Großvater

Denkt Sascha an ihre frühen Jahre zurück, tauchen unter den Mitgliedern ihrer Familie vor allem weibliche Gesichter, Gestalten und Namen auf. Ohne Mühe erinnert sie sich, neben ihrer Mutter und ihrer Schwester, an ihre Großmütter, ihre Tanten und Cousinen, die zum Gelingen von Festen im großen Haus beitrugen, die Enkel bändigten und wie selbstverständlich den Alltag organisierten. Auch der erweiterte Kreis der Nachbarschaft und der Schule ist durch die Präsenz von Lehrerinnen, Mitschülerinnen und Spielfreundinnen geprägt. Ob das erste Schwimmen im tiefen Wasser, das Fahrradfahren, das Verstecken- und Fangenspielen auf den Straßen ihres Viertels nach Einbruch der Dunkelheit im Sommer – Jungs waren mit dabei, tonangebend waren die meist etwas älteren Mädchen. Ihren eigenen Vater erlebte Sascha über die Jahre als abwesend; morgens arbeitete er auswärts als Lehrer, nach dem Mittagessen ruhte er sich aus, abends beugte er sich still über seine zu korrigierenden Klassenarbeiten. Dass er seine Frau chronisch betrog, spürte sie, bevor sie Worte dafür fand und Belege bekam.

Ihre Großväter kommen in ihrem bewussten Leben nicht vor, sie haben Einfluss auf ihr Denken und ihr Erinnern nur als ferne Figuren, die ein wenig Kontur über Bilder und Erzählungen gewinnen. Der Vater ihrer Mutter, Otto mit Namen, geboren 1913, fiel in den kurzen Wochen des Frankreich-Feldzugs an der Aisne im Sommer 1940. Er hatte auf dem Schlachtfeld völlig überraschend von einem Kameraden erfahren, dass er eine Tochter habe, dass die Mutter, also seine Geliebte, den Säugling gleich nach der Geburt 1936 zur Adoption freigegeben habe. Er nahm sich fest vor, so der Kamerad, nach Kriegsende das ganze Land zu durchsuchen und seine Tochter zu finden. Er starb indes mit 27 und ruht auf einem Soldatenfriedhof nahe Reims in der Champagne. Das einzige Foto, das Sascha von ihm hat, zeigt ihn in seiner Rekrutenuniform aus derbem Filz, den Blick aus weichem Antlitz schräg in eine unbestimmte Weite gerichtet. Das Portrait ist arrangiert, wahrscheinlich in einem professionellen Fotostudio, das solche Sitzungen andauernd ausführte. Keine Spur von Ahnung, dass sein junges Leben weit vor der Zeit enden sollte, einem mörderischen Krieg geopfert.

Ihre Mutter wuchs seit 1937 bei Pflegeeltern auf. Ihr Adoptivvater Antonius, Jahrgang 1898, hatte sich mit seiner Frau Helene sehr um die kleine Margret bemüht. Das geht aus dem Briefwechsel mit dem Jugendamt hervor, der in Saschas Verwahrung sich befindet. Der Vater (seinerzeit wurde die offizielle Korrespondenz von Männern geführt, erst recht eine solche im Kanzleistil der Verwaltung) freut sich über das Gedeihen des kleinen Mädchens in seinem neuen Zuhause und sieht es als die gemeinsame Ihre an. Er lebte lange genug, um seiner dann volljährig gewordenen Tochter Ende der 1950er Jahre die Wahrheit über ihre Adoption zu sagen; er verschwieg ihr auch nicht den Namen und die damalige Anschrift ihrer leiblichen Mutter. Antonius starb einen Tag vor dem Heiligen Abend 1960, fünf Jahre vor Saschas Geburt. Ein Foto, das sie von ihm kennt, zeigt ihn füllig in Anzug, Krawatte und Uhrkette, im gediegenen Arbeitszimmer vor einem wuchtigen Schreibtisch sitzend, in der Hand eine brennende Zigarre, den kugeligen Schädel blank rasiert, die kleinen Augen wach hinter runden Brillengläsern; die Aufnahme verströmt bürgerliche Innerlichkeit.

Der Vater ihres Vaters, Heinrich, geboren 1902, lebte noch zum Zeitpunkt ihrer Geburt; als er 1974 starb, war Sascha gerade neun Jahre alt. Das Gedächtnis des Kindes entwickelt sich ab dem vierten Lebensjahr, alles, was vorher passiert, wird nicht als Erinnerung abgelegt. Dennoch kennt Sascha ihren Großvater nur von Fotos und aus Erzählungen. Ein Bild zeigt ihn in der Küche ihrer Eltern sitzend, während sie im Laufstall steht und schüchtern in die Kamera blickt. Sie weiß, dass ihr Großvater öfter auf die Geschwister aufgepasst hat, wenn ihre Eltern ausgehen wollten, und sie bei der Gelegenheit mit gesalzenen Erdnüssen bei Laune zu halten versuchte – reale Situationen oder Empfindungen mit ihrem Großvater, der ihr schon immer alt vorkam, hat sie nicht parat. Zweifellos aber hat sich seine Familienmaske über ihren Vater auch bei ihr festgesetzt; sie hat das gleiche längliche ovale Gesicht mit der breiten Stirn über den leicht eng stehenden Augen und dem festen Kinn. Das warme Braun der Augen und die vollen Lippen gehen hingegen nach der Mutter.

Der Großvater ist der Vater des Vaters einer jeweiligen Person. Vom Großvater respektive der Großmutter (sowie den Großeltern) ist erst seit dem 14. Jahrhundert die Rede, im Deutschen und im Englischen wie im Niederländischen und im Französischen. Grund für die rasche Verbreitung in den genannten Sprachen zugleich war wohl die eindeutige Unterscheidungsmöglichkeit zwischen dem Maskulinum und dem Femininum. Im vorher gängigen Ahn sowie in den heute nur mehr pluralisch verwendeten Ahnen (im Sinne einer Rückbindung an eine über viele Generationen laufende familiäre Gemeinschaft) treten die Geschlechterunterschiede hinter der Zeitdistanz zurück, wie der Kluge informiert. Die dominierende Rolle des Vaters an der Spitze einer Familie beziehungsweise einer Sippe zeigt sich noch heute im russischen Brauch, den Kindern als zweiten Vornamen den Vatersnamen mitzugeben: Alexej Nikolajewitsch (Sohn des Nikolaj) sowie Tamara Fjodorowa (Tochter des Fjodor).

Sascha ist praktisch ohne Großväter aufgewachsen, selbst drei ihrer Art haben ihr Leben allenfalls vermittelt geprägt. Sie alle sind versunken in einer uferlosen Vergangenheit, aus der sie nur über Stimulanzien wie Fotos, Notizen oder Grabsteine für einen kurzen Moment wieder auftauchen, wie ein Stück Holz zwischen hohen Wellen draußen auf dem Meer. Otto, der Malergeselle aus dem kleinen Dorf in der Rhön, der vom Vater seiner Geliebten als nicht standesgemäß angesehen wurde und der nie eine Chance bekam, seine Tochter kennenzulernen, für sie als Vater zu sorgen und die Mutter zu heiraten. Antonius, der zurückhaltende mittlere Verwaltungsbeamte aus Westfalen, der sich beruflich und privat um Solidität und Genauigkeit bemühte und während des Krieges voller Sorge Frau und Kind im 60 Kilometer entfernten Teutoburger Wald besuchte, wohin sie evakuiert waren. Heinrich von einem Bauernhof in den Baumbergen, ein kleiner Postbeamter, früh von Krieg, Hunger und Entbehrung gezeichnet, der allen fünf Kindern eine ordentliche Ausbildung bieten wollte („Wissen kann Euch niemand nehmen!“) und der früh verschlissen alterte. Um diese Unbekannten weint sie einige trockene Tränen der Sehnsucht.

Blickt sie auf die männliche Linie ihrer Familie, sieht Sascha natürlich ihren Vater, einen Solitär, der einen massigen Schatten wirft und dessen erdrückende Gegenwart durch keinerlei Großväter gemildert wurde. Ihre Onkel lebten zu weit weg, sie sahen einander zu selten, als dass es andere relativierende Auslegungen des Prinzips Mann in ihrer Kindheit gegeben hätte. Die Männlichkeit ihres Vaters hat Sascha lange Zeit als bedrohlich, rechthaberisch und strafend erlebt, auch ohne entsprechende körperliche Züchtigung; ihr Vater dressierte die Familie über Schweigen, Spott, Kälte und Geld, ganz wie ein Gott, zu dem eine Kommunikation ja auch nur über das Gebet vorgesehen ist, das erhört oder ignoriert werden kann. Dem Gefühl der Abhängigkeit stand keines des Schutzes zum Ausgleich zur Seite. Manchmal fragt sich Sascha, ob die scheinbare Ausweglosigkeit der für nichts Platz lassenden, destruktiven Maskulinität ihres Vaters die Entstehung ihrer Transidentität begünstigt hat – dass sie aus unbewusster Verweigerung des Männermusters ihres Vaters sich ins Niemandsland der Neutralität aufgemacht hat, um nicht ein versteinertes, unnahbares, rücksichtsloses Geschlecht zu vertreten.

Heute, am Beginn ihres letzten Lebensdrittels, weiß Sascha, dass auch ihr Vater so hat werden müssen, wie sie ihn als kleines Kind erlebt hat, auch er steht in einer Reihe genealogischer Einflüsse, die nicht nach seiner Zustimmung fragen. Mit ein wenig selektiver Fantasie findet Sascha in ihrem Leben die Obsession für Bücher wieder, die Antonius auszeichnete; von Heinrich sieht sie dessen Hang zum Eigenbrötlertum und seine Hingabe an Rauschmittel bei sich angekommen; sie ist definitiv frankophil, Otto hat die letzten Wochen seines Lebens östlich des Rheins verbracht und nährt nun die welsche Erde. Sascha findet es traurig, dass sie keinen dieser so verschiedenen Männer je kennenlernen konnte, dass sie ihrer Vermächtnis peu à peu aus Relikten rekonstruieren muss. Vielleicht hätte einer dieser möglichen Kontakte als Korrektiv des übermächtigen Vaters wirken können, wie es ja häufig in Familien über mehrere Generationen geschieht. Vielleicht hätte sie dann gelebte Selbstständigkeit ohne permanente Konkurrenz erlebt. Saschas Schluss aus ihrer unvollständigen geschlechtlichen Entwicklung ist radikal: Da sie keine Kinder hat, einen Strich unter ihre Ahnenreihe gezogen hat, wird es keine künftigen Saschalinas geben, die ihr dereinst Versäumnisse vorhalten könnten. Diese Leere hat auch etwas Erleichterndes.