Ich glaube nicht an Psychologie. Ich glaube an gute Züge. – Bobby Fischer
Es ist ein in der Geschichte des Schachs ungekannter Vorgang. Das Kandidatenturnier in der russischen Stadt Jekaterinburg zur Ermittlung des nächsten Herausforderers des Weltmeisters Magnus Carlsen wurde Ende März 2020 nach sieben von insgesamt vierzehn zu absolvierenden Runden abgebrochen. Russland hatte im Zuge der Corona-Pandemie seinen Luftraum geschlossen, sodass der ausrichtende Weltschachverband FIDE sich zu einer Unterbrechung des Turniers genötigt sah. Nach mehreren vergeblichen Anläufen soll das Turnier mit seinen acht Teilnehmern in der zweiten Hälfte des April 2021 wieder aufgenommen werden.
Das Kandidatenturnier ist einer der prestigeträchtigsten Anlässe im internationalen Schachzirkus, geht es doch um nichts Geringeres als das Recht, den amtierenden Champion zu einem Duell um die Schachkrone zu fordern. Seit seiner Etablierung 1950 zählt das Kandidatenturnier zu den Marksteinen der Schachgeschichte, mit legendären Partien, großartigem Schach, menschlichen Dramen, knisternder Spannung und einem würdigen Sieger. Dass allerdings ein Turnier nach seiner ersten Hälfte ein ganzes Jahr aufgrund höherer Gewalt pausieren muss, ist ein absolutes Novum. Der erste WM-Kampf zwischen Anatoli Karpow und Garri Kasparow 1984/85 in Moskau wurde nach 48 Partien beim Stand von 5:3 für den Weltmeister im Februar 1985 ergebnislos abgebrochen; das zweite Match zwischen den beiden K begann im September 1985 beim Stand von 0:0 ebenfalls in Moskau.
Der erste Umgang des Kandidatenturniers in Jekaterinburg im März 2020 verlief so gar nicht nach den Prognosen der Experten. Die vorab ausgemachten Favoriten, Fabiano Caruana aus den USA und Ding Liren aus China, spielten zwar eine spektakuläre Partie gegeneinander nach einer aggressiven Neuerung im Slawischen Damengambit, liegen aber nach sieben Runden mit jeweils 3,5 Zählern nur im Mittelfeld. An der Spitze rangieren der Russe Jan Nepomniachtchi, der im Dezember 2020 zum zweiten Mal die Russische Landesmeisterschaft für sich entschied, und der Franzose Maxime Vachier-Lagrave, der bei diversen Online-Turnieren der vergangenen Monate einen ausgelaugten Eindruck hinterließ, mit jeweils 4,5 aus 7 Punkten. Alexander Grischuk aus Russland, der zum vierten Mal an einem Kandidatenturnier teilnimmt, hat alle sieben Partien remisiert und wirkt etwas lustlos.
Man muss angesichts der langen Zwangspause von einem zweiten Turnier sprechen, das Mitte April in Jekaterinburg (benannt nach der Zarin Katharina I., zu Sowjetzeiten Swerdlowsk) beginnt und dessen Ergebnis zum Resultat des ersten vom März 2020 addiert wird. Es ist schwer zu sagen, wie die Profis es verdaut haben, in den vergangenen zwölf Monaten fast keine ernste Partie gespielt haben zu können. Es gibt zwar die bemerkenswerte Serie an Online-Turnieren, angestoßen und gesponsert von der Firma des Weltmeisters Magnus Carlsen, die aber lediglich Schnellschach bietet und keine schweren Partien über Stunden im Angesicht des Gegners. Ob diese lange Zeit des Trainings ohne richtigen Wettkampf eher für ein hungriges Herz, einen schlaffen Geist oder aber schwache Nerven sorgt, wird sich nach Ostern zeigen. Man kann nicht pausenlos Vokabeln, unregelmäßige Verben und Grammatik pauken, die Sprache will im Land gesprochen werden.
Die globale Zwangsisolation hat einen beispiellosen Boom rund um das ehrwürdige Schachspiel hervorgebracht. So avanciert die Geschichte um die fiktive Weltklassespielerin Beth Harmon in der Serie „The Queen’s Gambit“ zum Riesenerfolg auf Netflix; Schachhändler verkaufen Bücher, DVD, Bretter, Uhren und Figuren en masse; Plattformen zum Online-Spiel haben einen enormen Zulauf; Großmeister spielen digital gegen Kiebitze und geben Taktiktipps; notgedrungen geschlossene Vereine verlegen ihr Training und ihre Patzer kurzerhand ins Netz. So wohltuend diese Kompensation auch ist, sie verhält sich zum vermissten Spiel am Brett wie eine Skizze zum Portrait in Öl. Auch wenn man gegen die Figuren und nicht den Menschen dahinter spielt, fehlt der direkte Kontakt am Tisch; die Figuren wollen in die Hand genommen werden, der Gegner soll seine Verzweiflung über eine verlorene Stellung ruhig zeigen. Die sinnliche Dimension des Schachs fehlt im Stillstand.
Jekaterinburg, die viertgrößte Stadt Russlands und am Osthang des Urals an der Grenze zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil der Föderation gelegen, wird die zweite Hälfte des Kandidatenturniers unter strengen Hygienemaßnahmen durchführen. Noch wurde keine Impfpflicht für die acht Kombattanten kolportiert; dass sie mit ihrem Tross im lokalen Hyatt Regency Hotel rigoros abgeschottet und regelmäßig auf das Virus getestet werden, darf vorausgesetzt werden. Alexander Grischuk beschwerte sich im März 2020 darüber, unter den Bedingungen der Unsicherheit professionell Schach spielen zu müssen; ein Jahr später liegen die Verhältnisse klarer, ohne dass flächendeckend Immunität oder Heilung in Sicht wären. Voller Begeisterung denken die Schachfans an das russische Superfinal im Dezember 2020 oder an das Traditionsturnier im niederländischen Wijk aan Zee im Januar 2021, als frei atmende Menschen in einem hübsch dekorierten Spielsaal mit hölzernen Brettern saßen und Schach spielten, getrennt durch eine Plexiglasscheibe mit einem Durchlass zum Ziehen der Figuren. Publikum vor Ort war indes nicht zugelassen, die digitale Übertragung funktionierte reibungslos mit Kommentaren in mehreren Sprachen.
Ein Jahr im heutigen Schach mit der Unterstützung der Analyse durch leistungsstarke Software ist eine lange Zeit. Und während die Suche nach dem nächsten Herausforderer für ein Jahr eingefroren ist, läuft die Zeit für die jungen Spieler mit ihrem Zug zum Höheren weiter. Die Großmeister, die gegenwärtig in Jekaterinburg um das Recht kämpfen, den Weltmeister herauszufordern, sind diesem aus etlichen Turnieren bekannt, sie entstammen mehrheitlich seiner Generation der 30-jährigen. Die jungen Wilden, die mit taktisch exaktem Schach ohne Angst und für die Eröffnung bestens präpariert am Brett sitzen, sind in Jekaterinburg gar nicht vertreten. Der aus dem Iran emigrierte Alireza Firouzja, die unorthodoxen Russen Daniil Dubov und Andrey Esipenko sowie der entfesselnd auftrumpfende Niederländer Jorden van Foreest vertreten die Generation Z, die an des Champions Thron rütteln. Ihre Turniererfolge und ihre Platzierungen in der Weltrangliste während der letzten zwei Jahre werfen die Frage auf, ob im laufenden Kandidatenturnier wirklich die stärksten potentiellen Nachfolger des Regenten spielen.
Die FIDE geht davon aus, dass die zweite Hälfte des Kandidatenturniers in Jekaterinburg (Hauptsponsor ist der russische Düngemittelkonzern Phosagro) auf ein gewaltiges Interesse der Medien und der Zuschauer online stoßen wird – keine gewagte Vorhersage beim Blick auf den weiterhin schütteren Kalender 2021 im Turnierschach im Besonderen und im Sport in Allgemeinen. Ob und wie die verschobenen Olympischen Spiele dieses Jahr in Tokio stattfinden können, vermag niemand zu sagen; die für 2020 abgesagte Schacholympiade in Moskau ist gleich auf 2022 terminiert worden. Der Einsatz auf der Bühne in Jekaterinburg ist hoch: Der Gewinner des Kandidatenturniers spielt planmäßig ab Ende November 2021 im Rahmen der Expo Dubai gegen den Norweger Magnus Carlsen um die Weltmeisterschaft. Allein diese Perspektive ist geeignet, den vereinsamten Menschen in aller Welt an ihren Monitoren ein wenig Hoffnung auf die Wiederkehr einer Prä-Covid-Normalität zu geben. Sie muss ja nicht gleich mit einem Flug an den Golf oder nach Sibirien verbunden sein.