernde Havel, die den Weg nun begleitet, scheint zu stehen, so eben liegt ihre Oberfläche im Licht. Das Bild vom märkischen Sand stimmt für den nördlichen Teil Brandenburgs nur bedingt, die moorige Ebene zwischen Fürstenberg und Schwedt ist ein bewaldeter Archipel, wo nicht ausgemacht ist, ob die Erde, das Wasser oder der Himmel die Oberhand behalten wird. Auf dem Asphalt liegen glänzende Kastanien neben ihren stachligen Gehäusen, teils zu Mus zerquetscht. Einige Meilen weiter säumen Eichen die Etappe, die ihre Frucht unvermittelt auf den Boden fallen lassen. Auch hier ist es sinnvoll, einen Helm zu tragen.
Rund 100 Kilometer ostwärts lässt sich am linken Oderufer erfahren, wie Gelder aus dem Brüsseler EU-Infrastrukturfonds vernünftig angelegt werden können. Von Frankfurt hinauf bis nach Schwedt verläuft neben resp. auf dem Deich ein breiter Radweg, hier können Rennradfahrer beim Tempomachen mit dem Wind kämpfen und Familien entspannt zum Picknick cruisen. Die Oder/Odra ist seit dem II. Weltkrieg die Grenze zwischen Polen und Deutschland, die mit ihren zahllosen Nebenarmen und Poldern ein schlankes Delta bildet. Die regelmäßigen Überschwemmungen im Zuge der Hochwasser machen die Uferauen fruchtbar, die politische Starre während des Kalten Krieges hat das Ihrige dazu beigetragen, dass das Oderbruch heute ein Paradies für Vögel ist.
Dem Rad fährt sein Schatten stetig voraus. Leise surrt die Kette, die Fußgelenke pedalieren im runden Tritt, der Rhythmus des Atems vermischt sich mit dem Schleifen des Windes und dem gelegentlichen Ruf des Adlers, ein selten entgegenkommender Radler wird nickend gegrüßt. Die Lippen schmecken erstes Salz, regelmäßiges Trinken tut not. Die rückwärtig liegende Sonne blendet nicht, aber wärmt, das weit schauende Auge wird gepflegt durch alle Schattierungen zwischen Braun und Grün, auf plötzliche Reize muss es sich hier jenseits des Autoverkehrs nicht einstellen. Das stundenlange Radfahren im Schweigen wirkt kolossal kontemplativ, der Geist ruht ankommend in sich, Körper und Seele genießen das pure Geschehenlassen.
Der Brandenburger Abschnitt des Fernradwegs berührt verfallene Gutshöfe und geputzte Weiler, die KZ-Gedenkstätte Ravensbrück und exklusive Yachthäfen, Pferdekoppeln und einen Ziegeleipark, verstaubte Felder und verschilfte Weiher. Bei der Suche nach einem Nachtlager in dieser fast menschenleeren Gegend feiert die DDR fröhliche Urständ: Alleinreisende, die am nächsten Morgen weiter Richtung Meer wollen, sind keine begehrte Klientel. Doch dieser triste deutsche Klang soll nicht die innige Freude beim Reisen mindern, er erfordert lediglich umsichtige Planung. Am nächsten Morgen gehen die Exerzitien der Bewegung weiter, die Frühluft riecht schon leicht nach See, – auch wenn erst die Grenze Mecklenburgs überquert ist.