Stehen Männer an den Grachten – Detlev Meyer
Amsterdam hat seit geraumer Zeit ein Problem mit Touristen. Im Zentrum mit seinen Hostels, Bars, Geschäften und Bordellen hängen überall Piktogramme, die auf Niederländisch und auf Englisch darauf hinweisen, dass das Pinkeln in der Öffentlichkeit verboten ist und mit 140,- Euro Bußgeld belegt wird. Außerdem hat die Stadtverwaltung unter dem Titel „Stay away!“ eine Kampagne aufgesetzt, die Sauftouristen auf Junggesellenabschieden von der Reise an die Amstel abhalten soll. Genützt hat das bisher nichts, die Stadt ist rund ums Jahr voller Gäste, die es den Bewohnern vergällen, dort zu leben. Der Attraktivität der Stadt können die zahllosen Besucher aus aller Welt jedoch nichts anhaben. Im Herzen des dichten Geflechts der Grachten hat sich Amsterdam den Charme eines Hippiedorfes bewahrt, wo entspannte Leute in Partylaune auf Geschäftsmänner, Studenten und junge Mütter auf Lastenrädern treffen.
Kerstin und Henk saßen in einem kleinen Coffee Shop nahe der Prinsengracht, vor sich jeweils eine Tasse heißer Schokolade und einen kleinen Keks mit mildem THC-Gehalt. Sie waren mit einem befreundeten Paar verabredet und wollten später zusammen Essen gehen. Die typisch süßlichen Schwaden exzellenter marokkanischer Ware durchzogen das Lokal, ein Geruch, der Kerstin seit ihrer Jugend vertraut war. Seit sie nach Jahrzehnten der Abwesenheit wieder im Westen des Münsterlandes lebte, war sie regelmäßig in den nahen Niederlanden zu Besuch; seitdem sie mit Henk zusammen war, noch öfter. Mal kam er für ein Wochenende nach Coesfeld, wo sie in den sanften Hügeln der Baumberge Fahrradtouren unternahmen, gemeinsam kochten und Schach spielten; dann fuhr sie nach Utrecht, wo Henk an der dortigen Universität Stadtplanung lehrte. Sie steuerten verschiedene Ziele in der Randstad an, gingen ins Mauritshuis, schlenderten über den Käsemarkt, saßen im Concertgebouw.
Kerstin hatte nicht mehr damit gerechnet, einen Mann zu treffen, den sie lieben und der sie lieben konnte. Mit Ende 50 hatte sie sich darauf eingestellt, die verbleibenden Lebensjahre allein zu verbringen. Umso heftiger traf sie die Begegnung mit Henk, den sie anlässlich eines Weihnachtsaufenthaltes im Kloster Gerleve kennenlernte. Der große schlanke Mann mit den weißen Stoppelhaaren war ihr gleich am ersten Abend aufgefallen, sein freundliches Lächeln unter offenen blauen Augen hatte sie mehr verschüchtert als eingeladen. Ihre Scheu vor, bei gleichzeitiger Sehnsucht nach, Männern war aufgrund ihrer Transidentität stark ausgeprägt, was sich im Falle Henks als unbegründet erweisen sollte. Er sah sie als das, was sie für alle Welt war, als anziehende Frau mit Transitionshintergrund. Dir ist Deine Weiblichkeit gar nicht richtig bewusst, sagte er ihr während eines Spaziergangs über die Felder um die Abtei.
Henk war zwei Jahre älter als sie, verwitwet und Vater zweier erwachsener Töchter. Er zeigte sich behutsam und zugleich neugierig, als sie sich ihm öffnete und sie ihre Körper erkundeten. Als er zum ersten Mal in sie eindrang, ermöglicht durch die Verwendung von Gleitgel, drohte sie vor Freude und Lust zu platzen. Ihre Furcht, sie würde ihm als Frau nicht genügen, entbehrte jeder Grundlage. Kerstin fühlte sich beschenkt wie ein kleines Kind, das noch an den Weihnachtsmann glaubt und dessen Wünsche über Gebühr erfüllt werden. Für beide war es im Alter eine besondere Entdeckung, Kerstin hatte den Platz für einen Mann in ihrem Schoß und in ihrem Leben, Henks Töchter freuten sich für ihren Vater, erneut eine Frau getroffen zu haben, vor allem eine, sie auf die Pflege ihrer erworbenen Weiblichkeit bedacht war. In den liberalen Niederlanden konnten Transfrauen deutlich freier und unbehelligter leben als in Deutschland, wie Kerstin erfreut feststellte.
Kerstin stand auf und ging in Richtung Toilette. Ihr Gang war wiegend in den Hüften, unterstützt durch die Pumps mit leichtem Absatz. Der Saum ihres Rocks schwang um ihre Knie, sie spürte die Blicke der anwesenden Männer, auch der jüngeren auf ihrem wohlgerundeten Hintern. Als sie sich vor dem Spiegel die Lippen nachzog, merkte sie, wie das THC des Kekses mit Bittermandelgeschmack zu wirken begann. Ein wohliger Schwindel erfasste sie, ihre Sinne wurden geschärft, ihre Bewegungen verlangsamt, ihre Gedanken machten sich selbständig, setzten teilweise aus und fanden an anderer Stelle wieder zusammen. Das Gesicht im Spiegel gefiel ihr, der neue kinnlange Bob stand ihr ausgezeichnet, die grauen Strähnen im Dunkelblond des dichten Schopfes gaben ihr eine weise indianische Note. Sie summte zur Musik, die gedämpft aus dem Inneren zu vernehmen war, wusch sich die Hände und trat wieder heraus.
Als sie zurück zu ihrem Tisch ging, drehte sich ein Mann mit schütterem Haar gerade vom Tresen um, wo er eine Prise Cannabis gekauft hatte, ihre Blicke trafen sich unvermittelt. In Kerstin stieg eine Ahnung hoch, den Mann im grauen Anzug über einem Kugelbauch zu kennen, auch seine Augen verrieten das Kramen im Gedächtnis der Jahrzehnte. Kerstin hielt inne, ging auf den Mann zu und begrüßte ihn fragend: Tobias? Der so Angesprochene setzte ein Lächeln auf, nickte geschmeichelt wie fragend und entgegnete: Ja, und Du? Da dämmerte es beiden. Als sie vor 35 Jahren ihr Coming-out hatte, reagierte ihr alter Schulfreund Tobias wegwerfend und erklärte kategorisch, er werde niemals eine schöne Frau werden. Als solche stand sie nun vor ihm und nannte lässig ihren Namen. Tobias‘ Mund blieb offen, als ihm klar wurde, dass er in ihr seinen alten Schulfreund nicht mehr ausmachen konnte.
Und, was treibst Du hier in Amsterdam?, fragte Kerstin. Tobias, sichtlich um Fassung ringend, erwiderte, er sei beruflich hier und gönne sich zum Wochenende einen Besuch der Grachten und eines Coffee Shops. Und Du, wie geht es Dir?, erkundigte er sich höflich. Kerstin sagte, es gehe ihr gut, sie sei öfter in der Stadt, seitdem sie nach langen Jahren in Hamburg wieder im Münsterland wohne. Henk blickte fragend zu den beiden, Kerstin winkte ihm zu. Tobias fragte, Ihr kennt Euch? Ja, das ist mein Freund, antwortete Kerstin in stillem Triumph. Da war nichts mehr, was sie mit Tobias verband; die zufällige Begegnung mit ihm zeigte ihr nicht nur, wie viel Zeit mittlerweile vergangen war, sondern auch, wie kolossal sich ihre einst parallelen Wege auf unterschiedliche Ziele hin entwickelt hatten. Es war schön, Dich getroffen zu haben, sagte sie zum Abschied, habe noch einen schönen Abend und grüße Deine Familie.
Kerstin setzte sich, strich ihren Rock glatt und nahm einen Schluck ihrer Schokolade. Wie was de man?, fragte Henk. Oh, een oude vriend uit schooltijd, meinte Kerstin. Ik heb hem al tijden niet meer gezien en heb hem geen seconde gemist. Henk lächelte versonnen und griff nach ihrer Hand, die sie ihm gerne überließ. Diese alltägliche wie intime Geste vor aller Augen zeigte ihr, dass sie auf der richtigen Seite angekommen war, lange schon, gegen etliche Widerstände. Sie tranken ihre Tassen aus und machten sich auf den Weg. Vor der Tür des Coffee Shops wurden sie vom Strom der Touristen in aufkommender Freitagabendstimmung erfasst. Sie ließen sich treiben Richtung Rijksmuseum, in dessen Nähe das koreanische Restaurant lag, wo sie mit Jan und Bigge verabredet waren. Das sich entfaltende THC ließ Kerstin wie auf Wolken gehen, sie war froh, dass Henk sich im Gewirr der Gassen und Grachten auskannte. An seiner Seite konnte sie die anerkennend begehrlichen Blicke der Männer auf den Straßen genießen. Als sie aus einem der Kanäle die Leiche eines Fahrrads ragen sah, musste sie lachen. Das war sicher auch ein Vergehen wie das wilde Pinkeln.