Alle Jahre wieder

  Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der Messias, der Herr. Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.
Lk 2,11-12

Mit dem Vers „Alle Jahre wieder“ beginnt eines der beliebtesten Weihnachtslieder. Der kindliche Text erinnert an die Geburt Jesu vor gut 2000 Jahren, das Lied gehört zum Standardrepertoire der Messen an den Feiertagen. In diesem Jahr ist alles anders, pandemiebedingt können Gottesdienste nur ohne Gesang der Gläubigen stattfinden, wenn sie nicht gleich ganz ausfallen wegen des hohen Infektionsrisikos. Die „Stille Nacht“, so der Titel eines anderen Klassikers zu Heiligabend, wird auf ungewollte Art Wirklichkeit. Allen verschärften Maßnahmen zur Eindämmung von Corona zum Trotz, wollen die Deutschen Weihnachten feiern, mit Verwandtenbesuch, Geschenken, Tannenbaum und Kirchgang. Es ist definitiv das sentimentalste Fest im Jahreskreis, auch weil die Erhöhung durch die Familie so viele an ihre Einsamkeit erinnert.

Der Titel „Alle Jahre wieder“ schmückt auch einen Film von Ulrich Schamoni aus dem Jahre 1967, der eine spezielle Weihnachtsgeschichte erzählt (und den Silbernen Bären der Berlinale erhält). Lore und Hannes sind zwar unter dem sprechenden Ehenamen Lücke verheiratet, leben aber schon seit Jahren getrennt. Hannes arbeitet als Werbetexter in Frankfurt, Lore führt in Münster eine Tanzschule und kümmert sich um die gemeinsamen Kinder. Die beiden sehen sich einmal im Jahr an Weihnachten in der Domstadt, um verkrampft heile Welt zu spielen; nach dem Festessen und der Bescherung flieht Hannes in die Kneipe, um sich mit seinen Kumpels zu besaufen. Dieses Mal wird er von seiner Freundin Inge begleitet, die er diskret mit im Hotel einquartiert; er will sie vor seiner Familie geheim halten, sie will, dass er sich zu seiner neuen Beziehung bekennt. Dieser von Schamoni als „Heimatfilm“ etikettierte Streifen läuft, wenn nicht gerade Pandemie ist, an Heiligabend in Münster im Kino.

Der Regisseur Ulrich Schamoni (1939 – 1998) ist in Berlin geboren, kriegs- und fluchtbedingt aber aufgewachsen in Münster. Der Generationengenosse Rainer Werner Fassbinders darf wie dieser zu den Vorreitern des Neuen Deutschen Films gezählt werden, der in den 1960er Jahren das brave Kino der Bundesrepublik gehörig aufmischte. „Alle Jahre wieder“, erschienen ein Jahr vor May Spils‘ „Zur Sache Schätzchen“ mit einer fabelhaften Uschi Glas, erzählt vordergründig die Geschichte von Lore, Hannes und Inge, der eigentliche Star aber ist Münster. Im II. Weltkrieg stark zerstört, sind gut 20 Jahre später die Trümmer weggeräumt, die historische Altstadt mit ihren Giebelhäusern ist wieder pittoresk restauriert. Wiewohl renommierte Universitätsstadt, gilt Münster seinerzeit als besonders bieder, die katholische Kirche ist eine unbestrittene moralische Instanz, die keimenden Studentenunruhen in Berlin, München und Frankfurt werden allenfalls als fernes Donnergrollen wahrgenommen.

Im Film schickt Schamoni seine Darsteller (m/w/d) Sabine Sinjen, Johannes Schaaf, Hans Dieter Schwarze und Ulla Jacobssen auf eine Tour durch die Innenstadt Münsters innerhalb der Promenade, dem alten Burgring, und bereits 1967 eine den Fahrrädern und Fußgängern vorbehaltene Allee. Sie flanieren unter den Bögen auf dem Prinzipalmarkt, im Hotel Busche im Schatten des Doms wird Logis genommen, in der Überwasserkirche wird die Christmette gefeiert, in der Kneipe „Bullenkopp“ kippen sie Steinhäger und klopfen Machosprüche, im Landesmuseum wird die Geschichte Westfalens rekonstruiert, im Schlaun-Gymnasium werden Münster-Weisheiten zum Besten gegeben („Entweder es regnet hier oder die Glocken läuten oder es wird eine Pinte eröffnet.“), im Café Schucan lebt die legendäre Kaffeehauskultur der Stadt, und im Rathaus wird des Westfälischen Friedens von 1648 gedacht.

Die alte Residenzstadt Münster wird von Schamoni und seiner Crew durchaus liebevoll aufs Korn genommen. Nach vorne sicher konservativ, sind sich ihre Bewohner der hohen Lebensqualität der Kaufmannsgilde durchaus bewusst; außerdem leben sie nach der katholischen Regel, die noch für jede Sünde die Vergebung durch die Beichte bereithält. Das Lavieren Hannes‘ zwischen Ehefrau, Familie und junger Geliebter ist sicher repräsentativ für jene Zeit, als eine Scheidung noch nach dem Schuldprinzip herbeigeführt wurde und vor allem für die Frauen einer Entehrung gleichkam. Die in Schwarz/Weiß gedrehten Szenen von „Alle Jahre wieder“ haben aus heutiger Perspektive etwas Gestelltes, unfreiwillig Komisches, durch die sparsamen Schnitte wirken sie wie abgefilmtes Theater. Die gespreizten Dialoge werden im breiten Westfälisch geführt, durchsetzt mit der lokalen Gaunersprache Massematte – diese Idiome werden heute bestenfalls in den Umlandgemeinden gesprochen. Einzelne Worte wie Kaline, Jovel, Hamel und Jonteff aber gehören bis heute zum Sprachschatz der Domstadt.

Natürlich hat der Film Patina angesetzt, bei aller Liebe zum Lokalkolorit. Ein aktuelles Buch, betitelt mit „Alle Jahre wieder in Münster“, holt den Film behutsam in die Gegenwart. Einzelne Schlüsselszenen werden mit realen Personen von heute nachgestellt und fotografiert. Es treten auf Marina Weisband, Ex-Politikerin der Piratenpartei, Ruprecht Polenz, ehemaliger MdB, Götz Alsmann, Sänger und Komponist, Steffi Stephan, Gitarrist im Panik-Orchester, Markus Lewe, Oberbürgermeister von Münster; des Weiteren, wie bereits im Original, zahlreiche Statisten (m/w/d). Sie alle leben in Münster und wissen die angenehmen Seiten der liberaler (und größer) gewordenen ehemaligen Hansestadt zu schätzen. Die Fotos demonstrieren, dass sich die Stadt natürlich verändert hat (Café Schucan ist schon lange zu, das Landesmuseum heißt nach seiner umfassenden Neugestaltung nun LWL-Museum für Kunst und Kultur, die Straßen sind mit Autos verstopft, Kleidung und Frisuren wirken legerer und weniger uniform, die Schreibschrift auf Plakaten und Emblemen ist serifenloser Typographie gewichen), dass sie sich aber im bürgerlichen Kern treu geblieben ist. Wer sich an die späten 1960er Jahre in Münster erinnert, wird beim Blättern im Buch unweigerlich nostalgisch werden, alle anderen werden an die Hand genommen auf einen filmischen Stadtspaziergang.

Seit 1967 hat sich in einer Hinsicht nichts getan: Über Weihnachten fahren die Menschen wie im Sog in ihre Heimat, um ihre Familien und ihre alten Freunde wiederzutreffen. Dabei kommt es nahezu zwangsläufig zum Aufbrechen verdrängter Konflikte, die heimelige Enge wirkt dabei wie ein Katalysator. Und doch hätte man im Jahr 2020 gern die privaten Probleme von Lore, Hannes und Inge mit ihrem Zögern und Verstellen in Liebesdingen. Anstatt über Einsichten wie „Der Hauptgrund für die Scheidung ist die Ehe.“ oder „Wenn man allein sein kann, ist alles halb so schlimm.“ zu meditieren, gehört heute das pausenlose Corona-Regime als ungebetener Gast mit zum Weihnachtsfest. Die Menschen in Münster und andernorts werden zwangskollektiviert und müssen die AHA-L-Maßnahmen auch und gerade an den Feiertagen beherzigen – wenn sie sich denn über die staatliche Reisewarnung hinweggesetzt haben und ihre familiären Kontakte pflegen. Möge für die Pandemie kein „Alle Jahre wieder“ gelten, in einem Jahr wird dann hoffentlich wieder lauthals in der Messe gesungen und leise geweint.