Manchmal, wenn ich eine Frau mit besonderem Charme oder Selbstvertrauen oder auch nur einer interessanten Eigenart sehe, wünschte ich, ich wäre sie. Es ist nicht einmal immer derselbe Typ. Völlig unterschiedliche Frauen erzeugen dieses Gefühl von Neugier und Ehrfurcht in mir. Bei Männern passiert mir das allerdings nie. – Leanne Shapton, Sheila Heti, Heidi Julavits: Frauen und Kleider. Was wir tragen, was wir sind
Kerstins Lieblingskleid ist ihre Haut. Nach über 30 Jahren unter Östrogenen ist die Haut noch immer seidig und weich, Haare finden sich nur auf dem Scheitel und oberhalb der Scham. Lediglich die Gesichtspartie links des Mundes ist durch eine Bestrahlung nach einer Krebsoperation arg verrunzelt. Durch regelmäßiges Schwimmen und Radfahren sind alle Muskeln gleichermaßen definiert, ohne übertrieben gewachsen zu sein; die Haut schützt die Fasern und liegt wie eine weitere Schicht über ihnen, ohne ausgebeult oder überspannt zu wirken. Eine vegetarische Ernährung seit fast drei Jahrzehnten, gepaart mit dem Verzicht auf Alkohol und Nikotin, ist die beste innere Pflege für das größte Organ des Leibes, ergänzend kommt eine Creme dazu, die leicht nach Zitronen duftet. Kerstin ist so froh, dass sie sich nie ein Tattoo hat stechen lassen, es wäre kein Schmuck der Haut, sondern ihre Befleckung.
Der Alltag der Dienstleistungsgesellschaft jedoch zwingt Kerstin dazu, sich jeden Tag anzuziehen, sich das Haar zu richten, Make-up aufzulegen und möglichst makellos im Büro aufzutauchen, dabei weiblich auszusehen und nicht lasziv. Da Kerstin meist mit dem Rad ins Büro fährt, ist ihre Kleidung häufig diesem Vorhaben gemäß praktisch. Oberhalb der schwarzen Stiefelchen mit Absatz und der blauen 501, die als Basisstücke eigentlich immer gehen, trägt sie eine körpernahe Bluse und darüber eine leichte Windjacke von Harrington. Ein Kollege hatte diese Kombination einmal als bolshy bezeichnet und kommentiert, Kerstin sähe aus wie eine Tschekistin der 1930er Jahre, es fehle ihr nur noch der schwarze Ledermantel. Sie war sich nicht sicher, ob diese Bemerkung als Ermunterung oder als freundlich verpackte Stilkritik aufzufassen sei; sie nahm sie jedenfalls zum Anlass, ihre Garderobe zu variieren.
Sie fing an, ihre Kolleginnen heimlich zu beobachten hinsichtlich ihres Kleidungsstils, ihres Auftretens und ihrer Erscheinung. Eine von ihnen schwor auf den Preppystil à la Ralph Lauren mit dunkelblauen Mokassins, schmalen Gürteln zur Karottenjeans und dem Blazer mit dem Wappen auf der Brust, dazu einer Perlenkette. Eine andere kam zu jeder Jahreszeit mit einem Motoradparka ins Haus, allerdings hatte sie die passende zierliche Figur, um den Charakter dieses maskulinen Kleidungsstücks zu brechen. Eine weitere schließlich trat stets damenhaft ausgestattet auf, mal im engen Rock, mal in der Hose mit hoher Taille, aber immer glamourös und nicht zu übersehen. Diese geborenen Frauen mussten sich ihrer Weiblichkeit nie vergewissern und konnten es sich leisten, Dinge zu tragen, die ihren Körpern schmeichelten. Kerstin musste eher darauf achten, dass ihre Garderobe das Senkrechte ihres Leibes nicht zu sehr betonte.
Hervorragend eignen sich dafür gerade geschnittene Kleider ohne Ärmel, deren Rock knapp oberhalb des Knies endet. Ein farblich passendes Jackett dazu modelliert ihr sogar mehr Oberweite, als unter dem dichten Textil trotz Schummel-BH zu vermuten wäre. Sehr wichtig ist eine edle schwarze Strumpfhose mit leichtem Schimmern, dazu ein Paar brauner Reitstiefel, die am oberen Schienbein abschließen und das Knie sexy betonen. Die Aussage dieser Kombination ist klar feminin und dabei tragbar, nach einem langen Tag im Büro kann Kerstin damit abends noch ins Theater oder ins Restaurant gehen, ohne sich komplett umziehen zu müssen. Ihre langen Haare trägt sie meist zum Dutt hochgesteckt, diese Frisur ist pflegeleicht und im Handumdrehen variabel, eine Spange zum Feststecken zweier Strähnen am Hinterkopf hat Kerstin immer in der Handtasche dabei. Eine kräftige Portion Lippenstift führt verlässlich dazu, dass Männer wie Frauen den Kopf nach ihr wenden.
Die Debatte, ob Transfrauen wie Kerstin nun zu den Frauen gehören oder nicht, ist älter als ihre eigene Transidentität, nämlich so alt wie das Phänomen der medizinisch unterstützten Geschlechtsannäherung an sich. Sie kann sich an Frauenpartys Mitte der 1990er Jahre erinnern, zu denen Transfrauen explizit nicht erwünscht waren. Diese exklusive Haltung findet gegenwärtig in den Texten von Kathleen Stock oder der Emma-Redaktion eine Revitalisierung, offen in hasserfülltem Ton mit Schaum vor dem Mund hervorgebracht. Kerstin hat diesen Furor beim Reinhalten der Kategorie Frau durch eine bestimmte Spielart des Feminismus nie verstanden. Ihr ist allerdings bewusst, dass sie unter Vorbehalt dabei ist, kritisch beargwöhnt von ihren Geschlechtsgenossinnen, die stets bereit sind, Spuren ihrer Vergangenheit gegen sie zu verwenden.
Ist ein Mann, der in der DDR atheistisch erzogen wurde und noch die Jugendweihe miterlebt hat, um dann nach der Wende im Alter von Anfang 30 Jahren sich taufen und firmen zu lassen, weniger katholisch als jemand, der als Säugling auf Wunsch der Eltern in die christliche Gemeinschaft aufgenommen wurde? Ist eine Frau, die in Frankreich geboren wurde und im Alter von 19 Jahren nach Deutschland kam, um hier zu studieren und als Übersetzerin zu arbeiten, die dann mit Mitte 40 die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt, weniger deutsch als eine solche, die als Kind deutscher Eltern in Westfalen geboren wurde? Ist eine Transfrau, die nach Namensänderung, Hormonbehandlung und Genitaloperation mit Mitte 20 dem weiblichen Geschlecht zugerechnet wird, weniger Frau als jene, die sich in der Kindheit mit ihrer Schwester um die Puppen zankte? Rein rechtlich gesehen nicht. Religiöses Bekenntnis, Staatsangehörigkeit und Geschlecht erscheinen als Kategorien, deren Grenzen gegebenenfalls überschreitbar sind, auch wenn das nicht alle wahrhaben wollen.
Kerstin nimmt sich vor, im neuen Jahr mehr Geld als bisher in ihre Garderobe zu investieren und diese nach einer langen Phase der Unsichtbarkeit und der Androgynität stärker in Richtung Weiblichkeit zu steuern. Es ist absurd, aber ihre Kollegen nehmen sie eher wahr und ernst, wenn sie eindeutig weibliche Accessoires anlegt und sich klar feminin inszeniert. Sie bekommen dann den Beuteblick, mit dem sie die Frauen in ihrer Umgebung nach ihrer Fickbarkeit taxieren, wie es ihr ein Kollege hinter vorgehaltener Hand einmal gestand. Kolleginnen straffen sich eher in einer Haltung der Konkurrenz – könnte diese Frau ihnen gefährlich werden in ihrem Revier? Von der oft beschworenen Solidarität unter Frauen im Berufsleben hat Kerstin nicht viel miterlebt. Stattdessen ist es so, dass die widerlichsten Gehässigkeiten gegen eine Frau von ihresgleichen kommen.
Sie wird mehr mit Kleidern experimentieren, wird sich ein Repertoire erspielen, mal seriös, mal verworfen, mal undurchschaubar, dabei immer sauber und korrekt. Sie wird ihr gehobenes Alter bei der Kleiderwahl ebenso berücksichtigen wie ihren Status am Arbeitsplatz. Sie findet es gruselig, wie viele Männer sich mit den Jahren gehen lassen, in sackartigen Anzügen über ausladenden Bäuchen und in ausgelatschten Schuhen zur Arbeit schlurfen, als höchstes Element der Selbstausstattung eine Überdosis Aftershave. Frauen werden nach wie vor sehr viel deutlicher über ihr Aussehen und ihre Garderobe wahrgenommen und bewertet. Bei einem Mann wirken graue Schläfen elegant und reif, bei einer Frau gelten weiße Fäden im Schopf als ungepflegt. Kerstin hätte gern weniger textile Pflichten zu erfüllen, muss sich aber dieser Verengung von Frauen auf das Äußerliche fügen, um nicht in ihrer erworbenen Weiblichkeit angezweifelt zu werden.
Und auch mit Ende 50 kann das Erweitern der Garderobe Spaß machen, wenn auch ohne die Liederlichkeit der Pubertät. In den noch verbleibenden Jahren hat Kerstin drei Adressaten ihrer Kleidung, ihres Stils und ihres Geschmacks: Zunächst sich selbst, denn sie muss sich in den Sachen wohlfühlen, sie müssen passen und erschwinglich sein; sodann die anderen Frauen, von denen sie als eine der ihren akzeptiert werden will und muss; schließlich die Männer, die angeblich auf feminine Kleidung stehen und sich davon anlocken lassen wie der Bär vom Honig. Gute Gelegenheiten zum Ausprobieren sind Reisen ins Ausland; in vielen Ländern Europas sind die Frauen expliziter und eleganter angezogen als in Deutschland, wo der Unisex-Draußen-Look die Fußgängerzonen, die Unis und selbst die Cafés und Galerien dominiert. Ab und an begegnet Kerstin einer Frau, die in voller Absicht weiblich gekleidet ist, die um ihre Attraktivität weiß und sich gerne präsentiert. Am liebsten würde sie der Unbekannten ein Kompliment für ihre Garderobe samt den Details machen, ist für einen solchen Schritt dann doch zu schüchtern. Also beschränkt sie sich auf das Beobachten und Verstehen, dann auf das Nachahmen, schließlich auf die eigene Art.