Gaudete

Freut euch zu jeder Zeit! – 1 Thess 5,16

Als Vera in der Dunkelheit unvermittelt die Kirche erblickt, bleibt sie einen Moment lang gebannt stehen, so erhebend schön ist die Illumination des offenen Kubus in einem zarten Lachsrosa. Der hohe Weihnachtsbaum, der in Erwartung des Festes bereits geschmückt ist, scheint in diesem Licht von innen zu glimmen. Als sie die Kirche betritt und die Fingerspitzen ihrer rechten Hand zum Kreuzzeichen mit Weihwasser benetzt, fallen ihr weitere Veränderungen im Vergleich zu einer regulären Vorabendmesse auf. Der Ständer des Adventskranzes mit den drei brennenden Kerzen ist umhüllt mit einer Flagge der queeren Bewegung, dem erweiterten Regenbogen. Und im Gestühl sind etliche Gäste auszumachen, die sie hier noch nie zu einem Gottesdienst gesehen hat.

Vera nimmt Platz auf der Bank nahe des Tabernakel und lässt die Blicke durch den Raum schweifen. Zustimmend lächelnd sieht sie Männer und Frauen, die sie für schwul beziehungsweise lesbisch hält, einige im Gespräch mit einem Jesuiten, der offenbar die Messe zelebrieren wird. Als dieser dann einige Minuten später in Begleitung einer Ministrantin zum Klang der Orgel einzieht, stimmt die Gemeinde in das liebliche Adventslied (GL 223) ein, das so passend ist für den schwarzen Dezember. Der Priester tritt an den Ambo und erläutert den Ablauf der bevorstehenden Messfeier. Er dankt den Mitgliedern der queeren Gruppe, die sich an deren Vorbereitung beteiligt haben, und freut sich offenkundig über deren Beitrag. Der heutige Sonntag Gaudete stehe für die Freude, die er mit der queeren Heiterkeit koppeln wolle.

Er spricht weiter von den Leiden der Schwulen, Lesben, Transidenten und Intersexuellen, die im Lauf der Geschichte lange kriminalisiert wurden und bis heute vielfach diskriminiert werden; ausdrücklich nimmt er die römisch-katholische Kirche nicht aus dieser Schuld heraus. Das helle Pink des Talars über seinem Torso nennt er die queere Farbe schlechthin; sie stehe für Offenheit, Nähe und Freude. Denn das hätten sich die queeren Menschen trotz allem erobert und bewahrt, die Fähigkeit zur Freude und damit verbundenem Stolz, und der solle heute in der Messe im Vordergrund stehen. Vera wundert sich, dass der Priester – wissentlich? – unter den Tisch fallen lässt, dass in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten die schwulen Häftlinge mit dem rosa Winkel gekennzeichnet wurden – weil der berüchtigte § 175 des Strafgesetzbuches, der dann 1969 entschärft und erst 1994 ersatzlos gestrichen wurde, nur homosexuelle Männer betraf?

In Vera macht sich eine warme Genugtuung breit. Sie ergötzt sich daran, dass sich die katholische Kirche in Gestalt ihrer Heimatgemeide so einladend gegenüber queeren Menschen zeigt, auch wenn sie selbst mit diesem ausgeleierten Begriff wenig anfangen kann. Wörtlich übersetzt, bedeutet er so viel wie schräg, krumm, seltsam; in der Gossensprache ist es ein hartes Schimpfwort für schwul. Im heutigen akademisch inspirierten Jargon werden damit großzügig praktisch alle Menschen erfasst, die nicht heterosexuell empfinden. Sie erinnert sich wohlig an die Zeit, in der sie selbst in der lesbischen Szene unterwegs war und langjährige Beziehungen zu Frauen hatte; auch wenn sie sich seitdem in ihrem Begehren gewandelt hat, bleibt sie selbstredend verbunden und solidarisch mit jenen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung angefeindet werden. Ihre eigene Verletzlichkeit aufgrund der geschlechtlichen Identität wird sie ja ohnehin behalten bis zum endgültigen Schließen der Augen.

Allerdings ist sie im weiteren Verlauf der Messe überrascht, wie bereitwillig der Priester sich die gängige Form der Liturgie aus der Hand schlagen lässt. In der Predigt sollte es eigentlich um das gerade gehörte Evangelium über die Taufe Jesu im Jordan gehen (Lk 3,21-22), doch stattdessen spricht er ausladend über den Discohit „You make me feel mighty real“ aus dem Jahr 1978, der die leidenschaftliche Begegnung zweier Männer beim Tanzen besingt. Etwas gewagt kommt es Vera dann vor, als der Priester die Aufforderung zur Freude „Gaudete“ mit jener unterstellten Ausgelassenheit der Queeren kurzschließt; das englische Wort gay, wohl aus der gleichen Sprachwurzel, meint wörtlich fröhlich und ist zugleich eine umgangssprachliche Bezeichnung schwuler Männer. Nach der Predigt gibt es kein Credo, auch die offenen Fürbitten fallen aus zugunsten stiller Gebete, ohne ersichtlichen dramaturgischen Grund.

Bei der Eucharistie ist Vera dann vollends irritiert. Der Priester spricht zu Beginn der Wandlung von der „heiligen Geistkraft“ und vermeidet die kanonische Formel des „heiligen Geistes“, als sei dieser durch das maskuline Genus kontaminiert. Beim anschließenden Hochgebet bleibt die eigentlich anstehende Bitte für den Papst geflissentlich ungeäußert, als fände gerade keine katholische, sondern eine neutral ökumenische Messe statt. Und zum Vaterunser tritt eine Frau aus dem Vorbereitungsteam an den Ambo und rezitiert eine sogenannte moderne Version dieses zentralen Gebetes, dabei von Gott ernsthaft als Einheit von Mutter, Vater und Kind sprechend. Konsterniert registriert Vera, dass die protestantische Unsitte politischer Korrektheit nun auch in einer nominell katholischen Gemeinde um sich greift. Das willkürliche Eingreifen in tradierte heilige Texte lässt sich für sie nicht rechtfertigen, auch nicht wohlmeinend von queerer Seite.

Gottlob kommt es nach dem Agnus Dei zur Austeilung der Kommunion, auch wenn sich der Priester praktisch dafür entschuldigt und es allen Teilnehmern erlaubt, auch lediglich zu einem Segen nach vorn zum Altar zu treten. In seinem Agieren sieht sie einen vorauseilenden Gehorsam der Kirche in Gestalt des Zelebranten, um bloß nicht die homo-, bi-, trans- und intersexuellen Menschen, raumgreifend unter queer subsumiert, anzugehen; eine traurige Identitätspolitik, die das Besondere dieser angeblich homogenen Gruppe betont und dabei sowohl die Unterschiede ihrer Elemente negiert als auch das Vorweihnachtliche des Advents verkommen lässt. Beim Nachhauseschlendern am Seeufer kommt Vera der Impuls, dass sie gern das „Adeste fideles!“ (GL 242) gesungen hätte, die Aufforderung an alle Christen, sich ob der Geburt Jesu Christi zu freuen, ob homo oder hetero, Mann oder Frau, queer oder straight. Doch dafür wird sie bis zum Heiligen Abend warten müssen.