Im Schach ist der Kampf zwischen dem menschlichen Gehirn und der Software längst zugunsten letzterer entschieden. 1997 verlor erstmals ein amtierender Weltmeister unter Matchbedingungen gegen einen Computer. Heute werden die Programme, die auf handelsüblichen Laptops laufen, von den Profis als Werkzeug zur Eröffnungsvorbereitung und zur Partieanalyse benutzt. Die Koexistenz menschlicher und künstlicher Intelligenz bekommt durch das Programm AlphaZero einen neuen Schub.
Das Phänomen AlphaZero fasziniert die Welt des Schachs, seit es 2017 das bis dato stärkste Programm Stockfish in einem Wettkampf schlug. Mehrere Unterschiede zur Struktur seines Widerparts fallen auf: So wurde AlphaZero nicht mit Trainingsdaten aus Millionen bereits gespielter Partien gefüttert. Ebenso wenig hatte AlphaZero Zugriff auf Eröffnungs- und Endspieldatenbanken, einzig die Regeln des Spiels wurden ihm „erklärt“, bevor er tabula rasa mit dem Schach begann. Binnen neun Stunden Trainings mit etwa 1.000 Partien pro Sekunde (!) im Spiel gegen sich selbst hatte AlphaZero eine Stärke erreicht, die keine bisher generierte Engine vorzuweisen hatte. Hier scheint der abstrakte Begriff des Maschinellen Lernens angemessen.
Matthew Sadler, britischer Schachgroßmeister und Informatiker, und Natasha Regan, britische Schachmeisterin und Mathematikerin, wurden von DeepMind, der Firma hinter AlphaZero, eingeladen, über 2.000 Partien zwischen ihrem Geschöpf und Stockfish zu analysieren. Ihr Fazit präsentieren sie im Buch „Game Changer“, das neben dem Schachspezifischen die Perspektiven der Künstlichen Intelligenz im Allgemeinen skizziert. Im Vorwort schreibt Garri Kasparow: „AlphaZeros Stärke ist beeindruckend, aber seine Methode ist viel wichtiger. AlphaZero unterzieht nicht einfach menschliches Wissen einer Milliarden Operationen umfassenden Kalkulation – es generiert zuerst sein eigenes Wissen. Basierend auf seinen Ergebnissen und meinen Beobachtungen, ist das geschaffene Wissen einzigartig und überlegen. Wir bekommen nicht lediglich bessere Resultate im Vergleich zum Rechner. Anstatt einer Postkarte aus der Ferne ist AlphaZero ein Teleskop, das das Potenzial hat, uns auf uns selbst blicken zu lassen.“
Gängige Eliteprogramme wie Stockfish, Houdini oder Komodo überzeugen durch ihre schiere Rechengeschwindigkeit, gepaart mit leistungsstarken Prozessoren. Die Brute-Force-Methode, die sie jede theoretisch denkbare Zugfolge durchrechnen lässt (je länger desto tiefer), führt zur Empfehlung des einen besten Zuges in gegebener Position. Der Algorithmus hinter AlphaZero geht hingegen kreativer und ressourcenschonender vor, er „denkt“ am Schachbrett wie ein Mensch, indem er offensichtlich absurde Varianten gar nicht erst in die Kalkulation einbezieht. Außerdem spielt er weniger materialistisch als seine Silizium-Kollegen und opfert Bauern und Figuren für die Initiative. Der Algorithmus wird als geistiges Eigentum von DeepMind wie ein Schatz gehütet, für den Gebrauch unter Turnier- und Vereinsspielern ist er nicht vorgesehen.
Die wissenschaftliche Debatte um Künstliche Intelligenz erhält durch das Auftauchen AlphaZeros neuen Schwung. Menschen haben akzeptiert, dass Computer ihnen in der seriellen Kalkulation von Daten heillos überlegen sind; dafür sind die humane Sensorik und das Hirn unschlagbar im Erkennen von Mustern und Zusammenhängen in einem gewaltigen Datenhaufen, von Empathie und Engagement zu schweigen. Die Programmierer von AlphaZero denken über einen Einsatz des Algorithmus beim Interpretieren einer MRT oder beim Lenken von Verkehrsströmen nach. Sie folgen damit der Logik ihres Mutterkonzerns Google, der sich einer „AI first“-Strategie verschrieben hat. Längst arbeitet der Weltmarktführer der digitalen Suchmaschinen mit Ärzten, Statistikern, Versicherungen und Pharma- wie Biotechfirmen zusammen, um den Inhalt seiner Serverfarmen durch Verknüpfungen zu monetarisieren.
Was heute Game Changer heißt, wurde früher Paradigmenwechsel genannt; in keiner Präsentation der softwaregetriebenen Prediger des Silicon Valley fehlen die Vokabeln des Disruptiven, des nie Dagewesenen und der Weltenrettung. Diese Emphase trifft auf AlphaZero insofern zu, als dass sich die Blackbox der Engine in ihrem Vorgehen am menschlichen Hirn und dessen Fähigkeit zum dreidimensionalen Verschalten orientiert. Nicht länger ist der Computer der Metaphernspender für das Hirn, vielmehr wächst mit zunehmender Forschung zur Künstlichen Intelligenz selbst bei Google der Respekt vor dem neuronalen Netz, das mehr kann als das endlose Abarbeiten von 1/0-Differenzen, stattdessen über wertvolle Kontextualisierung, Mustererkennung, Ethik und Effizienz verfügt.
Sadler und Regan zeigen sich begeistert vom aktiven Stil AlphaZeros, der Material für Tempi, Raumgewinn und offene Linien wie Diagonalen zu geben bereit ist. Er nimmt gern den gegnerischen König ins Visier; er versichert sich der Stabilität im Zentrum, bevor er den eigenen Königsflügel öffnet; er operiert bevorzugt mit ungleichfarbigen Läufern und heterogenen Rochaden; er findet geeignete Vorposten für eigene Springer; er zielt darauf, gegnerische Figuren passiv zu stellen und aktive Figuren des Gegners zu tauschen; in der Verteidigung stiftet er Verwirrung durch den Einsatz taktischer Motive. Vergleichbare Ansätze finden die beiden Autoren im Schach so unterschiedlicher Größen wie Garri Kasparow, Anatoli Karpow, Alexander Aljechin, Alexej Shirow, Judith Polgar, Bent Larsen, Viswanathan Anand und Magnus Carlsen, deren Partien sie mit denen ihres digitalen Kontrahenten kontrastieren.
Demis Hassabis, CEO von DeepMind sowie Schachamateur, sieht AlphaZero nicht auf das königliche Spiel beschränkt. Schach eigne sich wegen der standardisierten Situation der Regelbasiertheit und der Transparenz aller Informationen bestens zum Training eines selbstlernenden Algorithmus, der Gedächtnisleistungen mit Vorstellungskraft und Zielstrebigkeit kombiniert. Wie sich dessen künftige Versionen auf kritischen Feldern wie der Medizin, der Ernährung, der Ökologie oder der Politik bewähren, wird die Zukunft weisen. Angesichts von 200 Mrd. USD, die jährlich weltweit in die Forschung zur Künstlichen Intelligenz investiert werden, werden spielverändernde Verschiebungen kaum ausbleiben. Dem Schach kommt die ehrenvolle Rolle einer Blaupause komplexer sozialer Veränderungen zu – im Sinne Garri Kasparows, für den das Leben das Schach imitiert.