Die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist Berlin – Artikel 22, Absatz 1, Grundgesetz
Es war eine knappe Entscheidung vor 30 Jahren. Mit 338 zu 320 Stimmen entschied der Deutsche Bundestag in Bonn, dass der Parlaments- und Regierungssitz des gerade vereinten Deutschlands künftig Berlin sein solle. Dem sogenannten Hauptstadtbeschluss am Donnerstag, den 20. Juni 1991 war eine leidenschaftliche, in Teilen hitzige Debatte im Plenarsaal, dem alten Wasserwerk zu Bonn vorausgegangen; Monate vorher bereits wurde die Alternative Bonn oder Berlin in den Zeitungen und den Talkshows hin und her diskutiert. Mit der Entscheidung des Bundestags zugunsten Berlins ging das über 40 Jahre währende Provisorium Bonn an Rhein seinem Ende entgegen.
In den Jahren des Kalten Krieges gab es strenggenommen drei deutsche Hauptstädte: Es gab (a) Berlin, Hauptstadt der DDR, wie es auf den Hinweisschildern auf der Autobahn am Berliner Ring hieß, mit dem Palast der Republik und dem Staatsratsgebäude; es gab (b) Berlin als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland, wie es im Grundgesetz 1949 festgehalten war; und es gab (c) die pragmatisch-provisorische Lösung Bonn mit dem Langen Eugen für die Abgeordnetenbüros, dem Palais Schaumburg und der Villa Hammerschmidt. Das alte Reichstagsgebäude, ein Entwurf des Architekten Paul Wallot, errichtet zwischen 1882 und 1894, lag als notdürftig versehrte Ruine nach dem II. Weltkrieg auf der Brache im Schatten der Berliner Mauer, als steinerne Erinnerung an große und entsetzliche Zeiten des deutschen Parlamentarismus. Auf der Wiese vor dem Findling wurde eifrig Fußball gespielt, einen Steinwurf entfernt harrte die Schweizer Botschaft im Niemandsland gegen den Zeitgeist aus, das freistehende Restaurant Paris-Moskau galt im kulinarisch anspruchslosen Westberlin als Gourmetadresse, die Quadriga auf dem Brandenburger Tor auf der anderen Seite der Mauer lugte gen Osten.
Mit den Ostverträgen der Regierung Brandt/Scheel Anfang der 1970er Jahre erkannten sich die Bundesrepublik Deutschland und die DDR wechselseitig an, die parallele Existenz zweier deutscher Staaten schien die „deutsche Frage“ bis auf Weiteres zu beantworten, aller Rhetorik eines unteilbaren Deutschlands zum Trotz. Beide Länder waren festgefügt in ihre jeweiligen Militär- und Wirtschaftsbündnisse, die Grenze zwischen dem westlichen und östlichen Block verlief stellvertretend mitten durch Berlin, sinnfällig und handgreiflich in Gestalt der Mauer. Die rasche Erosion der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre und mit ihr jene der Regime ihrer Satellitenstaaten hatten weder Politiker noch Ökonomen oder Agenten vorausgesehen. Völlig unvermutet stand nach dem Fall der Mauer im November 1989 die „deutsche Frage“ wieder auf dem Tapet – kein Jahr später trat die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes bei, mit dem Segen der alliierten Besatzungsmächte, der USA, der UdSSR, Großbritanniens und Frankreichs.
Am 4. Oktober 1990, am Tag nach der Unterzeichnung des Einigungsvertrages, trat der Bundestag erstmals gesamtdeutsch im Reichstagsgebäude zusammen, zu den Bonner Parlamentariern gesellten sich die Abgeordneten der Volkskammer der DDR, deren erste (und letzte) freie Wahl am 18. März 1990 stattgefunden hatte. Die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl fand am 2. Dezember 1990 statt, der neue Bundestag konstituierte sich am 20. Dezember im Berliner Reichstag. Das parlamentarische und ministerielle Leben der 1990er Jahre vollzog sich weitgehend in Bonn, weil dort neben den Ministerien auch die Sitzungssäle und die Abgeordnetenbüros lokalisiert waren. Den westdeutschen Ministerpräsidenten wäre der Verbleib am Rhein recht gewesen, sie argumentierten mit der Nähe zu Brüssel und der gewachsenen Struktur vor Ort. Doch gottlob gab es genügend Redner und dann auch Stimmberechtigte, denen klar war, dass die Vereinigung Deutschlands mehr war als ein Verwaltungsakt, nämlich ein Ereignis historischer Tragweite mit weit reichenden Folgen.
Berlin stand nie zur Disposition als nominelle Hauptstadt, wohl aber als Sitz von Parlament und Regierung. Dass dann Bonn diese Rolle nicht länger spielen sollte, bedeutete auch, dass das Ende des geteilten Deutschlands nicht nur den Untergang der DDR zur Folge hatte, sondern auch die liebgewonnene Idylle am Rhein zu ihrem geschichtlich logischen Ende kam. Ein Verharren in Bonn wäre einem dreisten Ignorieren der Epochenschwelle von 1989/91 gleichgekommen, als die UdSSR kollabierte und gleich 15 neue souveräne Staaten auf ihrem ehemaligen Territorium entstanden. Aus heutiger Sicht erscheint es grotesk, dass die Frage des Sitzes des Parlamentes und der Regierung überhaupt gestellt werden musste. Mit verkrampften Kompromissanträgen sollte ein wenig Bonner Glanz erhalten bleiben: Ein Antrag sah vor, den Bundestag in Berlin anzusiedeln, Kanzleramt und Ministerien aber in Bonn zu belassen; ein anderer Antrag wollte die Verfassungsorgane Bundesrat und Bundespräsident nach Berlin entsenden, die Legislative und die Exekutive stattdessen am Rhein behalten; lediglich die PDS optierte für einen Komplettumzug an die Spree. Am Ende hieß es 338 zu 320 Stimmen für Berlin.
Im Sommer 1995 verpackten Christo und Jeanne-Claude für zwei Wochen das Reichstagsgebäude mit einer silbrigen Plane und schufen im Spektakel gewohnten Berlin ein wahres Happening. Kaum war das ehrwürdige Gebäude mit seinen Brandspuren und Einschusslöchern, das Reichskanzler Otto von Bismarck einst wegwerfend als „Affenfelsen“ verspottet hatte, wieder nackt, begannen die Umbauten zu einem funktionsfähigen Parlament nach Plänen des britischen Architekten Norman Foster. Im April 1999 wurde der Bundestag im Reichstag offiziell den Abgeordneten übergeben, der Umzug der Parlamentarier und ihrer Schatten vom Rhein an die Spree vollzog sich im Sommer. Der 1998 gewählte Bundeskanzler Gerhard Schröder zog übergangsweise mit seinem Stab in das Gebäude des ehemaligen Staatsrates der DDR am Berliner Schloßplatz. 2001 war das von Axel Schultes entworfene Kanzleramt am Spreebogen bezugsfertig, ebenso das Paul-Löbe- und das Jakob-Kaiser-Haus mit ihren Sitzungssälen und den Büros der MdB. Im Jahr 2003 schließlich wurde das von Stephan Braunfels geplante Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, das neben Büros auch eine imposante Bibliothek beherbergt, eingeweiht.
Wer heute durch das gut 20 Jahre alte Parlamentsviertel in Mitte spaziert, ist angenehm überrascht von der alltäglichen Nähe der Bauten und ihrer Beschäftigen und Bewohner zur umgebenden Stadt. An Sommertagen kann man MdB beim Imbiss am Flussufer sitzen sehen, eine Ministerin kommt in Begleitung ihrer Referentin aus dem Reichstag, Touristen warten auf den Zugang zur gläsernen Kuppel, Radfahrer und Joggerinnen ziehen ihre Bahnen, nach Einbruch der Dunkelheit zeigt ein Open-Air-Kino die Geschichte der deutschen Demokratie. Die Botschaften der USA, Russlands, Frankreichs und Großbritanniens liegen um die Ecke am Pariser Platz, zur Komischen Oper ist es nicht weit, der Hauptbahnhof liegt auf der anderen Spreeseite, das ARD-Hauptstadtstudio, die Bundespressekonferenz und das Bundespresseamt sind fußläufig erreichbar, ebenso eine Currywurstbude, ein Prominentencafé Unter den Linden und eine Filiale einer globalen Kaffeehauskette. Das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus wird gerade saniert und erweitert, es fehlen noch Büros für die Parlamentarier und die Verwaltung. In der „Ständigen Vertretung“, einer Kneipe am Bahnhof Friedrichstraße, trinken die exilierten Rheinländer ihr Alt und ihr Kölsch nicht nur zum Karneval. Das Leben geht weiter, auch das der Politik.
Bonn hat sich vom Hauptstadtbeschluss gut erholt, der beschworene Aderlass blieb aus. In Godesberg genießen etliche hohe Ministerialbeamte ihren Ruhestand, sechs Ministerien sind mit ihrem Hauptsitz am Rhein verblieben, was eine lästige und teure Pendelei der Staatssekretäre, Referatsleiterinnen, Dezernenten und Wachleute nach sich zieht. Drei DAX-Konzerne haben ihre Zentralen in der so genannten „Bundesstadt“, die Universität blüht auf, die deutsche UNESCO-Kommission ist am Platz, zahlreiche Kongresse festigen den Ruf Bonns als Wissenschaftsstadt. Eine anderslautende Entscheidung des Parlamentes 1991 wäre partout nicht verständlich gewesen, weder im In- noch im Ausland. In Berlin hat sich eine aufgeregte Routine im Politikbetrieb eingespielt, trotz der Narben der Geschichte an jeder dritten Ecke. In einem elementaren Punkt aber hat die junge vereinte Bundesrepublik sich ein Versäumnis geleistet: Eine Debatte um eine neue Verfassung, wie sie Anfang der 1990er Jahre einige Juristen und Bürgerrechtler der DDR angeregt hatten, wurde von der Regierung Kohl/Schäuble kalt abgewürgt. Dabei sieht Artikel 146 des Grundgesetzes die Möglichkeit vor, dass „eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Eine Aufgabe für die nächste Generation?