Frau

Sascha geht gerne schwimmen. Sie mag die gleichmäßigen Züge im amorphen Wasser, unter dessen Oberfläche die Geräusche der Welt verschwinden. Doch bevor sie ins Becken steigt, muss sie die Schleuse der Dusche passieren. An diesem Ort, der so öffentlich wie intim ist, nimmt sie verstohlen Maß an den Anderen und setzt sich zugleich deren Beobachtung aus. Sie sieht junge Frauen in der vollen Blüte ihrer flüchtigen Schönheit und faltige Matronen, die vor dem Alter kapituliert haben. Anorektische Pubertierende mit Nabelpiercing und von Schwangerschaften ausgelaugte Mütter. Austrainierte Sportlerinnen mit definierten Muskeln und gemütliche Freundinnen, die auf Anraten ihres Orthopäden auf sanfte Bewegung setzen. Inmitten dieses Defilees fällt sie mit ihrer schmalen Silhouette nicht weiter auf, zumal ihr Badeanzug figurschmeichelnd ist.

Mit geübtem Griff zwängt sie ihren mädchenhaften Pferdeschwanz unter die Kappe aus Silikon. Auf dem Papier hält sie sich an diesem nur Frauen vorbehaltenen Ort zurecht auf. Im Rahmen eines amtsrichterlichen Verfahrens wurde in den maßgeblichen Dokumenten ihr Geschlecht zu „weiblich“ geändert. Die jahrelange Einnahme von Östrogen hat ihre Gesichtszüge weicher und die Haut seidiger gemacht und auf ihrer Brust niedliche Knospen sprießen lassen. Eine Operation hat ihr eine Neovagina beschert, die sich beim Einseifen ihres nackten Körpers sehen lassen kann. Sascha hat pharmazeutisch-chirurgisch erreicht, was angesichts ihrer anatomischen Vorgaben möglich war. Was paradoxerweise dazu führt, dass das Trans stärker betont wird als die Frau.

Ihre frühen Erinnerungen an die Kindheit kreisen um das Gefühl der Unstimmigkeit. Dass ihre Eltern und die Lehrerinnen in der Grundschule sie als Jungen anreden, hält sie für einen Irrtum, der sich auswachsen wird. Sie trägt die Mähne so lang, dass sie während einer Schultheateraufführung für ein Mädchen gehalten wird. Doch dann geht die geschlechtslose Idylle der Kindheit in die Katastrophe der Jugend über, nun nimmt ihr Leben definitiv die falsche Abzweigung. An den keimenden Rundungen ihrer Freundinnen sieht sie schmerzlich, was ihr fehlt; das Absinken ihrer Stimme und das merkliche Wachsen ihres Flaums sind für sie Aufforderung zum Rückzug. Sie meidet alle Situationen, in denen sie sich in der biologisch vorgesehenen Rolle ausprobieren könnte, den Tanzkurs, die Werkstatt, den Sportverein, das Schützenfest. Bücher bilden Reservate der Fantasie und der Kompensation, bis heute.

Sie fühlt sich in ihrem ungelenken Leib wie verkrüppelt. Sie ahnt, dass sie diese Zeit überleben muss, um ihrer Sehnsucht, eine Frau zu sein, nachgeben zu können. Sie konzentriert sich auf den Unterricht, lernt diszipliniert und tarnt ihr Inneres. Erst nach dem Abitur, in einer fremden Stadt, nach Jahren der Betäubung durch Drogen, der Arbeits- wie Beziehungsunfähigkeit und einem Verhalten der Selbstzerstörung, findet sie den Mut, sich Hilfe zu holen und einen zweiten Anfang zu wagen. Die medizinische Diagnose der Transidentität ist schnell gestellt; die ersten Schritte der Feminisierung sind für sie eine Offenbarung. Welch ein Geschenk, als unter der Hormontherapie der strenge Bocksgeruch sich löst und sie lieblich wie eine Rose zu duften beginnt. Sie trifft hiermit keine Entscheidung, sondern fügt sich in das Unausweichliche.

Dabei stellt sich heraus, dass die seelischen Veränderungen weitaus gefälliger zu erzielen sind als die physischen. So hängt die soziale Anerkennung als Frau durch die Anderen von Bedingungen ab, die sich einer individuellen Manipulation durch Kleidung, Make-up, Bodyshaping und Stimmbildung entziehen. Wenn sie im Schwimmbad unter der Dusche steht, mustert sie sich gnadenlos mit ihrem eigenen kritischen Blick: Ihre Schultern sind breit, ihre Hüften dagegen formlos, eine Taille fehlt völlig, ihre Arme schlenkern überlang, ihre Hände und Füße sind groß, die hoch aufgeschossene Gestalt kommt athletisch daher mit einem Twist ins Knochige. Das Testosteron hat zu lange Schaden anrichten können, als dass das Östrogen ihr im Nachhinein eine fraulich attraktive Optik verliehe.

Und ihre Unsicherheit spüren die Menschen instinktiv, Kinder vor allem. Sascha vermisst es brennend, von einem Mann begehrt zu werden, sie weiß nicht, was Flirten ist, geschweige denn befriedigender Sex samt Zärtlichkeit und Gehaltenwerden. Sascha hat nachholend gelernt, nach Art der Frauen zu kommunizieren – im alltäglichen Vollzug realisiert sie, dass sie sich in einer Fremdsprache äußert, durchaus auf C2-Niveau. Ihr Vokabular, ihre Modulation, ihre Gesten und ihre Mimik gehen als fraulich durch. Doch je näher sie den sozialen Erwartungen an das Weibliche kommt, umso deutlicher realisiert sie die Kluft dazwischen. Mann und Frau sind für sie die Ufer des Flusses des Geschlechtes, in dessen Mitte sie gegen das Ertrinken kämpft.

Sascha kann ihren Stamm nicht verschleiern. Ihre Garderobe ist nach den Initiationen der Röcke, Pumps und Bodys längst unspektakulär praktisch geworden, passend zu ihrem schlanken Wuchs. Schmuck und Schminke trägt sie dezent zu den gegebenen Anlässen, mit regelmäßigen Friseurbesuchen stemmt sie sich gegen das fortschreitende Weiß im Schopf. Entgegen den Wolken der queeren Theorie en vogue ist Geschlecht kein leeres Blatt Papier, das nach persönlichen Vorstellungen zu beschriften wäre. Vielmehr stellt die Natur die erste Weiche in Sachen Mann, Frau und mehr. Anatomie ist Schicksal, wie Sigmund Freud es formuliert, die nachfolgende Kultur kann das Programm der Gene allenfalls verbrämen.

Den Vorsprung der geborenen Frauen wird Sascha nicht aufholen können, sie muss ihren eigenen Schritt halten. Das ist für sie Resignation wie Gabe, auch wenn der Preis in ungewollter Einsamkeit schwer erträglich hoch bleibt. Als evolutionäre Irrläuferin führt sie ein Leben im Niemandsland, ihre Seltenheit ist wertlos. Die Gnade der Normalität bleibt unerreichbar, für ihre soziale Behinderung ist kein Nachteilsausgleich vorgesehen. Das konnte sie seinerzeit nicht ahnen, als sie sich ihren Namen wählte, der im Rückblick in purer Klarheit scheint: Im Russischen wird der Name Sascha als Koseform sowohl für Alexander als auch Alexandra verwendet.