Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme. – Jean Jaurès
Es ist kein Zufall, dass die Sakramente der katholischen Firmung, der evangelischen Konfirmation und der jüdischen Bar Mitzwa in der Jugend gespendet werden, in jener Lebensphase, die per se als Übergang vom geschlechtslosen Idyll der Kindheit in die brutale Geschlechterwelt der Erwachsenen zu sehen ist. Selbst die bewusst atheistische Jugendweihe der sozialistischen DDR, die im gleichen Alter zwischen 13 und 15 Jahren gefeiert wurde, kommt nicht ohne einen sakralen Begriff für diese Reifephase aus. Die Schwellenriten dienen neben ihrer religiösen Konnotation der Vorbereitung auf das Erwachsensein mit seinen Verpflichtungen, sie versenken zugleich die Kindheit im Ozean der Erinnerung. Die bei diesen Anlässen getragene förmlich-festliche Kleidung sorgt für eine sichtbare Einübung der Heranwachsenden ins Geschlecht, das sie aufnehmen und bestimmen wird – die Jungen wirken ungelenk in Anzug, Hemd und Krawatte, die Mädchen erfreuen sich des Anlegens schmückender Stoffe, die mitunter wie Geschenkverpackungen daherkommen.
Voller Hilflosigkeit sah Sascha, wie sich die gleichaltrigen Mädchen in der Klasse und in der Nachbarschaft, mit denen er jahrelang Verstecken gespielt hatte, veränderten. Unter ihren Pullovern wurden erste Hügelchen sichtbar, das Brustwachstum setzte ein, die Träger des ersten BH zeichneten sich unter dem Textil ab. Das Becken wurde breiter, der Po wurde apfelig, die Leibesmitte durch die Taille markiert. Die Gesichter wurden rund und lieblich, wie von Raffael gemalt. Von ihnen ging ein süßlicher Geruch aus, als stünde man in einem Gewächshaus oder näherte sich der Insel Korsika, die Napoleon der Sage nach an ihrem Duft mit geschlossenen Augen hatte erkennen können. Sie lasen nicht nur die geschlechtsneutrale „Bravo“, sondern auch die exklusive „Mädchen“, deren Untertitel „Es ist aufregend, eine Frau zu werden!“ Sascha auch Jahrzehnte später deprimiert, ist es doch genau dieser Prozess einer Debütantin, der ihm fehlt.
Die erste Menstruation, Binden oder Tampons, das Runden der Formen, das Schielen auf den wachsenden Busen der Freundin, gemeinsame Toilettengänge, unbeholfene Schminkversuche, der Termin beim Gynäkologen, Pille, Spirale, Kondom, Aufpassen, rasendes Gekicher der Backfische – all das vollzieht sich kollektiv und gruppenbildend. Das reifende Mädchen sieht sich gespiegelt in seinen Freundinnen, als Ziel steht neben der angehimmelten Sängerin und der vergötterten Schauspielerin die eigene Mutter, vielleicht die ältere Schwester. Der Ton wird einerseits verspielt, andererseits rauer. Der Sport findet von nun an getrennt zwischen Jungen und Mädchen statt. An die Stelle der freien Kindheit tritt das abgetrennte Revier der Mädchen, die sich der Fülle ihrer Reize gar nicht bewusst sind, und das Feld der Jungen, die sich von der Kette gelassen fühlen, ohne zu wissen, wie sie jagen sollen.
Sascha hielt diese schmerzenden Jahre für einen Riesenirrtum. Abends lag er im Bett und schickte Stoßgebete zum lieben Gott, ihn doch bitte morgen als Mädchen aufwachen zu lassen. Kein Zufall, dass er in diesen Jahren der „Verlorenen Zeit“ von Marcel Proust verfiel, ein Roman, der auch 40 Jahre später im Regal steht und immer wieder zum Lesen hervorgeholt wird. Die parfümierte Welt des französischen Hochadels um die Wende zum 20. Jahrhundert gab die perfekte Kulisse für Träumereien und Schwärmereien aller Art ab. Instinktiv sagte sich Sascha, dass ein solch feinsinniger Roman nur von einer Frau habe übersetzt werden können. Als Sascha dann später von des Autors Homosexualität erfuhr, passte diese nur zu genau ins Bild. Den impliziten Riten maskuliner Initiation entzog sich Sascha unbewusst: Er trank keinen Alkohol, fuhr kein Mofa, unternahm keine riskanten Aktivitäten, um zu imponieren. Für andere Jungen wurde er zur willfährigen Zielscheibe ihrer Aggressivität, weil er sich nicht wehrte, wenn er geschlagen wurde, sondern ungläubig anfing zu weinen, als liefe unterhalb des maskulinen Skriptes ein feminines, das sein Verhalten steuerte.
Sascha beneidete die jüngere Schwester, die von einer Großtante ein weißes Kleid zur Erstkommunion genäht bekam. Wie gern hätte er das Dirndl getragen, in dem sie ihren ersten Schultag beging. Während der Grundschule übte Saschas Klasse ein Theaterstück ein, das schließlich vor den Eltern der Schulkinder zur Aufführung kam. Am nächsten Morgen sagte eine Mitschülerin, ihr Vater habe sie nach dem Stück gefragt, welches Mädchen denn den Herodes gespielt habe. Sascha war es, offenbar hatten sein Aussehen, seine Bewegungen und sein Sprechen eine weibliche Wirkung, die sich vor der Pubertät noch straflos zeigen durfte. Als er aus den Kleidern seiner Schwester, die er heimlich anlegte, wenn er in der Wohnung allein war, herausgewachsen war, tastete er sich zu den Kleidern seiner Mutter vor, in der Ahnung, dass diese stoffliche Aneignung der weiblichen Welt vorerst heimlich geschehen müsse. Auf dem Kalender in der Küche trug seine Schwester ein, wann sie ihre Tage bekam; diese Dokumentation der Regel der anderen empfand Sascha als beschämend.
Sascha war entsetzt von dem, was gemäß des genetischen Codes mit seinem Körper geschah. Das Längenwachstum war beträchtlich, Hände und Füße erfuhren einen speziellen Kräftigungsschub, die Muskeln an den Armen und Beinen wurden definiert durch das Testosteron. Die erste nächtliche Pollution blieb Sascha als krampfhaft in Erinnerung, es schien, als sei ein wildes Tier in seinem Innern erwacht. Zu den Pubertätsriten seiner Klassenkameraden fand er keinen Zugang. Ungläubig hörte er der Schilderung eines Mitschülers zu, der sich offenbar gern und oft und lustvoll am Schwanz rieb und den dergestalt herbeigeführten Orgasmus genoss, durchaus auch auf der Toilette zwischen zwei Schulstunden. Als er einmal gemeinsam mit einem Schulkameraden den legendären, Marcel Proust nachempfundenen Fragebogen der FAZ ausfüllte und auf die Frage, wer oder was er denn hätte sein mögen, „Eine Frau“ antwortete, führte dieses zögerliche Bekenntnis zu keiner Aussprache.
Intuitiv mied er alle Zusammenhänge, die ihn als werdenden Mann gefordert hätten. Er trieb keinen Sport, sondern spielte Schach und vergrub sich in seine Bücher. Er nahm an keinem Tanzkurs teil und ging nicht in Diskotheken. Während aus den Gören seiner Kindheit im Handumdrehen bildschöne junge Frauen mit zahllosen Kavalieren geworden waren, von allen begehrt, in chicen Kleidern und in voller Blüte, fragte Sascha sich, was er denn verbrochen habe, um in die falsche Gruppe einsortiert zu werden. Die Stimme sank nach anfänglichem Hin und Her zwischen den Oktaven auf das maskuline Brummen hinab, die Engelhöhen blieben den Mädchen vorbehalten. Ein Bart wuchs ihm kaum, lediglich auf den Unterarmen zeigte sich ein heller Flaum. Dafür war sein Gesicht von einer flächendeckenden Akne entstellt, „Streuselkuchen“ war noch eines der gemäßigten Schimpfworte.
Bei der Initiation (aus dem Lateinischen initiare = einweihen; auch die Initiative geht auf diesen Wortstamm zurück) geht es um das Übernehmen einer Rolle, die vorher bereits andere ausgefüllt haben, durch diejenigen, deren Zeit gekommen ist. Und an die Stelle des Initianden werden dereinst Andere treten, wenn dessen Ende nahe ist. Eine Initiation ist die Aufnahme und die Fortführung einer Tradition, zu der Sascha qua Trans nicht imstande ist. Sie hat keine Familie, keine Kinder, keine Partnerschaft, sie lebt ihr Leben im Verborgenen, so uninteressant, dass es nicht einmal Gegenstand des Tratsches wäre. In der Pubertät wird das Geschlecht zu einer Kategorie der Selbstvergewisserung, der Identität mit einem Kollektiv wie auch zu einer Kategorie der Unterscheidung zu einem anderen Kollektiv. Ein Geschlecht ist und hat man in Gesellschaft nie für sich allein. Es bleibt für Sascha die Trauer um die nicht gekannte Mädchenblüte.
Als Sascha Mitte der 1980er Jahre den Kriegsdienst mit der Waffe verweigerte, geschah das offiziell aus Gewissensgründen, die in einem fundamentalen Pazifismus wurzelten. Das war durchaus ernst gemeint, aber ebenso wichtig war es für Sascha, die drohende Aufnahme in die Männerwelt des Militärs unter allen Umständen zu verhindern. Einzelne Männer fand und findet Sascha witzig, unterhaltsam, attraktiv, aber die Dynamik einer rein männlichen Gruppe, die keine Individuen mehr kennt und nur noch Uniformen, macht ihr verlässlich Angst. Nach der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer arbeitete Sascha auf der Pflegestation eines Altenheimes, eine bis heute entschieden weiblich konnotierte Tätigkeit der Sorge und des Kümmerns.
Sascha erlebte ihr Coming-out als Transfrau mit 24 Jahren und die sich anschließende Hormonbehandlung als nachholende Pubertät. In der Tat veränderte sich ihr Körper in Maßen, allerdings blieb das Gefühl der Einsamkeit bestehen. Sie manipulierte ihren Körper pharmakologisch und chirurgisch auf eine Weise, die nach Erklärungen verlangte und sich im klinischen Rahmen der Medizin und ihrer Zugangshürden abspielte. Nicht nur kam diese Manipulation des eigenen Leibes viel zu spät, um die Verwüstungen des Testosteron aufzuheben, sie manifestierten nur überdeutlich, dass das Trauma ihrer ersten Jugend bestehen bliebe. Die Begegnungen mit ihren Transschwestern und -brüdern in den Selbsthilfegruppen und auf Tagungen waren stets ein kurzer Urlaub aus der Welt, wo sie als Transfrau keinen Platz haben sollte, egal ob vor oder nach der Transition.
Am Beginn des letzten Lebensdrittels geht Sascha so weit zu sagen, dass sie es nie gelernt habe, eine Frau zu werden, eine zu sein. Und ohne ein rituelles Hineingeführtwerden in die Welt der Frauen bleibt sie dort bestenfalls Zaungast. Die Östrogene haben den Leib ansprechend verändert, ihre Haut ist immer noch seidig und glatt, die Knospen auf der Brust füllen nicht einmal Größe A, der Leib ist mit Ausnahme des Kopfes nur oberhalb der Scham behaart. Der Geruch der Kleidung ist nach wie weiblich und noch nicht alt. Mit der chirurgisch zugerichteten Neovagina geht Sascha ins Schwimmbad und in die dortige Dusche, gelegentlich auch in die Sauna. Sascha vermisst den Schwanz nicht, die Vulva passt sich wunderbar der Jeans an mit der charakteristischen Spalte. Dass Sascha sich nun schon öfter eine Blasenentzündung eingefangen habe, sei mit der kurzen Harnröhre der Frauen zu erklären, durch die Bakterien schneller den Weg in die Blase fänden, wie es ein Arzt in der Klinik einmal lapidar beschrieb. Das Präparat, das er zur Therapie verordnete, wendete sich an „Frauen ab 12 Jahre“.
„Die Initiation ist die Zeit der Selbstwerdung des Individuums durch Bewußtwerdung seiner Identität.“ So hält es das „Lexikon der Religionen“ fest. Die oft in der Pubertät anzutreffende Unsicherheit der Jugendlichen ist ein Zeichen für die Prüfungssituation, wo sie sich fragen, ob sie den an sie gerichteten Anforderungen wohl gerecht werden können. So gesehen, hat Sascha alle Erwartungen enttäuscht. Sie hat vor über 30 Jahren ihren Vornamen gerichtlich geändert, den Familiennamen nolens volens behalten. Diesen zu ändern, müsste sie heiraten, was auch zu einer Änderung ihrer Steuerklasse I führte. Doch ist das nicht mehr zu erwarten, an die Stelle des Mauerblümchens aus der Jugend ist jenseits der Lebensmitte die alte Jungfer getreten. Als dieser steht Sascha noch die letzte Passage ins Alter und in die Überflüssigkeit bevor.
Die Medizin ist in der Pathologie, also in der Systematik und der Differenzierung der Erkrankungen, sehr gut, dort schreitet das Wissen im Einklang mit der Technik voran. Allerdings heißt das nicht, dass die Medizin jedes Leid zu lindern oder gar zu heilen imstande wäre. Auch die Medizin endet manchmal wie die Religion in der Kontemplation, wenn sie Verletzungen und Wunden einfach nur dokumentieren kann. Über die Ursachen einer Transidentität vermag die Medizin keine Auskunft zu geben, diskutiert wird ein Zusammenspiel genetischer und sozialer Faktoren. Die plastische Chirurgie kann helfen, aus einer unpassenden genitalen Erstausstattung eine funktionierende Vagina zu machen – zur Frau wird deren Trägerin dadurch nicht. Dieses Wissen ist der Fels, den Sascha jeden Tag auf den Berg wuchtet, von dessen Gipfel er unablässig wieder ins Tal rollt. Auf ein Neues. In der Wiederholung liegt das Vergessen.