Fusion

  1 + 1 + 1 + 1 = 5 – Nach der Ethno-Mathematik

Fünf Monate hat es gedauert, nun haben die Mitglieder der Gemeinde Sankt Stephanus eine unmissverständliche Antwort auf ihre Frage nach dem Warum erhalten. Ende November 2020 wurde während der Messe zum 1. Advent von einem Repräsentanten des Bistums verkündet, der Pfarrer der Gemeinde müsse zum 1. Juni 2021 gehen und in einer anderen Gemeinde am östlichen Stadtrand seine Seelsorgearbeit fortsetzen. Nach einer beispiellosen Mobilisierung der Gemeinde, einer Flut von Leserbriefen an die Lokalzeitung, mehreren Demonstrationen auf dem Domplatz und einem persönlichen Gespräch mit dem Bischof veröffentlichte das Generalvikariat Ende April eine Erklärung zur Sache, die an Deutlichkeit nichts mehr offen lässt: Der Pfarrer werde versetzt, weil er sich aktiv gegen den Prozess der Fusion von Sankt Stephanus mit drei anderen ehedem selbstständigen Gemeinden zur Großpfarrei Sankt Liudger gestellt habe.

Die Fusion meint die Verschmelzung, den Zusammenschluss; das Substantiv kommt vom lateinischen Verb fundere, was gießen bedeutet. Im ökonomischen Kontext wird unter einer Fusion der Zusammenschluss zweier oder auch mehrerer Unternehmen zu einem neuen verstanden; in der neuen Firma sind im Sinne Hegels die jeweiligen ehemals unabhängigen Firmen aufgehoben: Sie sind formalrechtlich Teil eines größeren Ganzen geworden und dabei ihrer Eigenständigkeit verlustig gegangen; als Elemente im Neuen bleiben sie jedoch erkennbar und tragen die Konstruktion mit. Im kirchlichen Sinn steht die Fusion für das Zusammenlegen mehrerer Gemeinden zu einer neuen – aus dem so einfachen wie traurigen Grund des stetigen Schwundes an Mitgliedern der katholischen Kirche sowie des chronischen Priestermangels.

Die Diözesen versuchen mit permanent abnehmenden Ressourcen die seelsorgerischen Strukturen, die eben auch logistische, personelle, zeitliche und finanzielle sind, zu erhalten. Dieses Vorhaben gelingt nicht immer: Seit der Jahrtausendwende wurden in ganz Deutschland über 500 katholische Kirchengebäude profaniert, also entweiht und verweltlicht; sie wurden entweder abgerissen oder als Restaurant, Kletterhalle, Kulturzentrum, Wohnstift, Hotel, Diskothek, Bibliothek oder Bürogebäude nachgenutzt. Im Bistum Münster, zu dem die in der Aaseestadt gelegene Kirche Sankt Stephanus gehört, wurden im genannten Zeitraum 55 Gotteshäuser profaniert und davon 24 abgebaut. Was bei rund 24.000 katholischen Kirchen und Kapellen in Deutschland eher gering anmutet – allerdings ist dies nach Einschätzung katholischer Theologen erst der Anfang.

Im Jahr 2016 wurde die Fusion der Gemeinden Sankt Anna, Sankt Ludgerus, Sankt Pantaleon und Sankt Stephanus zur Großpfarrei Sankt Liudger vollzogen, unter Beibehaltung der Filialkirchen. Das Bistum Münster spricht nun davon, dass es seinerzeit ein Fehler gewesen sei, den Pfarrer von Sankt Stephanus in seinem Amt vor Ort belassen zu haben – um die Fusion auf allen Ebenen möglichst reibungslos auf den Weg zu bringen, wäre die Versetzung des Geistlichen nach immerhin 13 Jahren in der Aaseestadt das Mittel der Wahl gewesen. Zumal die Bereitschaft zum Wechsel des Wirkungsortes zur Arbeitsplatzbeschreibung eines katholischen Priesters gehört. Bei den Jesuiten etwa, die nicht umsonst Soldaten Gottes genannt werden, erfolgt eine Versetzung oft nach fünf Jahren, manchmal nach sieben, acht oder spätestens zehn Jahren. Und auch einem Priester, der keinem Orden angehört, ist eine Versetzung zuzumuten, dabei seine Stärken, Erfahrungen und Wünsche respektierend, soweit es geht.

Das Bistum hat in den letzten Monaten in der Debatte um die Demission des beliebten Hirten stets von „strukturellen und personellen Gründen“ gesprochen, die hinter der Entscheidung des Bischofs stünden; die Gemeinde pochte auf „Transparenz“ und wollte die „wahren“ Motive hören. Liest man die Erklärung, die das Bistum nun Ende April publiziert hat, sorgsam durch, drängt sich der Eindruck auf, es habe die wolkige Formulierung zum Schutz des genannten Priesters verwendet. Denn nun wird ihm von seinem Vorgesetzten unverhohlen vorgehalten, die unumgänglichen Schritte auf dem Wege zu einer fusionierten Großpfarrei „blockiert“ zu haben und sich eigenmächtig als Seelsorger in und für Sankt Stephanus inszeniert zu haben. Das Generalvikariat betont, in den anderen drei Gemeinden in den westlichen Vororten Albachten, Mecklenbeck und Roxel sei der Wille zur Zusammenarbeit vollumfänglich vorhanden gewesen, nicht aber in Sankt Stephanus.

Die geneigte Beobachterin erfährt weiter, dass seit 2008 bereits mit dem genannten Geistlichen Gespräche über andere potenzielle Einsatzorte nach der projektierten Fusion geführt worden seien, dass ihm gar konkrete Stellen in anderen Gemeinden angeboten worden seien, die er allesamt abgelehnt habe. Vor diesem Hintergrund mutet die Aussage seltsam an, der Pfarrer sei von des Bischofs Entscheidung im November 2020 „überrascht“ worden. Tatsächlich hatte der Pfarrer bereits lange vor dem zivilrechtlichen Vollzug der Fusion gesagt, er wolle sich an den administrativen Pflichten nicht beteiligen und werde sich auf seine liturgische und pastorale Arbeit in der Gemeinde Sankt Stephanus und auf seine Lehrtätigkeit in der benachbarten Friedensschule konzentrieren. Nach einer Bereitschaft zur Kooperation klingt das nicht gerade. Mittlerweile hat sich der Priester in seiner künftigen, ebenfalls fusionierten Pfarrei Sankt Nikolaus vorgestellt, wo er zum Ende der Sommerferien mit seiner Arbeit beginnen wird.

In einem Offenen Brief ebenfalls von Ende April wenden sich die Mitglieder des ehemaligen Kirchenvorstands von Sankt Stephanus an die Gemeinde. Sie sprechen von der schwersten Krise in der Geschichte der Pfarrei seit ihrer Gründung im Jahr 1965, dem letzten Jahr des II. Vatikanischen Konzils mit seiner tiefgreifenden Liturgiereform. Die Verfasser dieses Briefes äußern ihre tiefe Sorge, dass im Zuge des eskalierten Streites um ihren beliebten Kleriker das vielfältige Engagement der Menschen vor Ort leiden werde. Diese Furcht ist nicht vollends aus der Luft gegriffen; erst recht nach der überstürzten vorzeitigen Entfernung des Priesters nicht nur aus dem Amt, sondern auch aus seiner Dienstwohnung Mitte März scheint es unter etlichen Gemeindemitgliedern einen stillen Boykott der Gottesdienste zu geben, die derzeit vertretungsweise von anderen Patres aus Sankt Liudger zelebriert werden.

Unbestritten trägt der – ehemalige – Hirte von Sankt Stephanus zu einer Identifizierung der Menschen mit ihrer Kirche im jungen Stadtteil Aaseestadt bei; auf sein Konto geht der hohe Anteil der Ehrenamtlichen, die sich vielfältig in die Gemeindearbeit einbringen, in der Kita und der Küsterei, bei den Messdienern und Lektorinnen, im Chor und bei der Seniorenarbeit. Die irreversible Entscheidung des Bistums, „ihren“ Pfarrer abzuberufen, hat bei der Gemeinde für „Empörung“ gesorgt. Mag das Generalvikariat die Causa auch hölzern und unglücklich kommuniziert haben: An der Entscheidung des Bischofs gibt es nichts zu rütteln, zumal der Eigenanteil des geschätzten Pfarrers daran deutlich zutage tritt. An die Stelle eines trotzigen Beharrens der Gemeinde sollte ein gesunder Pragmatismus treten, der die Situation nimmt, wie sie ist und versucht, das Beste daraus zu machen. Denn spiritueller und sozialer Bedarf ist rund um das denkmalgeschützte Ensemble von Sankt Stephanus weiterhin vorhanden, von einer Profanierung ist es definitiv nicht bedroht. Das zickige Bestehen auf einem status quo ante wird einem – noch zu berufenden – Pastor die Arbeit kolossal erschweren.

Aus der Ferne mutet die Personenfixiertheit in der Debatte befremdlich an. Ein guter Priester ist wie ein guter Dirigent, der jedes einzelne Mitglied eines Orchesters zu Höchstleistungen antreibt und dazu bringt, gemeinsam mit anderen die bestmögliche Aufführung der Oper, des Konzerts oder der Sinfonie auf die Bühne zu bringen. Der Prediger lenkt idealerweise den Geist Gottes in die Herzen der Menschen – für sie glauben kann er nicht. Die Spitzenorchester in Berlin, Dresden, Amsterdam und Wien brauchen beileibe keinen Dirigenten, um ihre Instrumente zu spielen, auch den Zusammenklang bekommen die Musiker alleine hin. Der Dirigent sorgt vielmehr für das Tempo und die Lautstärke des Stückes, plant langfristig das Repertoire, pflegt den Kontakt zu Gastmusikern und denkt über das Erschließen bislang ferner Hörergruppen nach. Und wenn ein Dirigent zu lange einem Orchester vorsteht, wie etwa Herbert von Karajan bei den Berliner Philharmonikern, beginnt dessen Musik unweigerlich zu sklerotisieren. Jedes Ende ist ein Anfang, es ist eine Frage der Perspektive.

Die Gemeinde der – fusionierten – Kirche Sankt Stephanus sollte von der Legende Abstand nehmen, der geschasste Priester sei „jemandem im Weg gewesen“. Auch lenkt der Verweis auf angeblich konservative Kräfte der Emmanuel-Gemeinschaft, die in den drei Schwestergemeinden die Kleriker stellen und nun auch Sankt Stephanus liturgisch „übernehmen“ wollen, vom Wandel als Konstante ab. Besser als in der Aaseestadt lässt sich das Konzept einer „Kirche im Werden“ kaum illustrieren. Von einer Jahrhunderte währenden Tradition unbeleckt, ist der Anteil junger Familien und gerade Frauen am Gemeindeleben hoch. Diese Aktiven brauchen sich weiß Gott nicht zu verzwergen, indem sie behaupten, „ihre“ Kirche sei auf den Fels „ihres“ Priesters gegründet. Welche Hybris, wie die Diözese völlig zurecht anmerkt: Jesus ist der Fels der Kirche und einer jeden Gemeinde. In diesem Sinne sollten sie ihrem Diener Dank für das Geleistete aussprechen, ihm alles Gute für die Zukunft wünschen und aus eigener Kraft ans Laufen kommen. Eine tiefere Quelle als den Glauben werden sie nicht finden. Dann werden sie auch als Element in der Großpfarrei Sankt Liudger unverwechselbar erkennbar bleiben.