Grand Prix

Während der seit zwei Jahren grassierenden Pandemie ist jeder Bereich des gesellschaftlichen Lebens in Mitleidenschaft gezogen worden. Auch das nationale wie internationale Turnierschach kam aufgrund der politischen Maßnahmen zur Abschaffung der Öffentlichkeit weitgehend zum Erliegen. Im Sommer 2020 startete eine Reihe von Online-Turnieren, die jedoch die Atmosphäre am Brett gegen reale Gegner nur simulieren konnte. Von einer Normalität ist der Schachbetrieb nach wie vor weit entfernt, es gibt aber Pflanzen, die durch den Beton der geschlossenen Welt wachsen. In Berlin läuft gegenwärtig ein Turnier des FIDE Grand Prix, auf dem Spiel stehen zwei Plätze im nächsten Kandidatenturnier.

Die Adresse Unter den Linden 26 zählt zu den feinsten im ganzen Reichshauptslum. Vis-à-vis liegen die Komische Oper und die Russische Botschaft, die Humboldt-Universität und der Bundestag sind um die Ecke erreichbar, edle Boutiquen, pompöse Hotels und teure Restaurants bestimmen die Nachbarschaft. Im sogenannten Kaiserhof wird in den Räumen eines pleite gegangenen Lokals der Systemgastronomie Schach gespielt, auf 1000 qm ringen 16 Großmeister um den Turniersieg, um Preisgeld und um Wertungspunkte. Nach zwei weiteren Turnieren dieser Serie in Belgrad und wieder Berlin stehen kurz vor Ostern die beiden Spieler fest, die dann mutmaßlich im Sommer 2022 in Madrid zu den bereits qualifizierten sechs Kollegen stoßen, um den nächsten Herausforderer des Weltmeisters unter sich auszumachen.

Wer in Berlin als Kiebitz dabei sein will, muss pro Tag 28,- Dollar bezahlen (Tickets gibt es nur auf der Seite des Veranstalters) und die 2G-Regel einhalten; trotz dieser abstoßenden Umstände sind alle Spieltage mit den maximal zugelassenen 30 Zuschauern ausgebucht, der Hunger nach realem Schach ist augenfällig groß. Im Parterre sitzen die Großmeister am Brett, von der Galerie im 1. Stock lugen ihnen die Fans auf die denkenden Schädel. Sitzplätze gibt es ebenso wenig wie Erfrischungen, am notdürftig hergerichteten Interieur wurde bis zum Vortag der Eröffnung gearbeitet. Schwarze Vorhänge dienen als Struktur, als Dekoration und als Projektionsfläche der Sponsoren, vor denen die Spieler nach der Partie ihre Analysen abgeben. Diese Ästhetik des Unfertigen erinnert an das berüchtigte Kandidatenturnier 2018, das im Berliner Kühlhaus inszeniert wurde, einem entkernten Hochbunker, von dem man seitdem nicht ein Wort mehr gehört hat.

Und in der Tat, die Firma hinter dem laufenden Grand Prix ist dieselbe wie hinter dem gruseligen Spektakel von vor vier Jahren im Nirgendwo des Gleisdreiecks. World Chess wurde 2012 gegründet und bekam vom Weltschachbund FIDE den Auftrag, das internationale Spitzenschach für den Massenmarkt tauglich zu machen. Die Exklusivrechte von World Chess zur Organisation konkreter Turniere sowie zum Betrieb der offiziellen Online-Spielplattform der FIDE laufen in diesem Jahr aus, die Grand Prix Reihe dient denn auch der Eigenwerbung. Schließlich will World Chess Unter den Linden einen noblen Schachclub aufziehen, wo sich Schachfans zum Spielen, Diskutieren, Trinken und Dinieren treffen sollen. In Moskau gibt es bereits einen solchen Schachclub, der offenbar als Muster für Berlin und weitere Städte dienen soll. An der Moskwa sind die Cocktails nach ehemaligen Schachweltmeistern benannt, die Preise für die Alkoholika sind mit 650 Rubel (rund 7,60 Euro) noch moderat. Der „Spasski“ schmeckt angeblich umami, der „Fischer“ bitter und zitronig, der „Tal“ wenig überraschend nach Tabak.

Von World Chess und seinem CEO Ilja Merenzon ist zu erfahren, dass der Mietvertrag für das Lokal auf zehn Jahre geschlossen wurde. Nach dem Grand Prix soll die Adresse unter dem Motto „Time to say Berlin“ zu einem Magneten des Schachs in der Hauptstadt umgebaut werden, mit der Eröffnung des Schachclubs könne im Sommer gerechnet werden – womöglich ist dann ein halbwegs normales und entspanntes Ausgehen und vielleicht gar ein mondänes Nachtleben wieder gegeben. Ob aber ausgerechnet eher genügsame Schachspieler für den nötigen Umsatz am Prachtboulevard Unter den Linden sorgen werden? Womit World Chess, deren Zentrale in London domiziliert ist, eigentlich Geld verdient, ist unklar; das Unternehmen ist an keiner Börse gelistet, sodass es keinen Berichtspflichten gegenüber Anteilseignern und Aufsichtsbehörden unterliegt. Weder überträgt es regelmäßig Turniere im Internet, noch vertreibt es Apps, Videos oder Bücher zum Lernen; auch gibt es keinen Kreis renommierter Großmeister, die als Markenbotschafter aufträten. Der Gedanke, dass der kommende Schachclub hinter dem Wortgeklingel nur eine weitere Waschmaschine an der Spree für das Geld russischer Oligarchen wird, ist nicht so weit hergeholt.

Rein schachlich begann der Grand Prix mit einer herben Enttäuschung. Ding Liren, die Nummer Drei der Weltrangliste und einer der Favoriten für einen der beiden noch offenen Plätze des Kandidatenturniers, konnte nicht anreisen, weil sein Visum nicht rechtzeitig vorlag. Wofür gibt es einen chinesischen Schachverband, wenn der seinen besten Spieler nicht bei Konsulatsfragen unterstützt? Eine positive Überraschung kam ausgerechnet aus Deutschland: Der 17 Jahre alte Vincent Keymer, der im Januar seine schriftlichen Abiturprüfungen abgelegt hatte, bewahrte im Konzert der Großen der Branche Ruhe und Übersicht. Gegen Levon Aronian, der selbst einige Jahre in Berlin gelebt hatte, ließ er sich mit Weiß auf eine zweischneidige Variante des Damengambits ein und erwies sich in den taktischen Verwicklungen seinem Gegner als ebenbürtig. Erst durch einen Patzer in Zeitnot geriet er auf die Verliererstraße, dennoch bleibt Keymer Coautor einer der spektakulärsten Partien der letzten Jahre.

Das Format des Grand Prix stammt aus den 1990er Jahren, als es zwei konkurrierende Weltmeistertitel im Schach gab. Die FIDE trug damals ihren Zyklus im Knock-out-System aus, während der abtrünnige Garri Kasparow, ohne Frage stärkster Spieler der Epoche, „seinen“ Titel privatisierte und sich seine Widersacher aussuchte. Nach der Wiedervereinigung beider Titel 2007 wurde der Grand Prix Modus beibehalten, aber abgeändert, er dient jetzt zur Rekrutierung einzelner Teilnehmer des Kandidatenturniers zur Ermittlung des Herausforderers des Champions. In Berlin wird in vier Gruppen à vier Akteuren gespielt, von denen nur der Sieger ins Halbfinale kommt. Erst da gibt es die begehrten Punkte, die in der Summe nach drei Turnieren die beiden Glücklichen ausweisen. Insgesamt sind 24 Großmeister im Wettbewerb, jeder spielt bei zwei Turnieren mit jeweils 16 Spielern mit. Der hohe Druck, nach dem nur das Weiterkommen zählt, hat nach erstem Eindruck Unter den Linden zu attraktivem Schach geführt.

World Chess ist traditionell nicht gut im Organisieren. So hatte die Firma es versäumt, die speziellen Schachbretter mit den elektrosensitiven Feldern und Figuren, die für eine Live-Übertragung im Internet längst Standard sind, vorrätig zu halten; erst durch eine spontane Aktion eines Berliner Turnierveterans konnte die professionelle Ausstattung noch rechtzeitig beschafft werden. Abseits berechtigter Zweifel am Gelingen des Projektes „Schachclub“ gebührt dem Unternehmen Respekt, es zumindest zu versuchen. An der Spree gibt es eine lebhafte Schachszene, die in Vereinen, Betrieben und Cafés engagiert ist und sicher einen gut geführten Club mit Chic und Charme annähme, allem Spielen und Kommentieren im Netz zum Trotz. Schließlich ist Schach auch Kulturtechnik und Kommunikation, die das Gegenüber braucht, nicht nur einen Avatar. Zeitgemäß die Idee, das königliche Spiel aus den verqualmten Hinterzimmern der Kaiserzeit in das Ambiente einer Lounge zu holen. Wenn World Chess damit reüssierte, hätten sie sich wahrlich einen Großen Preis verdient.