Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. – Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos
Der 5. Juni 1983 war ein Sonntag. Es muss etwa um 22:30 Uhr gewesen sein, als Georg das Haus verließ; seine Eltern und sein älterer Bruder lagen wohl bereits schlafend im Bett und bekamen nicht mit, wie die Tür ins Schloss fiel. Georg ging im Dunkeln durch ein Wäldchen zur nahegelegenen Bahnstrecke, der Weg war ihm durch Spielen in der Gegend auch nachts vertraut, einen Schlüssel hatte er nicht dabei. Was in ihm vorging, an wen oder an was er dachte, ob er zitterte oder schwitzte, während er an der Trasse wartete, wird man nie erfahren, auch nicht, ob ihm jemand begegnete, etwa auf einer Hunderunde. Als der Zug schließlich um kurz nach 23:00 Uhr mit hoher Geschwindigkeit die Schienen entlang donnerte, war Georg auf dem Gleis. Sekunden später wurde er von 100 Tonnen Stahl zerfetzt, die Notbremse des Lokführers änderte nichts daran. Er war gerade 19 Jahre alt.
Georg ist vor 39 Jahren gestorben. Er ist jetzt doppelt so lange tot, wie seine Lebenszeit auf Erden währte. Er hat an jenem Sonntagabend im Frühsommer eine Todesart gewählt, die keinen Ausweg in letzter Minute zuließ. Er konnte nicht rechtzeitig gefunden werden, damit man ihm im Krankenhaus den Magen auspumpte oder die Pulsadern vernähte; kein Passant konnte ihn durch besänftigendes Zureden am Springen in die Tiefe hindern; keine aufmerksame Mutter konnte, vom Gasgeruch alarmiert, die Fenster aufreißen. Sein Freitod war kein lauter Ruf um Hilfe, er war der erklärte Wille zum Sterben. Diese harte Methode war seine letzte Gewissheit im Verlöschen des Bewusstseins, als das Geschoss auf Rädern seinen Körper überrollte und auseinander riss. Zwei Tage darauf waren an der fraglichen Stelle auf und neben den Schienen nur noch Blut und Haare zu finden.
Am Montag, den 6. Juni, wurden Sascha und ein Mitschüler aus dem Unterricht heraus in das Büro des Jahrgangsstufenleiters gebeten. Dort saß der Vater Georgs, der wusste, dass Sascha und sein jüngerer Sohn befreundet waren und auch nachmittags zusammen Zeit verbrachten. Noch im März hatten Georg und die anderen sich diebisch amüsiert, weil die vorgezogene Bundestagswahl genau drei Tage vor Saschas 18. Geburtstag lag. Der Vater sprach zögernd davon, dass Georg am Morgen nicht zuhause gewesen sei, ob er denn in der Schule sei. Auf Saschas leeren Blick führte der beunruhigte Vater aus, einen Brief seines Sohnes auf dem Küchentisch gefunden zu haben; darin heiße es, dass er tot sein werde, wenn seine Eltern den Brief läsen. Georg war an diesem Montag nicht zum Unterricht gekommen, sein Fehlen hatte Sascha und die anderen nicht beunruhigt. Der Jahrgangsstufenleiter, der in der 12. Stufe auch Englisch und Latein unterrichtete, wollte von den beiden wissen, ob sie etwas zu Georgs Verbleib sagen konnten. Sie blieben die Antwort schuldig.
Am Dienstag, den 7. Juni erschien in der Lokalzeitung eine kleine polizeiliche Notiz. Am Sonntagabend wurde am Bahndamm im Süden der Stadt eine unidentifizierte männliche Leiche gefunden, von einem fahrenden Zug zermalmt, vermutlich in suizidaler Absicht. Der Mann wurde laut Polizei auf zwischen 20 und 30 Jahre alt geschätzt, mit dunkelblonden Haaren, bekleidet mit Jeans und Pullover, einen Bart trug er nicht. Saschas Freunde hatten die Nachricht ebenfalls gelesen, alle ahnten, dass es sich bei der vagen Beschreibung um Georg handeln musste. In einem Akt der Verzweiflung wollte niemand die Tatsache akzeptieren, dass ihr Schulkamerad tot sei, sich das Leben genommen habe. Als die Befürchtung zur Wahrheit wurde, war an Unterricht nicht zu denken. Georgs Platz in der Reihe im Klassenraum blieb frei, bis zu den nahenden Sommerferien. Sascha fiel zuhause in einen Weinkrampf, von den hilflosen Eltern nicht zu trösten.
Was weiß man von einem Menschen, den man seit Jahren wochentäglich sieht, mit dem man auf Klassenfahrt in Florenz war, der ähnliche Musik hört und selbst gern Fußball spielt? Georg hatte große Schwierigkeiten in Mathematik, ihm drohte im Abschlusszeugnis der 12. Jahrgangsstufe eine Null, was die Nichtversetzung in die Oberprima und damit die Nichtzulassung zum Abitur zur Folge gehabt hätte. Von einem Mädchen war hinter vorgehaltener Hand die Rede, in das Georg unglücklich verliebt gewesen sei. Sascha bot Georg mehrfach an, mit ihm für die Mathematik-Prüfung zum Ende des Schuljahres zu üben, damit er den rettenden einen Punkt bekäme – Georg reagierte nicht auf die Geste. Er kam weiter stoisch zum Unterricht, ohne sich zu beteiligen und ohne auf die Fragen des Lehrers zu reagieren. In der Stufe mit ihren verschiedenen Kursen rechneten sich alle ihr ungefähres Ergebnis des Zeugnisses aus und dachten bereits an ihr Abitur und die Zeit danach. Wie eine dunkler werdende Gewitterwolke hing Georgs Lage in Mathematik über ihren Köpfen, instinktiv tasteten sie nach einem Blitzableiter. Sascha selbst hatte sich befohlen, bis zum Abitur durchzuhalten und die seit der Pubertät immer heftiger drängenden latenten Signale der Transidentität zu unterdrücken. Es galt, die Gymnasialzeit zu überleben, um danach in der Fremde zu sich zu kommen.
Georgs Tod zum Schuljahresende riss sie alle aus der Routine des Lernens. Hochtrabend hatten sie Albert Camus gelesen und im Französisch- und Deutsch-Unterricht diskutiert, seine „Pest“, seinen „Fremden“ und seinen „Mythos von Sisyphos“. In der Jugend hatte Sascha es sich zur Gewohnheit gemacht, auf das Vorsatzpapier neuer Bücher das Datum des Erwerbs zu schreiben. „Juni 82“ stand in bis heute kaum veränderter Handschrift im „Sisyphos“, noch jetzt Element in Saschas Bibliothek. Hatten die Halbwüchsigen diesen Traktat über den Selbstmord überhaupt verstanden? Die Gefühle der Hilflosigkeit, der Angst, der Verzweiflung und der Trauer rückten eine philosophische Debatte über den Selbstmord in die Nähe des Obszönen. Ihr weicher Verstand, der regelmäßig von den Wogen des wachsenden Leibes überspült wurde, vermochte keine Kriterien zu nennen, die Frage nach dem Ob des Selbstmordes zu beantworten. Alexei Nilytsch Kirilloff aus Fedor Dostojewskis „Dämonen“ („24.12.82“ heißt es in Saschas Exemplar) preist den Willen zum Tode und die planvolle Beendigung des Lebens als höchste Form individueller Freiheit. Doch was passiert, wenn aus der Literatur plötzlich Ernst wird, ganz ohne Vorlauf, Erklärung und Programm?
Diese einschlägigen Bücher, die auf Generationen von Sekundanern eine dauernde Faszination ausüben, helfen nicht, wenn der Erste aus ihrer Mitte bewusst, allein und mit Vorsatz in den Tod geht. Hätten sie es verhindern können, haben sie Vorzeichen missdeutet? 1981 wurde im deutschen Fernsehen die Serie „Tod eines Schülers“ ausgestrahlt. Ein Abiturient wirft sich vor den Zug und lässt seine Familie, seine Freunde, seine Freundin und seine Mitschüler mit Fragen und Vorwürfen zurück. Sascha erinnert sich, diese sechs Folgen mit aufwühlendem Ernst gesehen zu haben. Doch das Fernsehen ist keine Übung für das Leben, Sascha blieb mit der Scham zurück, dass Georg sich niemandem anvertraut hatte, dass er für sich auf Erden keine Hilfe und keine Zukunft sah. Wie nah bei sich und wie verzweifelt muss jemand sein, der weiß, dass sein Leib in den nächsten Sekunden von kreischendem Stahl zerquetscht wird. Der Boden vibriert, die Lokomotive entfacht einen Höllensog, die Frontleuchten blenden und kommen immer näher, die laute Luft schmeckt nach Metall. Hört er Musik über einen Walkman, hat er ein Foto zur Hand? Hat er noch eine Flasche Bier getrunken, eine letzte Zigarette geraucht, wie vor einer Hinrichtung? Steht er, liegt er, springt er? Kann er in die Führerkabine blicken? Schließt er die Augen? Ist er in der Schwärze der Nacht zu sehen? Hat er im Moment vor dem Zerplatzen einen Schritt zurück tun wollen?
Sascha weiß nicht mehr, ob jemand aus der Stufe bei Georgs Beerdigung dabei war. Es gab eine Todesanzeige in der Lokalzeitung, die Sascha ausgeschnitten, aufbewahrt und irgendwann verloren hat. Sascha rief ein paar Wochen später beim örtlichen Standesamt an, schilderte die traumatische Situation und gab an, aus Pietät nicht die Eltern fragen zu wollen, wo denn Georgs Grab liege. Der Standesbeamte zeigte sich verständig und gab Sascha die gewünschte Auskunft. Auf dem großen Zentralfriedhof musste Sascha dann länger suchen, fand aber schließlich die Grabstelle; bis Georg einen Grabstein mit seinen Daten erhielt, gingen noch Monate ins Land. Über zwanzig Jahre später war ein Mitschüler dankbar, von Sascha zu erfahren, wo Georg begraben lag. Im Frühjahr 1984, nach dem Ende des letzten Halbjahres, kam die verdeckte Trauer mit Macht zurück. Die Jahrgangsstufe 13 feierte ausgelassen das Ende des Unterrichtes, auf den Schulhof dröhnte laute Musik. Als ein Lieblingslied Georgs gespielt wurde, wurde Sascha von Tränen und Schreien geschüttelt und musste von Mitschülern beiseite geführt und beruhigt werden. Im März schrieb Sascha die Klausuren, im April erfolgte die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, im Mai standen die mündlichen Prüfungen auf dem Programm, im Juni wurde fast allen Mitgliedern des Jahrgangs feierlich das Reifezeugnis ausgehändigt.
Wenn Sascha heute an Georgs verwildertem Grab, in dem zwischenzeitlich auch seine Eltern ruhen, steht, fragt sie sich und ihn, ob der Schritt vor 39 Jahren richtig war, ob es ihm nun besser gehe als damals, ob sein Leiden nun ein Ende habe, ob sie sich vielleicht in anderer Gestalt begegnen werden. Was hätte Georg zur späteren Transition seines Schulkameraden gesagt, hätte er sie als werdende Freundin behalten wollen? Oder hätte er die gleiche Fassungslosigkeit an den Tag gelegt wie alle anderen, die Sascha von früher kennen und ihre Entwicklung einfach nur abstoßend finden? Die hohe Birke nebenan wirft dankbar Schatten, eine Hagebutte wächst aus dem Efeu heraus und greift nach dem Grabstein. Sascha hat nun nicht mehr das Gefühl, seinerzeit als Freund versagt zu haben. So wie sie zur Schulzeit niemandem Einblick in ihr Inneres gewährte, hat auch Georg seine Seele vor den anderen verborgen. Der Druck, der auf ihm lastete, war offenbar zu groß, als dass er für sich eine Perspektive sehen konnte. Sascha bewies Ausdauer, Hoffnung und Resilienz, bei aller Beschwernis geht es ihr heute deutlich besser als 1983, auch ohne Liebe. Angesichts der Ewigkeit, in der alle Menschen nach ihrem bisschen Leben versinken, sollte jeder Tag genutzt und genossen werden, falle das Gehen auch noch so schwer.
Sascha nahm an einigen Jahrgangstreffen der Abiturientia 1984 teil und wurde dort als Kuriosum herumgereicht. Mit den freundlichen Männern und Frauen, wie sie selbst nun Ende 50, verbindet sie nichts weiter außer dem Gedenken der gemeinsam verbrachten Schulzeit an einem naturwissenschaftlichen Gymnasium. Im Gespräch mit den Ehemaligen, von denen sie einige sofort wiedererkennt und andere beim besten Willen nicht, fallen dann auch die Namen derer, die mittlerweile verstorben sind. Junge weiche Gesichter steigen vor Saschas innerem Auge auf, schlaksige Körper und Köpfe voller Hoffnungen und Sehnsüchte, vor dem Altern verschont. Einer kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, eine wurde vom Brustkrebs getötet, einer erlitt einen Herzinfarkt, eine starb an einem Blutgerinnsel im Gehirn. Viele von ihnen sind nun selbst Eltern, erste bereits Großeltern. Manche haben eine glänzende Karriere hingelegt, andere leben in beruflich unsteten Zusammenhängen. Alle aber konnten Erfahrungen machen, um die Georg sich gebracht hat. Wenn Sascha an den Sommer 1983 denkt, ist sie insgeheim froh, dass sie mit ihren Depressionen, ihrer Einsamkeit und ihrer Schwerbehinderung noch nicht Hand an sich gelegt hat. Sie ist nun soweit, Albert Camus zu verstehen: Das Leben ist absurd, es wird aber trotzdem gelebt, jeden Tag aufs Neue. Georg hat diese Chance nicht gesehen.