Indien wird gern als die größte Demokratie der Welt bezeichnet. Die frühere britische Kronkolonie, 1947 in die Unabhängigkeit entlassen, zählt derzeit 1,4 Milliarden Einwohner und ist damit vor China das bevölkerungsreichste Land der Welt. 968 Millionen Menschen sind derzeit aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen; die Wahl zieht sich wegen der großen Dimensionen des Subkontinents, des zum Teil unwegsamen Geländes und der nicht überall tauglichen Infrastruktur über sechs Wochen hin. Das aufstrebende Land mit seinen vielen verschiedenen Sprachen macht auch im Schach Furore, mit drei Männern und zwei Frauen ist es beim laufenden Kandidatenturnier in Toronto vertreten.
Der derzeitige indische Schachboom geht zurück auf den 1969 geborenen Viswanathan Anand. Der erste Schachgroßmeister Asiens betrat Ende der 1980er Jahre die Turniersäle der Welt und beeindruckte sofort mit seiner seltenen Begabung, seiner enormen Rechenfähigkeit und seinem so schnellen wie fehlerfreien Spiel. 1995 spielte er sein erstes Match um die Schach-WM gegen Garri Kasparow, den Titel holte er dann 2007 und behielt ihn bis zur Niederlage gegen Magnus Carlsen 2013. Derzeit ist der stets höflich und kultiviert auftretende Anand Vizepräsident des Weltschachverbands FIDE und zugleich eine populäre Identifikationsfigur in seinem Heimatland, vielen Kindern und Jugendlichen ist er erklärtes Vorbild. Nur das auf die Briten zurückgehende Cricket hat in Indien noch mehr Fans im Sport als das Spiel der Könige.
Mit tatkräftiger Förderung des Zentralstaates und seiner zahllosen Regionen hat sich ein Netz aus Schulen und Talentschmieden über das ganze Land ausgebreitet, wo bereits Fünfjährige die Regeln des Spieles erlernen und peu à peu in seine Feinheiten eingeführt werden. Im über weite Strecken nach wie vor armen Indien ist Schach ein niedrigschwellig zugängliches Spiel, zu Beginn braucht es lediglich einen Tisch, zwei Stühle, ein Brett aus Plastik und Figuren aus Kunststoff. Das Internet macht zudem Periodika, Datenbanken, Trainingsvideos und Kursmaterial praktisch überall verfügbar. Seit Beginn der 2000er Jahre gibt es im Land regelmäßige Wettbewerbe für Kinder und Jugendliche in verschiedenen Altersklassen. Zeigen diese dann ein besonderes Gefühl für das Spiel, die Bereitschaft zum Lernen und vor allem Freude daran, stehen ihnen renommierte Schulen landesweit anerkannter Trainer offen, wo sie nach dem regulären Unterricht im Schach betreut werden; so manche Eltern opfern dann ihre materielle Habe, um den Kindern und Jugendlichen die Teilnahme an Turnieren auch in entfernten Landesteilen zu ermöglichen.
Diese systematische Frühförderung des Schachs, die durchaus an jene der Sowjetunion während des Kalten Krieges erinnert, trägt nun Früchte. Indien hat derzeit 84 Großmeister und 23 Großmeisterinnen, in der Weltrangliste rangieren vier Männer und zwei Frauen unter den ersten 20 Plätzen. Und auch bei der alle zwei Jahre ausgetragenen Schacholympiade stellen sich die Erfolge der harten Arbeit ein: 2014 holte das indische Männerteam im norwegischen Tromso erstmals Bronze, bei der Schacholympiade im südindischen Chennai 2022 ging Bronze dann sowohl an die Männer als auch an die Frauen. Sagenhaft hier das Auftreten des indischen B-Teams, an dessen Spitzenbrett der erst 16 Jahre alte Dommaraju Gukesh acht Spiele in Folge für sich entscheiden konnte und in einer herzzerreißenden Partie gegen Usbekistan in ausgeglichener Stellung bei knapper Zeit durch einen Patzer verlor.
Dieser kurzerhand Gukesh genannte Spieler liegt nun in Toronto beim Kandidatenturnier zwei Runden vor Schluss in aussichtsreicher Position auf dem geteilten ersten Rang. Sollte er diese Auseinandersetzung um das Recht, den amtierenden Weltmeister Ding Liren aus China zu stellen, gewinnen, wäre er der jüngste Herausforderer in der Schachgeschichte – Garri Kasparow zählte bei seinem ersten Versuch, die Krone zu erobern, 21 Jahre. Dabei wirkt Gukesh mit seinem dichten Schopf, seinem Bart, den warmen braunen Augen, den geschmeidigen Bewegungen, dem kontrollierten Habitus und den schmal geschnitten Anzügen im Gespräch nicht wie ein Teenager, eher wie ein romantischer Held aus einem Bollywood-Film. Seine Eltern sind beide Mediziner, sie haben seine Karriere früh gefördert. Ebenso wie der gleichfalls in Toronto spielende Praggnanandhaa Rameshbabu und dessen Schwester Vaishali Rameshbabu war auch Gukesh bereits als Kind vielversprechend und bekam mit gerade 12 Jahren den Großmeister-Titel verliehen, bevor er die Schule verließ und sich vollends dem Schach verschrieb.
Lange Zeit hat er sich weitgehend ohne Computer an die Analyse und die Vorbereitung einer Partie begeben, was einen positionell klassischen Stil zum Ergebnis hatte. Es war Viswanathan Anand vorbehalten, ihn zu einem professionellen Eröffnungstraining anzuhalten, das ohne einen Computer heute nicht mehr zu bewältigen ist. Nun tritt Gukesh ausgezeichnet vorbereitet an und findet in den Haupt- und Nebenvarianten der traditionellen Eröffnungen wie dem Damengambit, der Spanischen Partie, dem Grünfeld-Inder oder der Sizilianischen Verteidigung überraschende Wendungen, die den Gegner am Brett in Bedrängnis bringen können – eine Sisyphusarbeit, ist eine Neuerung doch bereits im Moment ihrer Präsentation in einer Partie allseits bekannt und erheischt damit die permanente Suche nach weiteren. Gukesh ist ein glänzender Taktiker geworden, der mit beiden Farben auf Sieg spielen kann; lediglich im Schnellschach und in Zeitnot wirkt er noch nicht souverän.
Im Jahr 2020 gründete Viswanathan Anand gemeinsam mit einem Finanzinvestor in Chennai eine Schachakademie, mit dem Ziel, aus bereits sehr guten Jugendlichen potentielle Weltklassespieler zu formen. Erfahrene Großmeister lehren ihre Schüler die Finessen der Eröffnung, trainieren forcierte Varianten im Mittelspiel und üben die Prinzipien und Muster des Endspiels. Hier erhielten auch Gukesh und Praggnanandhaa ihren letzten Schliff auf dem Weg zum Topniveau. Weiter wäre Ramachandran Ramesh zu nennen. Der ehemalige britische und Commonwealth-Meister, der als Indiens Spitzenschachcoach gilt, etablierte bereits 2008 sein Trainingsinstitut und gibt auch private Lektionen, online wie am Brett. Sein Lehrbuch zum Training des konzentrierten Rechnens ist auf dem besten Wege, zu einem Standardwerk zu werden. Die Schulen Anands und Rameshs erinnern nicht von ungefähr an die legendäre Schachschule des ehemaligen sowjetischen Weltmeisters Mikhail Botwinnik, aus der die späteren Champions Anatoli Karpow, Garri Kasparow und Wladimir Kramnik hervorgingen. Die Eleven ihrer Institute wirken ausgelassen und ernsthaft zugleich, in ihren uniformen Jacketts in gedeckten Farben kommen sie wie Zöglinge eines britischen Elite-Internats daher.
Indien ist derzeit hinter den USA, China und Deutschland die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das Land verfügt über Atomwaffen und hat darüber hinaus ehrgeizige Ziele in der Raumfahrt. Seine Softwareingenieure sind weltweit anerkannt, derzeit werden die US-Konzerne Alphabet und Microsoft von indischstämmigen Managern geleitet. Das Auftreten des Landes im Schach, das ja in seiner Frühform aus dem Indien des 5. Jahrhunderts stammt, steht für den selbstbewussten Repräsentationsanspruch einer globalen Führungsmacht. Sollte sich Gukesh tatsächlich für den nächsten WM-Kampf qualifizieren können, stünden die Chancen gut, dass nach Chennai 2013 zum zweiten Mal eine indische Metropole das Match organisiert. Die Hegemonie Russlands auf den 64 Feldern ist gebrochen, die neuen dominanten Mächte im 21. Jahrhundert sind China und Indien.