Im politischen Kontext bezeichnet die „Fraktion“ die parlamentarische Vertretung einer Partei. Selten war dieser technische Begriff so zutreffend wie nach der Wahl in Berlin am vergangenen Sonntag. Nach der Abstimmung sind nun sechs Parteien im Abgeordnetenhaus vertreten, die SPD ist mit 21,6 % die stärkste Kraft, es folgt die CDU mit 17,6 % der Stimmen vor der Linken mit 15,6 % und den Grünen mit 15,2 %. Die AfD erreicht aus dem Stand 14,2 %, die FDP zieht mit 6,7 % wieder ins Parlament ein.
Die „Fraktion“ kommt aus dem Französischen, wo „fraction“ schlicht die Gruppierung meint. Wurzel dieses Wortes aber ist das lateinische „frangere“, was soviel wie brechen heißt. Auch das Fragment und die Fraktur tragen den Bruch in sich; die Fraktionen im neuen Berliner Abgeordnetenhaus sind demnach die Bruchstücke der politischen Landschaft, die sich entlang der Sollbruchstellen der Gesellschaft gebildet haben. Eine einigende Erzählung, ein Minimalkonsens sind nicht auszumachen, jede*r dritte Wahlberechtigte blieb der Wahl fern.
Es ist historisch in der Bundesrepublik ohne Beispiel, dass eine Partei mit lediglich 21,6 % der Stimmen größte Gruppierung im Parlament werden konnte wie nun die SPD, die damit auch (weiterhin) den Regierenden Bürgermeister stellen wird. Die nächsten vier Parteien liegen maximal 3,4 % auseinander, damit hat sich die Rede von den Volksparteien erledigt. Es wird nun zu einem Bündnis aus drei Fraktionen im Senat kommen, ohne dass eine Partei eine klare Legitimierung zum Führen durch das Wahlergebnis hätte.
Diese Ansammlung von Fragmenten im Parlament passt exakt zur Berliner Situation, die durch ein Nebeneinander so differenter Szenen, Kieze und Milieus charakterisiert ist: Die Politik- und Lobbyblase in Mitte, die Drogen- und Partymeile in Friedrichshain, die russische Enklave in Marzahn, die ergraute Bohème in Charlottenburg, Naher Osten in Neukölln, unverwüstliche Anarchos in Kreuzberg, steriler Posh im Prenzlauer Berg, das Kleinbürgertum in Reinickendorf, verbitterte SED-Kader in Hellersdorf, die Bourgeoisie im grünen Zehlendorf.
Berlin übt seit Jahren eine starke Anziehungskraft weit über die Landesgrenzen hinaus aus. Das führt zur Bildung lebhafter Start-up-Cluster, zu unbarmherziger Gentrifizierung, zu wachsender Aggressivität im Straßenverkehr und zu illegalen Airbnb-Pensionen in zentralen Quartieren. Die Stadt steht an der Grenze zur Unregierbarkeit, die Infrastruktur ist nicht auf vier Millionen und mehr Menschen ausgerichtet. Die Scherben des sozialen Wandels finden ihre Entsprechung in den Bruchstücken im Abgeordnetenhaus.