We are all children of beautiful mother nature – Touko Laaksonen
Der erste Eindruck: Weiß. Ob man nun mit der Finnair über Vantaa heruntergeht oder mit dem Schiff am Länsiterminaali anlandet, man kommt in eine Stadt aus Tausend und einem Weiß. Die finnische Nationalflagge zeigt ein blaues Kreuz auf weißem Tuch, die Hauptstadt Helsinki reklamiert das Weiß für sich, das Blau steht für das allgegenwärtige Wasser, in das die Stadt gebaut ist. Der maritime Farbklang wiederholt sich dauernd, wenn man den Kopf in den Nacken legt – die Wolken weiß, der Himmel blau in allen Tönen dazwischen, wie auf einer Grisaille-Zeichnung. Zu Erden thront unübersehbar der Dom von Helsinki in seinem Winterweiß, sich selbst schützend in seiner Schönheit der Unschuld.
Helsinki ist eine junge Hauptstadt. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war Turku an der Südwestküste die Kapitale, zu dieser Zeit gehörte Finnland zum Schwedischen Königreich. Als Finnland 1812 im Zuge der Napoleonischen Kriege als Großfürstentum zur Provinz des Russischen Reiches wurde, bestimmte Alexander I., dass das weiter östlich gelegene Helsinki deren Verwaltungshauptstadt werde, da es näher an Petersburg liege. Der Zar ernannte den in Berlin geborenen Johann Carl Ludwig Engel zum Architekten des Ausbaus, der das urbane Bild des rasch wachsenden Helsinki bis heute prägte. Unter Engels Leitung entstanden bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts das Senatsgebäude, die Universitätsbibliothek und die Nicolaikirche sowie zahlreiche Privat- und Handelshäuser, in einem Stilmix aus preußischem und russischem Klassizismus.
Diese prachtvolle Silhouette offenbart sich der Besucherin, wenn sie vom estnischen Tallinn, das etwa 80 Kilometer südlich auf der anderen Seite des Finnischen Meerbusens liegt, auf Helsinki zusteuert. Die Fahrt mit der Straßenbahn in die Innenstadt lässt zu allen Zeiten Blicke auf die blaugraue See zu, aus der die Stadt herauswächst. Salz schmeckt auf der Zunge, der Wind vom Meer greift in die Haare und bläht die Jacken. Die Sonne, wenn sie auch noch nicht richtig wärmt im Mai, bringt die Häuser wie von innen zum Leuchten; die Fassaden in Minze, Rosé, Zitrone, Azur und Mauve wirken besonders sauber wie eine frisch gedeckte Kaffeetafel am Sonntag. Das Wasser, das den Helsinki-Archipel geschaffen hat, glänzt und blinkt, als lägen 100.000 kleine Spiegelchen auf seiner leicht wogenden Oberfläche.
Im Hafenviertel Munkkisaari ankern beige-graue Frachtkähne neben gewaltigen Kreuzfahrtschiffen, alte Kontore sind zu Büros und riesigen Wohnungen umgebaut, das drohende wie nährende Wasser immer im Blick. Helsinki ist ein Finnland en miniature, das gemeinhin das Land der 1.000 Seen genannt wird. Die Küste ist ein einziger Schärengarten, ein Labyrinth für Möwen und Fische. Die Straßen der Kapitale sind mit Bäumen bestellt, großzügige Parks durchsetzen die Siedlungen und schmücken die Verkehrsachsen. Die Privathäuser am westlichen Rand der Stadt nehmen die Natur als Gestaltungselement mit auf; ein großer Fels wird in die Konstruktion integriert, ein Anwesen wird um eine Gruppe alter Bäume herum gebaut, ein ungestauter Bach markiert die Grundstücksgrenze, ein kleiner Wasserfall sorgt für willkommene Abkühlung nach der Sauna, der Bootsschuppen am Pier lässt sich als Gästehaus nutzen.
Dieser Eindruck bleibt: Stadt, Land und Leute haben Platz, Finnland zählt mit 16 Menschen pro m² zu den am dünnsten besiedelten Ländern Europas. Garantiert liegt es darin begründet, dass die Menschen sich zwar reserviert, aber hilfsbereit und offen begegnen. Als Kerstin auf ihrem geliehenen Fahrrad an der Kreuzung steht und auf dem Smartphone den direkten Weg zum Südhafen sucht, hält ein Autofahrer an und fragt in makellosem Englisch, ob er ihr helfen könne. Daheim fühlt Kerstin sich auf dem Fahrrad als bewegliches Ziel in einem Computerspiel auf den Windschutzscheiben der PKW, hier ist sie gleichberechtigte Verkehrsteilnehmerin neben anderen. Hier ist von allem genug für alle da, auch an Raum und Zeit, besonders an frischer Luft.
Sie fährt mit dem Rad ins nordwestlich des Bahnhofes gelegene Viertel Töölö. In einem hügeligen Hain stoppt sie vor dem Monument des finnischen Komponisten Jean Sibelius (1865 – 1957). Aus der Ferne sieht die Ansammlung stilisierter Orgelpfeifen wie ein aus der Höhle ans Licht geholtes Ensemble an Stalaktiten aus, seine silberne Farbe hebt das finnische Blau plus Weiß zur Synthese auf; vor dem Monument stehend summt Kerstin unweigerlich „Alla marcia“ aus Sibelius‘ Karelia-Suite, der heimlichen Nationalhymne Suomis, einer Mischung aus Innerlichkeit und Lebensfreude. Ein Stück Musik wie geschaffen, um unter freiem Himmel in Gesellschaft von Birken, Elchen, Flechten und Lachsen aufgeführt zu werden.
Rund ein Kilometer weiter östlich liegt das Olympiastadion, Schauplatz der Olympischen Sommerspiele 1952. Natürlich trug der finnische Wunderläufer Paavo Nurmi (1897 – 1973) zur Eröffnung der Spiele die Fackel auf den letzten Metern ins Stadion und entzündete das Olympische Feuer, unter rührendem Applaus des Publikums und zum Verdruss der Offiziellen des IOC, für die der neunfache Olympiasieger Nurmi als Aktiver in den 1930er Jahren gegen den Amateurstatus der Olympioniken verstoßen hatte. Der fliegende Finne (weil er seinen Gegnern einfach entfloh) wird auf dem Vorplatz des Stadions mit einer überlebensgroßen Plastik gewürdigt, leicht versetzt steht hinter ihm Lasse Viren, der Goldmedaillengewinner der Spiele von 1972 in München. Wie ein Campanile überragt ein weißer schlanker Turm mit seinen 72 Metern die denkmalgeschützte Sportanlage.
Auf dem Weg zurück in die Stadt kommt Kerstin an der Finlandia-Halle vorbei, einem Werk des berühmten Architekten Alvar Aalto (1898 – 1976), zur Seeseite mit weißem Carrara-Marmor verblendet. In der Halle finden Ausstellungen, Messen und Konzerte statt, auch wurde hier 1975 unter Federführung der finnischen Diplomatie die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterzeichnet. Der Bau Aaltos leuchtet und fügt dem in der dunklen Jahreszeit melancholischen Helsinki eine heitere Note hinzu. Aalto hat nicht nur von der Natur inspirierte Gebäude mit abgerundeten Ecken, Wintergärten, ausladenden Terrassen und Glaswänden konstruiert, seine Stühle, Tische und Gläser sind als Alltagsgegenstände in fast jedem finnischen und in manchem europäischen Haushalt präsent.
Ebenfalls weltbekannt ist die Tochter Helsinkis, die Autorin, Malerin und Zeichnerin Tove Jansson (1914 – 2001), Schöpferin der Mumins, der drolligen Koboldfiguren für Kinder und Erwachsene. Jansson lebte über 30 Jahre mit ihrer Geliebten meist auf einer kleinen Insel vor der Küste Helsinkis, ihre Zeichnungen sind jedem Kinde Finnlands bekannt und gehören zum Inventar der Schule wie der Gesellschaft. Und selbst ein Außenseiter wie Touko Laaksonen (1920 – 1991), der mit seinen explizit schwulen Zeichnungen die Fantasien mehrerer Männer-Generationen vor Stonewall, § 175 und Aids bediente und den Großteil seines Lebens in den USA verbrachte, wird von seiner Heimatstadt umarmt. Die finnische Post hat 2014 ihm zu Ehren eine Briefmarke herausgebracht, seine eindeutigen Zeichnungen werden als Postkarten in den Läden des Ateneums, des Design-, des Naturkunde- und des Nationalmuseums verkauft.
Körperliche Erholung findet Kerstin in der Yrjönkadun Uimahalli, einer versteckt im Hinterhof ganz in der Nähe von Stockmanns, dem größten Kaufhaus Skandinaviens, gelegenen Schwimmhalle, der ältesten öffentlichen des Landes; schließlich hat hier fast jede Familie einen privaten See. Das Becken misst 25 Meter, in der umlaufenden Galerie im ersten Stock gibt es Séparées für die Massage, im Duschtrakt wartet zusätzlich eine Sauna. Männer und Frauen schwimmen hier zu getrennten Zeiten; viele Frauen legen ihre Badeanzüge ganz ab, es geht im Wasser verspielt und unterhaltsam zu wie in einem Hamam. Junge Frauen wie alte, sportliche wie gemütliche, sie alle erfreuen sich ihrer Körper und gehen pfleglich, bar jeder Konkurrenz miteinander um. In der Sauna wird sie gefragt, ob sie etwas gegen einen Aufguss habe. Kerstin verneint lächelnd und genießt die trockene Hitze bei reinigendem Schweiß.
Gegen Abend fährt sie wohlig ermattet zu ihrem Hotel im Hafenviertel auf der Halbinsel Katajanokka. Der Kasten ist ein ehemaliger Getreidespeicher, gekleidet in das typische Ziegelrot des Nordens, das sich bereits ab Bremen, Hamburg und Rostock findet. Die tragenden wuchtigen Säulen im Inneren hat man nach dem Umbau zum Hotel belassen, sie machen sich dekorativ und haben zudem eine stützende Funktion. Kerstin fragt die junge Frau an der Rezeption, wo sie ihr Fahrrad über Nacht am besten unterstellen könne. Die Frau mit ihrem zu einem dichten Ährenkranz gewundenen weißblonden Haar blickt sie aus wässrig blauen Augen an und entgegnet beiläufig, dass sie das Rad ohne weiteres vor dem Eingang abstellen könne – hier werde nie etwas gestohlen. Glückliches Helsinki, denkt Kerstin, als sie am nächsten Morgen auf dem Weg zum Frühstück die Aussage der Tresenblüte bestätigt findet. Ein Lob der Peripherie.
Der nächste Tag gilt einer Rennradausfahrt entlang der Küste Richtung Westen. Die mäßig befahrene S 51 wird von einem glatt asphaltierten Radweg gesäumt, den Kerstin über weite Strecken für sich allein hat. Das Weichbild einer Metropole bekommt das Tempo eines Dorfes. Unmerklich geht die Stadtlandschaft in dichten Nadelwald über, mit seinem Geruchsgemisch aus Dung, Harz, Holz und Salz. Kerstin verfährt sich im Gewirr aus Wegen, Seen, Lichtungen und Gehöften, doch das WLAN unter dem Gesang der Vögel gibt ihr die Orientierung zurück. Auf dem Rückweg besucht sie im Viertel Ullanlinna einen katholischen Gottesdienst in Sankt Henrik. Etwa 90 Prozent der Gottesdienstbesucher sehen philippinisch aus, inklusive der drei Priester, die flachsblonde Lektorin überragt die Zelebranten um Haupteslänge. Offenbar fungiert die Gemeinde als Infrastruktur einer Migrantengruppe. Kerstin versteht kein Wort des konsonantenarmen Sprechgesangs mit seinen vielen a, ä, i, l, u und y, aber dank des Gerüstes der katholischen Messe weiß sie, wo die Gemeinde sich gerade befindet. Die Spende der Kommunion stellt eine universell verständliche Sprache dar.
Kerstin findet ohne Umstände das Wort „liberal“, um die Stadt zu beschreiben. Sie kann sich als Frau allein bewegen, ohne sich bedrängt zu fühlen; die Menschen, die sie um Hilfe bittet, reagieren freundlich und pragmatisch. Sie führt das Entspannte der Stadt darauf zurück, dass Finnland niemals eine Monarchie war; auch darauf, dass sich Finnland im Winterkrieg 1939/40 gegenüber der Sowjetunion behauptete und anders als die baltischen Republiken seine staatliche Souveränität behielt. Seit der Unabhängigkeit 1917 bleibt Finnland auf seinem Kurs politischer Neutralität, bis heute ist es kein NATO-Mitglied. Spuren der Zeit unter der Schwedischen Krone finden sich an jedem Straßenschild, das auf Finnisch und Schwedisch beschriftet ist; Spuren der russischen Provinz zeigen sich am orthodoxen Kreuz auf dem Friedhof Lapinlahti und in der Uspenski-Kathedrale gegenüber dem Präsidentenpalast. Den heutigen regnerischen Tag will sie in einem Café im angesagten Viertel Kallio, auf einer Anhöhe nordöstlich des Bahnhofs, beginnen. Vielleicht sitzt ja die Schriftstellerin Sofi Oksanen am Nebentisch und twittert zu ihrem neuen Buch.