Wozu wäre die Politik auch da, als einander Gelegenheit zu geben,
sich moralisch zu kompromittieren.
Thomas Mann, Der Zauberberg
Nie war Kerstins Verlangen nach Drogen größer als zu ihrer Zeit im Parlament. Das Rauchen hat sie sich vor zwanzig Jahren abgewöhnt, und immer noch überkommt sie anfallsweise das Verlangen nach einer Zigarette, nach einem Tabaknebel, der das Hirn mit lindem Schwindel überzieht. Sie spürt den starken Drang, das toxische Niveau ihrer Seele jenem der Umgebung anzupassen. Sie fragt sich seit ihren ersten Tagen im Haus, wie die Masken des Betriebes mit dem mörderischen Druck klarkommen – ohne pharmakologische Hilfe, die auf keinem Gehaltszettel auftaucht, wird es kaum gehen. Nicht wenige mampfen sich ins Koma in einem der Edelrestaurants im Regierungsviertel.
Das deutsche Wort „Gift“ kommt vom griechischen gefti, was so viel wie Gabe bedeutet. Seit dem Althochdeutschen kann es das Gift im schädlichen Sinne sein, wohl im Anschluss an das lateinische dos, die Arzneigabe. Ab dem 16. Jahrhundert wird sein Gebrauch semantisch differenziert: Die Bedeutung der Gabe bleibt Femininum (und lebt in der Mitgift weiter), die Bedeutung des Giftes wird Neutrum. Im Englischen meint „Gift“ die Gabe oder das Geschenk. Dessen Zweischneidigkeit wird aufgehoben im Danaergeschenk (Vergil, Aeneis II, 43-49), das ungeahnte üble Folgen für den Empfänger (m/w/d) zeitigen kann. Zum Gift gehören die Heimlichkeit und sein aktives Verbergen, beim Konsum als auch bei der Verabreichung.
Dass heute jeder mittlere Performer ständig überbeschäftigt wirkt und zu nichts kommt, ist ein Allgemeinplatz jeder Stellenbeschreibung. Die so postulierte Unabkömmlichkeit wird im Bundestag unter den Ameisen nachgerade zelebriert: Wer kommt morgens als erster ins Büro, wer verschickt noch nach 22:00 Uhr Mails mit der Wichtigkeit „Hoch!“, wer fährt mit Entscheidern Fahrstuhl, auf welchem Schreibtisch türmen sich die meisten Papiere. Dieser Stress im Vorhof der Macht ist ansteckend; seit ihrer ersten Woche ist Kerstin eingesponnen in ein Netz der Blicke, die jeden Schritt der Referentin überwachen – sie könnte ja nützlich werden, man könnte von ihrem Stolpern profitieren. Um Inhalte geht es nur am Rande, real ist die moralische Haltung zum gerade behandelten Thema. Mobbing ist in diesem Zusammenhang eine legale wie bewährte Waffe.
Der Zustand der Isolation ist in jeder Stunde im Büro präsent. Dazu trägt neben ihrem defizitären Trans*Geschlecht auch die Arbeit für jene Fraktion bei, die von allen anderen explizit zur Unberührbaren erklärt wird, gegen jede Geschäftsordnung. Das erlebt sie drastisch, wenn zu Beginn einer Kommissionssitzung der Vorsitzende reihum geht und allen zur Begrüßung die Hand gibt, nur „denen“ nicht. Ob in der Schlange an der Mensakasse, am Waschbecken in der Toilette, beim Zeitunglesen in der Bibliothek oder beim Entketten des Fahrrades im Hof – jeder mögliche Gruß des Erkennens wird betont vermieden. Kerstin ist ein Niemand, jede Reinigungskraft genießt ein höheres Prestige. Das Ziehen im Magen und in der Kehle beim Passieren der Sicherheitsschleuse am Morgen gefährdet ihre Gesundheit und bremst ihre Leistungsfähigkeit.
Dieses Gefühl des Nicht-Gewollt-Seins lässt sie auch abends nicht los. Zum Sport fehlen ihr Zeit und Kraft, wenn sie weit nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause fährt, das Radfahren im aggressiven Verkehr der Metropole setzt nur weiter kurbelndes Adrenalin frei. Erst wenn Kerstin eine Pille Tavor oder Tilidin schluckt, löst sich die seelische Verspannung neben der muskulären Verkrampfung auf. In ihrem Kopf entwirrt sich der Gedankenknoten, ihre Zunge darf schweigen, ihr Atem wird ruhiger, ihre Adern sind nicht länger vereist. Sie legt sich rücklings aufs Bett, schließt die Augen, kann sich zögerlich wieder wahrnehmen und denkt dankbar an gar nichts, lässt sich nur geschehen. Der milde Rausch entgrenzt und macht frei, ihr Körper wird leicht. Manchmal muss sie weinen, weil sie die aufsteigenden Gefühle der Hilflosigkeit und der Sehnsucht nach Nähe nicht erträgt. Dank der Benzodiazepine zerläuft die Angst, wie einst Anna Karenina geleiten sie die Opioide in den Schlaf.
Solange sie allein am Schreibtisch sitzt und Protokolle liest, am Rechner Studien recherchiert und Texte redigiert, fühlt sie sich wohl, Worte tun ihr nichts Böses. So wie sie aber über die langen Flure des Gebäudes hetzt, wähnt sie sich einem unbarmherzigen Wettbewerb ausgesetzt: Welche Frau ist jünger, hübscher, schlanker und hat einen attraktiven Mann? Schon in ihrer eigenen Fraktion fallen ihr mehr als genügend Konkurrentinnen ein, vom großen Ganzen nicht zu reden. In der hohen Halle des zentralen Bürokomplexes aus Glas, Stahl und Beton mit seinen Freitreppen, den Ziersäulen, den tiefen Ledersesseln und den gläsernen Liften kommt sie sich vor wie ein Geist in einem elitären Club. Schöne junge Menschen in körpernah geschnittenen Anzügen und figurvollendeten Kostümen defilieren in diesem Ambiente der Verachtung zum Takt eines stummen Beats, draußen fließt unbeeindruckt die silbergraue Spree.
Kerstin nimmt Platz am Rondell des Sitzungssaales und legt ihrer Chefin kommentierend das sauber geordnete Dossier vor, damit diese sich in der Anhörung zu orientieren weiß. Ihre Furcht, nicht genügend getan zu haben, bleibt für die Dauer der Sitzung präsent, sie kann der Diskussion kaum folgen, vor lauter Hunger wird ihr übel, sie fühlt sich schuldig, ohne zu wissen wofür. Erst als die Abgeordnete vor Ende der Sitzung ohne Worte zum nächsten Termin springt, kann sie aus dem Fehlen eines Tadels schließen, dass sie passabel gearbeitet hat. Das Nichtgeben einer Anerkennung für das Geleistete hat hier System, es hält die Schatten in Bewegung, gönnt ihnen keinen Moment der Ruhe. Dem Zwang des Zweifels kann sie nur mit Substanzen begegnen, die ihr Wärme schenken und ihre Scham kompensieren. Koffein, Alkohol, Zucker und Nikotin werden offen kommuniziert, mit den verfemten Giften bleibt jede für sich allein.
Ihre Wirkungen und Nebenwirkungen werden medizinisch relativiert im Dosis facit venenum, ihr Schaden hängt von der gegebenen Menge ab. Rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland sind süchtig nach Analgetika, Hypnotika, Antidepressiva, überwiegend Frauen jenseits der 50. Da die weißen Drogen auf Rezept erhältlich sind und ihre Konsumentinnen meist sozial unauffällig leben, tauchen ihre anfangs lindernden, dann verheerenden Folgen im Diskurs über Abhängigkeit kaum auf. Im hochtourigen Rennen um Aufmerksamkeit des Parlaments sind sie wie geschaffen für die Zofen im Hintergrund; die schweren Insignien der Macht wie die Limousine, das Interview, die Premierenkarte und die Entourage sind den Mandatsträgern vorbehalten. Auch die Ordnung der Gifte kennt eine klare Hierarchie.