An hässlichen und unwirtlichen Ecken besteht in Berlin wahrlich kein Mangel. Im Norden Charlottenburgs, eingeklemmt zwischen Stadtautobahn, Flughafen und Plattenbausiedlung, liegt die Gedenkkirche Maria Regina Martyrum. 1963 mitten im Kalten Krieg im gerade eingemauerten Westberlin geweiht, vergegenwärtigt dieses schroffe Gotteshaus das Gedenken der deutschen Katholiken an die Opfer des Nationalsozialismus. Ganz so, als sollte diese deprimierende städtische Brache durch einen heiligen Impuls belebt werden.
Das Grundstück für Maria Regina Martyrum wurde seinerzeit mit Bedacht gewählt. Fußläufig liegt, neben dem gleichnamigen Gefängnis, die Gedenkstätte Plötzensee, wo während des III. Reiches Widerständler des Regimes abgeurteilt und hingerichtet wurden, so auch der Jesuitenpater Alfred Delp SJ. Als weitere katholische Märtyrer (aka Blutzeugen) gegen den Nationalsozialismus sind Dompropst Bernhard Lichtenberg, der Vorsitzende der Katholischen Aktion Dr. Erich Klausener und die konvertierte Jüdin Edith Stein, ihres Zeichens Philosophin und Karmelitin, zu nennen. An sie und an alle namenlosen Blutzeugen ohne Grab wird in Maria Regina Martyrum erinnert.
Der Kirchbau, ein lang gestreckter Quader mit einer Fassade heller Kieselsteine aus Carraramarmor, der auf Betonscheiben aufliegt und über eine Treppe erreichbar ist, nimmt das Thema des Gefängnisses auf. Die grauen Wände des fensterlosen Raumes sind aus schalungsrauem Sichtbeton, Tageslicht tropft spärlich durch Oberlichter von der hohen Decke ins Innere. Der Grundriss ist schlicht rechteckig, Zitate der christlichen Tradition – Kirchenschiff, Chorumgang, Stützpfeiler, Apsis – fehlen völlig. Das die Stirnwand einnehmende Altarbild ist so farbenfroh wie anarchisch, es bietet dem Auge keinen Halt; Altar, Ambo und Tabernakel sind kantige weiße Blöcke.
Überhaupt dominieren rechte Winkel und hartes Material die schmucklose Zelle, die kein wohliges Gefühl der Geborgenheit aufkommen lassen will, vielmehr ein Echo der Verzweiflung vernehmbar macht. Passend dazu entbehren die Bänke jeglichen Zierrats. Ein Ort des Glaubens in einer Situation höchster Bedrängnis, den Tod vor Augen, Zeit der Bewährung. Von Beginn an war die Gedächtniskirche auch Pfarrkirche der neuen Charlottenburger Gemeinde; die sonntägliche Feier der Eucharistie wird heute von Jesuiten zelebriert, die für ihre Spiritualität, ihre Strenge und ihre Intellektualität gerühmt werden.
Der weitgehend frei formbare Beton, in den 1960er Jahren begeistert für sakrale wie profane Bauten verwendet und den Stil des Brutalismus definierend, prägt auch die Außenwelt der Kirche. Ihr Hof, versehen mit einem Freialtar und den Stationen des Kreuzweges, ist umschlossen von einer übermannshohen Mauer, die geradezu einlädt, an einen Gefängnishof zu denken. In diesem Gefühlskontext kann der hohe Campanile zur Straße hin auch als Galgen erscheinen – keine zufälligen Verweise der Architektur im Schatten der Schädelstätte. Hat die Besucherin den schwierigen Weg durch das abweisende Stadtfeld bis nach Maria Regina Martyrum zurückgelegt, überlässt sie sich ihrem Schweigen und ist bereit, zuzuhören.
Das tun seit 1984 auch die Schwestern der Karmelitinnen, die ihren der Kontemplation gewidmeten Konvent direkt neben der Kirche haben. Sie beten mehrfach am Tag das Chorgebet in der Krypta, Gäste sind herzlich willkommen. Sr. Mirjam Fuchs OCD spricht über das Besondere dieses Ortes, der für sie ein Geheimnis birgt: „Unsere Kirche bietet einen Raum an, jenseits von Erwartetem. Oft ist der Besucher zuerst einmal sprachlos, und ich teile diese Sprachlosigkeit immer wieder neu, angesichts des Ortes mit allem, was seine Architektur und Kunst vermitteln.“
Für sie ist Maria Regina Martyrum eine Gelegenheit der Begegnung verschiedener Menschen über die Grenzen des Glaubens hinweg, das Grauen des III. Reiches nicht zu vergessen und zugleich die Hoffnung nicht fahren zu lassen: „Mahnende Erinnerung kann zur wachen Verantwortung werden. So stärkt dieser Ort.“ Im Gebet verstummt der Lärm der Autos und Flugzeuge, die Seele öffnet sich für die Güte inmitten einer Welt voller Geschrei und Gewalt. Dieses Anliegen lässt sich bis in die Planungsphase der Gedenkkirche zurückverfolgen, wurde sie doch komplett aus Spenden der Gläubigen finanziert.
Mit Stätten des Mahnens an die Verbrechen des III. Reiches ist Berlin wahrlich gesegnet, Denkmäler und Bildungseinrichtungen liegen bevorzugt im geschichtsgesättigten Zentrum. Maria Regina Martyrum findet sich abseits der schicken Mitte-Blase, hier leben die Menschen im Sozialquartier und suchen Erholung im Schrebergarten und in der Jungfernheide. Es ist der Genius Loci, der diese Gedächtniskirche zu einem Ereignis macht; in der tristen Gegenwart der Einflugschneise juckt der Stachel der Erinnerung an den Terror der Vergangenheit. Aber so dialektisch ist das im Katholizismus: Inmitten der größten Not ist Gott ganz nah. Das darf man getrost glauben.