Gulag

  In jedem Gebiet gab es eigene Lager, bei jedem Bauprojekt.
Millionen, Dutzende von Millionen Häftlinge.

Warlam Schalamow, Erzählungen aus Kolyma

Der Begriff des Gulag zählt zu den Katastrophenwörtern des 20. Jahrhunderts. Etliche Millionen Menschen mussten im weitverzweigten Netz der Lager in der unendlichen Sowjetunion Zwangsarbeit leisten, Hundertausende kamen in der Taiga Sibiriens unter Kälte, Schlägen, Hunger und Krankheiten um, ohne dass ihre Familien im fernen Moskau oder Leningrad von ihrem Schicksal erfahren hätten. Mit der Ressource Arbeitskraft konnte die örtliche Lagerleitung so wegwerfend verfahren, weil der Strom neu ankommender Häftlinge nicht abreißen wollte. Der Gulag war ein Element der forcierten sowjetischen Industrialisierung und zugleich ein Moment des staatlichen Terrors zur Herrschaftssicherung. Der Gulag war überall präsent und nirgends festzumachen, er hat seine Vorläufer in der Katorga des Zarenreiches und findet sein Echo im Russland Wladimir Putins.

Das erste sowjetische Konzentrationslager wird Anfang der 1920er Jahre in Karelien auf den Solowetzki-Inseln auf dem Gelände eines alten Klosters errichtet, hier werden politische Gegner des jungen bolschewistischen Staates interniert. 1931 schuften bereits mehrere 10.000 Häftlinge auf der nahegelegenen riesigen Baustelle des Weißmeer-Ostsee-Kanals, des ersten pharaonenhaften Prestigeprojekts unter Josef Stalin. Ganz in der zaristischen Tradition stehend, wird hier die Zwangsarbeit als Vehikel zur „Besserung“ der „Schädlinge“ und „Saboteure“ gesehen. Nikolai Bucharin, der später hingerichtete Theoretiker der KPdSU, spricht unverblümt von der „Umschmiedung des Menschenmaterials“ durch Zwangsarbeit; der Staatsdichter Maxim Gorki verfasst eine Lobeshymne auf den Genossen Stalin, der die Arbeit in der UdSSR zu einer Sache der Ehre und des Ruhms erklärt.

Diese frühen Lager stehen unter dem Kommando der Geheimpolizei, die wiederum dem Innenministerium eingegliedert ist. Hier wird die Abteilung glawnoje uprawlenije lagerei, übersetzt als „Hauptverwaltung der Lager“ gegründet, das Kürzel „Gulag“ steht stellvertretend für die „Besserungsarbeitslager“ der UdSSR. Diese entwickeln sich im Zuge des ersten Fünf-Jahres-Plans in den 1930er Jahren zu einer regelrechten Industrie mit verschiedenen Branchen. In Workuta wird Kohle gefördert, in Norilsk Nickel, an der Kolyma Gold. Diese Orte nördlich des Polarkreises sind die Kerne großer Lagerkomplexe, die binnen weniger Jahre aus dem Nichts des Permafrostbodens gestampft werden. Hier werden vermeintliche wie tatsächliche Regimegegner ebenso wie Kleinkriminelle, Hooligans und Angehörige ethnischer Minderheiten zur Sklaverei im Schacht, im Forst, im Steinbruch und im Straßenbau gezwungen, ohne Maschinen und bei grotesk niedrigen Essensrationen, die angesichts der irrealen Arbeitsnormen zu einem Verschleiß der Insassen binnen einer Saison führen.

Bis in die letzten Jahre der Sowjetunion war die Rekonstruktion des Schattenreiches des Gulag nur über die im Untergrund zirkulierende Memoirenliteratur möglich. Erst unter Mikhail Gorbatschow und Boris Jelzin wurden die Archive der Partei, des Geheimdienstes und des Innenministeriums für die wissenschaftliche Forschung zugänglich. Allerdings hatten die Russen (m/w/d) in den 1990er Jahren mehrheitlich genug damit zu tun, den abrupten Übergang vom Kommunismus zur Marktwirtschaft zu vollziehen; für einen kritischen Blick auf die dunkle Vergangenheit des Stalinismus fehlte vielfach die Energie. So stammt denn die bis heute kanonische Arbeit über den Gulag aus dem Jahr 2003 aus der Feder der amerikanischen Historikerin Anne Applebaum, auch deutsche Wissenschaftler wie Jörg Baberowski und Karl Schlögel haben wichtige Studien zu diesem integralen Kapitel der sowjetisch-russischen Geschichte vorgelegt.

Unter Präsident Wladimir Putin, dem ehemaligen Leiter des russischen Inlandsgeheimdienstes, wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts die wissenschaftliche Aufarbeitung des Gulag nicht nur nicht gefördert, sondern vielmehr behindert. Aktivisten der Menschenrechtsorganisation Memorial werden zu „ausländischen Agenten“ erklärt und mit zweifelhaften Kriminalprozessen unter Druck gesetzt. Gleichzeitig knüpft das Regime in der politischen Ikonographie bewusst an hohe sowjetische Feiertage wie den Tag des Sieges am 9. Mai an; in dieser Lesart avanciert Josef Stalin, der das sowjetische Imperium drei Jahrzehnte in Angst und Schrecken hielt, zum standhaften Sieger über den Hitlerfaschismus auf dem Weg zur Weltmacht, der Gulag wird gegen jede historische Evidenz als eine lässliche Sünde im Kampf gegen die deutschen Invasoren verklärt. So nimmt es nicht wunder, dass es einer weißrussischen Autorin wie Swetlana Alexijewitsch bedarf, um in ihren Reportagen Nachfahren von Opfern wie Tätern der Lager zu Wort kommen zu lassen.

Eine Entgulagisierung hat es weder in der UdSSR noch im postsowjetischen Russland gegeben. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass die schlimmsten Exzesse in den Lagern mit Stalins Tod 1953 ihr Ende fanden, zum anderen, dass ein fremder Sieger nach dem Ende der Sowjetunion, der die Aufarbeitung hätte fordern können, fehlte. Dabei hat der Gulag Opfer in Millionenhöhe gefordert, er hat drei Generationen von Sowjetbürgern quer durch die Gesellschaft traumatisiert, zudem wird die Zwangsarbeit im Lager auch im heutigen Russland als Strafe angewendet. So wächst der Gulag mit den Jahren zu einem Tabu heran, von dem nahezu jede*r etwas gehört oder auch erlebt hat, das sich aber einer öffentlichen sprachlichen Beschreibung und Überwindung entzieht. Bis heute fehlt ein vom Staat betriebenes Museum zur Geschichte des Gulag, ebenso wie ein zentrales Monument der Erinnerung. Das Lager Perm-36 am Ostrand des Urals wurde von privaten Aktivisten originalgetreu wieder aufgebaut zu einer Gedenkstätte, die an drei Orten in Sibirien projektierte Errichtung einer „Maske der Trauer“ wurde lediglich in Magadan an der Kolyma realisiert.

Zu den wichtigsten literarischen Arbeiten der Sowjetunion zählen die Auseinandersetzungen mit dem Gulag. Die Gedichte von Anna Achmatowa und die Erzählungen von Lydia Tschukowskaja thematisieren die quälende Angst und Sorge der Frauen, deren Männer als Angehörige der Intelligenz in den Jahren des Großen Terrors verschleppt wurden und über deren Verbleib die Behörden schweigen oder lügen – hinter der Formel „Zehn Jahre Haft ohne Recht auf Briefverkehr“ verbirgt sich die sofortige Exekution noch im Gefängnis. Die Erzählungen Alexander Solschenizyns, Jewgenia Ginzburgs und Warlam Schalamows sind Stimmen vom Nullpunkt der eisigen Hölle, die vom Auflösen jeder Humanität hinter Stacheldraht im stetigen Wind sprechen. Diese Texte stehen in einer Kontinuität zu den Zeugnissen Fjodor Dostojewskijs und Anton Tschechows, die schon im 19. Jahrhundert die ökonomische und pädagogische Absurdität der Zwangsarbeit belegen.

Ohne den Gulag, in der griffigen Metapher Alexander Solschenizyns ein „Archipel“ innerhalb des Riesenreiches, ist die Geschichte der UdSSR sowie ihrer Erbschaft nicht zu verstehen. Die Menschen, die willkürlich aufgrund konstruierter „Beweise“ und herbeigefolterter Geständnisse in die fernen Lager deportiert wurden, wurden vorab von der Propaganda zu „Volksfeinden“ erklärt, die es auszumerzen gelte. Selbst ihre Kinder übernahmen diese entsetzliche Lesart der Entmenschlichung der Gefangenen. Während des Tauwetters unter Nikita Chruschtschow wurden die politischen Häftlinge zwar freigelassen und rehabilitiert, doch die strukturelle Vernichtung der „anderen“ durch das Lagersystem blieb mutatis mutandis erhalten. An diesem schmerzenden Riss laboriert das Russland der Gegenwart – möglicherweise müssen die letzten Überlebenden des Stalinschen Terrors erst sterben, bevor man ihrer staatlicherseits gedenkt. Bis es soweit ist, werden ihre Zeugnisse des Überlebens zu einer neuen Mythologie des Grauens geworden sein.