Interieur

  The Sound of Silence – Simon & Garfunkel

Die chronisch werdende Pandemie wirft die Menschen ungewollt auf ihre Wohnung zurück. Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus sehen europaweit Ausgangssperren, Mobilitätsverbote und Kontaktbeschränkungen vor. Die eigene Wohnung darf nur noch in begründeten Ausnahmefällen verlassen werden, bei Zuwiderhandlung drohen ruinöse Geldstrafen, so die Kommandos der Regierungen international. Auf sich allein gestellt, werden Küche, Bad, Schlaf- und Wohnzimmer zur geschrumpften Wirklichkeit vieler Menschen. In der Malerei findet die kaum beachtete Gattung des Interieurs dieser Tage eine ungeahnte Aufmerksamkeit.

Das Interieur (aus dem französischen intérieur, dieses aus dem lateinischen interior mit der Wurzel inter) bedeutet wörtlich Innenausstattung. In der Geschichte der Malerei wird damit eine Bildgattung bezeichnet, die das Leben in umschlossenen Räumen abbildet. Die Kunsttheorie der Renaissance kennt die Historienmalerei, die Landschaft und das Portrait, später erst kommen das Stillleben und das Genre als akademisch akzeptierte Gattungen hinzu. Das Interieur liegt quer zu diesen genannten fünf Gattungen, ohne als eigenständig anerkannt zu sein. Es gelangte im 17. Jahrhundert in den Niederlanden zu seiner Blüte, wobei die Grenze zum Genre, also zu Alltagsszenen, nicht immer klar zu ziehen ist. In der gegenwärtigen Zwangsisolierung ganzer Gesellschaften durch die Corona-Politik sind Vilhelm Hammershøi und Pieter Saenredam die Maler der Stunde.

Der Däne Vilhelm Hammershøi (1864 – 1916) ist bekannt geworden mit Gemälden, die in seiner weitläufigen Kopenhagener Wohnung im Stadtteil Christianshavn entstanden sind und eben jene Zimmerflucht zum eigentlichen Thema haben. Die Räume, die der akademisch ausgebildete Maler darstellt, sind seltsam unmöbliert, der Blick richtet sich bevorzugt auf Fenster und Türen. Insignien bürgerlicher Behaglichkeit wie Teppiche, gedeckte Tafeln, polierte Kommoden oder gestärkte Tischwäsche kommen nur angeschnitten ins Bild, die Wände der Wohnung bleiben klösterlich leer. Einzelne Frauenfiguren, meist von hinten oder von der Seite präsentiert, haben den Charakter unbelebter Statuen. Hammershøi gelingt es, die Stille, die in den Zimmern lastet, mit visuellen Mitteln zum Klingen zu bringen. Hier lässt sich von einer Poesie der Töne sprechen.

Der Blick des Malers geht durch geöffnete Türen in die Tiefe der Wohnung, Lichteinfall durch Fenster am anderen Ende lässt die Schatten dem Betrachter entgegenwachsen. Dabei kommt eine farblich verknappte Palette zum Einsatz, die an die mittelalterliche Grisaille-Technik mit ihren Weiß-, Grau-, Blau- und Schwarztönen und der realistischen Modellierung von Licht und Schatten erinnert. Die Interieurs Hammershøis mit ihren abgezogenen Dielenböden haben eine hypnotische wie gespenstische Wirkung, die Portraits seiner eigenen Wohnung addieren sich nicht zu einem eindeutigen Grundriss, trotz der zahlreich gewechselten Perspektiven über den Hof, ins Treppenhaus, auf die andere Straßenseite oder ins Atelier. Offen stehende Fenster und Türen lenken den Blick über das Dargestellte hinaus, verweisen auf eine religiöse Dimension hinter der Architektur.

Der Niederländer Pieter Saenredam (1597 – 1665) variiert das Oberthema des Interieurs in Richtung Architekturstudien. Seinen Gemälden gehen detaillierte Vorzeichnungen und exakte Berechnungen der Proportionen voraus, sein bevorzugtes Sujet ist die Kirche. Allerdings sind die Gotteshäuser meist menschenleer, ihre Konstruktion ist das eigentliche Thema. Wenn einmal einzelne Staffagefiguren ins Bild geraten, dienen sie offenkundig der Maßstäblichkeit. Saenredam fängt die schwere Stille der Kirchen in Utrecht, Alkmaar, Assendelft und Den Haag meisterlich ein; er zielt nicht auf ein Panorama der Bauten, sondern gibt Einblicke, die durch geöffnete Flügeltüren, Säulenreihen und Chorumgänge in die Tiefe geführt werden. Auch hier ist die Farbauswahl begrenzt, neben den Rahmenfarben Schwarz und Weiß bringt der Maler Ocker-, Sand-, Gold- und Röteltöne auf die Leinwand.

Es ist charakteristisch für die protestantischen Kirchen nicht nur der Niederlande, dass sie von Schmuck und Zierrat weitgehend bereinigt sind. Saenredam lässt den Blick der Betrachterin über die blanken Wände nach oben gehen; Kreuzbögen, Säulenkapitelle und Bodenplatten sind reliefgenau gezeichnet und ausgemalt; die eher kleinen Formate der Gemälde vermitteln Weite und Größe. Nichts lenkt vom Gottesdienst ab, um dessen willen die Kirchen wie menschengemachte Felsen errichtet sind. Von den sakralen Portraits geht eine zeitlose Ruhe aus, die man zur heißen Mittagsstunde in einer fremden Stadt zu schätzen weiß. Bei aller realistischen Darstellung im Detail schafft Saenredam mit seinen Kircheninterieurs auch ein Geheimnis, das mit Worten nicht zu lösen ist – das Schweigen der Steine öffnet die Ohren für jene, die zum Hören kommen.

Die seelische Verwandtschaft Hammershøis und Saenredams ist über die drei Jahrhunderte, die zwischen beider Leben liegen, spürbar. Ihren Interieurs der Kontemplation wohnt ein paradiesischer Friede inne, noch bevor der Mensch in seinem Übermut die Bahnen des Schicksals verlässt. Der Niederländer nimmt das halböffentliche Innere einer Kirche in den Blick, der Däne stellt seine eigene Wohnung aus – und trotzdem entbehren die Gemälde beider Künstler des Voyeurismus, sie offenbaren keine Intimitäten, sondern zeigen Typologien der Strenge, der Arbeit und der Rationalität, überindividuell und nüchtern. Für sein Zugeständnis ans Private eines bürgerlichen Idylls nimmt Hammershøi motivisch Maß am Goldenen Zeitalter der niederländischen Malerei. Wenn er eine einen Brief lesende Frau darstellt, zitiert er indirekt Jan Vermeer van Delft, einen Zeitgenossen Saenredams.

Vilhelm Hammershøi und Pieter Saenredam gelingt es, über ihre eigene Lebensspanne hinaus den einen kostbaren Moment auf die Leinwand zu bringen. Ihre Aufnahmen entseelter Räume inmitten der geschäftigen Stadt verweisen auf das Glück der Einsamkeit, für das man allerdings empfänglich sein muss. Schon lange vor dem irrwitzigen Corona-Regime des 21. Jahrhunderts wusste die Malerei vom Zauber des Raumes jenseits des Menschen. Die Introvertierten und Einzelgänger müssen ihren Alltag im Zeichen des Virus nicht groß ändern, um gesetzeskonform zu leben, sie sind sich selbst ausreichend Gesellschaft. Der vorsichtige Blick Hammershøis und Saenredams in die Stille hinein ist eine Prüfung, keine Frage. Die Magie ihres umbauten Raumes, ohne Router, Kamera, Monitor und Sensor, wirft den Menschen auf sich selbst zurück, wie ein Aufenthalt im Kloster. Wer die Antworten außerhalb seiner selbst sucht, dem ist wahrlich nicht mehr zu helfen.