Goat

Die Frage, wer der größte Schachspieler (seltener die größte Schachspielerin) aller Zeiten sei, gehört zum beliebten Zeitvertreib unter Kiebitzen und Patzern. Die Suche nach dem Goat („greatest of all times“) treibt in jeder Sportart ihre Blüten, auch wenn die Kriterien zum Bestimmen der Spielstärke über die verschiedenen Epochen hinweg nicht immer klar definiert sind. Dessen ungeachtet hat der 1924 gegründete Weltschachverband FIDE auf seinem Kongress parallel zur Olympiade im September 2024 den langjährigen Weltmeister Magnus Carlsen zum besten Spieler der vergangenen 100 Jahre gekürt – eine Ehrung, die der Norweger dankbar annahm, nicht ohne zu betonen, dass in seinen Augen Garri Kasparow diese Auszeichnung eher verdient hätte.

Magnus Carlsen als Goat zu bezeichnen, ist durchaus nachvollziehbar. Er steht seit Juli 2011 unangefochten an der Spitze der Weltrangliste, er hat zudem mit 2881 Elopunkten den höchsten jemals gemessenen Wert erzielt. Den Titel des Schachweltmeisters hatte er von 2013 bis 2023 inne, bevor er ihn aus freien Stücken niederlegte, weil er keine Motivation mehr verspürte, sich monatelang auf ein WM-Match vorzubereiten. Zudem hat er alle wichtigen Turniere im Jahreszyklus mehrfach gewonnen, lediglich der Titel eines Olympiasiegers wird ihm vorenthalten bleiben, weil sein Heimatland als Team nicht konkurrenzfähig ist. Der Norweger, der mittlerweile die Lust an Turnieren im klassischen Format verloren hat, ist überdies mehrfacher Weltmeister im Schach mit verkürzter Bedenkzeit.

So trat er Ende Dezember in New York bei den Schnellschach- und Blitzweltmeisterschaften als Favorit an, provozierte dort aber gleich zweifach einen Eklat. Im Schnellschach saß er bei einer Partie in Jeans im Brett, was gegen die vorab kommunizierte Kleiderordnung für FIDE-Turniere verstieß. Carlsen wurde zunächst vom Schiedsrichter mit einer Strafe von 200 USD belegt und ermahnt, sich für die nächste Runde angemessen umzuziehen. Als er sich weigerte, wurde er für diese Runde keinem Gegner zugewiesen und strich einen Verlustpunkt ein. Daraufhin ließ er über Social Media wissen, dass er das Turnier abbrechen und stante pede an einen Ort mit besserem Wetter reisen werde. Nachdem er im Folgenden von der FIDE bekniet wurde, doch bitte an der Blitz-WM teilzunehmen, ließ er sich dazu herbei – und trug in allen Partien Jeans jenes Herstellers, der ihn vor über zehn Jahren als Testimonial eingesetzt hatte.

Im Finale, das er nach überzeugenden Leistungen erreicht hatte, spielte er dann gegen seinen alten Rivalen Ian Nepomniachtchi aus Russland. Nach den vier angesetzten Partien stand es unentschieden, sodass nach dem Reglement eine Verlängerung bis zum Sieg erforderlich wurde. Nachdem die beiden Spieler dreimal en suite remisierten, schlug Carlsen seinem Opponenten vor laufender Kamera vor, doch die Auseinandersetzung kurzerhand zu beenden und sich den Titel zu teilen. Der verblüffte Schiedsrichter diskutierte mit den beiden Spielern und akzeptierte schließlich deren Arrangement. Carlsen meinte anschließend lapidar, beide seien müde und die gefundene Lösung sei für sie angenehm, auch wenn es nicht allen gefalle. Einmal mehr führte Carlsen damit aus, dass Regeln etwas für Verlierer seien, nicht aber für Majestäten.

Magnus Carlsen ist nicht der erste Champion der Schachgeschichte, der mit bizarrem Verhalten am und neben dem Brett von sich reden macht. Unvergessen sind Bobby Fischers beleidigende Eskapaden gegen Kollegen, Sponsoren, Journalisten und Ausrichter, auch Garri Kasparow brüskierte mehrfach Offizielle und Veranstalter. In jüngster Zeit tat sich Wladimir Kramnik mit obskuren Bezichtigungen Anderer wegen angeblichen Online-Betrugs hervor, ohne hierfür Belege vorzuweisen. Und Anatoli Karpow sitzt seit über zehn Jahren als Abgeordneter der Partei Einiges Russland in der Duma und steht nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine auf der Sanktionsliste der EU.

Die zitierten Verhaltensweisen schmälern keineswegs die Leistungen der Genannten am Schachbrett, allerdings tauchen sie ihren Charakter in ein schales Licht. Die Frage nach dem Goat ist kaum objektiv zu beantworten, zu unterschiedlich sind die Bedingungen des Schachs in verschiedenen Jahrzehnten. So war Emanuel Lasker nur deswegen 27 Jahre Schachweltmeister, weil er sich zehn Jahre lang vollends vom Turnierschach zurückzog und außerdem nur Herausforderer akzeptierte, die sportlich klar schwächer als er waren. Mikhail Botwinnik erstritt sich 1948 von der FIDE das Recht auf mehrfache Revanche-Matches, die ihn länger auf dem Thron verweilen ließen, als es seiner nachlassenden Spielstärke angemessen gewesen wäre. Und Mikhail Tal wäre deutlich länger als ein kurzes Jahr Weltmeister geblieben, hätte er Anfang der 1960er Jahre eine angemessene medizinische Behandlung für sein Nierenleiden erhalten, dessen starke Schmerzen er mit Alkohol, Nikotin und Morphium zu betäuben versuchte, auf Kosten seiner Konzentrationsfähigkeit.

Magnus Carlsens Beitrag zum modernen Schach ist unbestritten, seine Endspielkunst kann nicht überschätzt werden, zumal er seine Karriere erst nach Abschaffung der Hängepartien Ende der 1990er Jahre begann, sodass er die besten Züge im abschließenden Partiestadium am Brett finden musste und nicht in einer nächtlichen Analyse mit Hilfe seiner Sekundanten. Heute wirkt der Vierunddreißigjährige wie ein Teilzeitprivatier, der aus einer Laune heraus Vorstellungen gibt. Sein Auftreten am Brett offenbart eine gewisse soziale Unreife, wie sie häufig bei Inselbegabungen festzustellen ist. Von Schachspielerinnen ist ein solch exaltierter Habitus nicht überliefert: Judit Polgar, die einzige Spielerin, die jemals unter den ersten Zehn der Weltrangliste stand, wurde von der FIDE in Budapest ebenfalls als Goat ausgezeichnet, ohne jemals als Zicke aufgefallen zu sein.