Kaiserdamm

Der Kontrast zum Alltag könnte nicht größer sein. Der Kaiserdamm, eine der wichtigen Ost/West-Verbindungen der Hauptstadt, ist auf einer Länge von 500 Metern für den Autoverkehr gesperrt. Lediglich Anlieger dürfen die sonst chronisch verstopfte Magistrale befahren. Wo sich ansonsten die motorisierte Gewalt in ihren schlimmsten Ausmaßen Bahn bricht, liegt der Autoverkehr nun für mindestens ein halbes Jahr brach.

Diese Vollsperrung des Kaiserdamms geht nicht auf die Aktivitäten der „Letzten Generation“ zurück, sondern auf eine Anordnung des Bezirksamtes Charlottenburg-Wilmersdorf. Ende April war die stark gerillte Fahrbahn auf Höhe des Sophie-Charlotte-Platzes teilweise abgesackt, fälschlicherweise nahm man zunächst einen Wasserrohrbruch als Ursache an. Tatsächlich ist der unter dem Kaiserdamm verlaufende Kanal, ein Relikt noch aus der Zeit Wilhelms II., beschädigt und muss nun aufwändig restauriert werden. Die städtischen Wasserbetriebe teilten nach einer eingehenden Analyse mit, dass die sogenannten Düker, Unterführungen für unterirdisch verlaufende Abwasser- und Trinkwasserleitungen, ausgebessert werden müssen. Die anstehenden Tiefbauarbeiten bringen es mit sich, dass der Autoverkehr für ihre Dauer gestoppt werden muss. Welch ein Segen.

Die Anwohner des Kaiserdamms und seiner Seitenstraßen zwischen Lietzensee und Schloss reagieren mehrheitlich begeistert über die Vollsperrung der einstigen Prachtchaussee mit ihren acht Spuren für den stockenden und drei Spuren für den ruhenden Autoverkehr. Sie stehen tief atmend auf der leeren Fahrbahn und blicken leicht abschüssig Richtung Ernst-Reuter-Platz und weiter zur Siegessäule im grünen Tiergarten. Wo ansonsten eine sich immer wieder neu formierende Mauer aus Glas, Chrom, Stahl und Pneus steht, herrscht nun eine ungewohnte Ruhe für das lärmgeplagte Quartier. Kein LKW-Gedonner, kein Reifenkreischen beim Kavalierstart, kein Feinstaub, kein Dieseldreck, kein Auspuffgeheul, keine schmerzende Vibration des endlosen Lindwurms aus Blech. Eine überfällige Therapie für den angeschlagenen Organismus der Großstadt.

Plötzlich wirkt die Zeit um mehr als 100 Jahre zurückgedreht, als gelegentlich ein Auto auf dem Asphalt gesteuert wurde. Die sepiagetönten Fotos aus der Zeit vor dem I. Weltkrieg zeigen Kutschen, eine Straßenbahn, Busse, Fahrräder und vor allem Fußgänger auf der Straße, diese diagonal schneidend und dabei präsentabel schreitend, nicht wie heute während der sekundenkurzen Grünphase der Ampel über das graue Band hetzend, aus Angst, von einem durchdrehenden Auto erfasst zu werden. Seinerzeit, als die Straßen noch den Menschen gehörten, flanierten diese durch den öffentlichen Raum, seit dem Siegeszug der autogerechten Stadt ab den 1960er Jahren finden sie sich vom ungestillten Flächenfraß der privaten PKW an den Rand der Häuser abgedrängt.

Was den klebenden Kommandos der „Letzten Generation“ mit ihren Blockaden der Autobahnen im Reichshauptslum nicht gelingt, wird durch die Verkrampfung der Gedärme der Unterwelt Realität in Charlottenburg: Der mörderische Autoverkehr, mit dem sich Stadt und Bewohner mit schwer verständlicher Langmut arrangiert haben, wird für mindestens ein halbes Jahr verbannt. Um die Düker wieder in Stand setzen zu können, müssen die unterirdischen Wasserleitungen vorübergehend über Tage geführt werden. Wenn es soweit ist, werden die Tiefbaufachleute die in der Erde noch unterhalb der U-Bahn-Schächte verlaufenden Rohre überprüfen und gegebenenfalls stückweise austauschen. Die Vollsperrung der Magistrale hat unter anderem zur Konsequenz, dass andere Bauvorhaben in der Nachbarschaft zunächst zurückgestellt werden müssen.

Aus den fahlen Gesichtern der Anwohner schwindet der Ausdruck von Müdigkeit und Gehetztheit, wie er zwangsläufig in Gesellschaft von Autos entsteht. Die Menschen fühlen sich beschenkt durch die Ruhe, den Platz und die gute Luft, die um sich greifen, kaum dass die Blechkisten verschwunden sind. Wer jetzt den Kaiserdamm entlang schlendert, kann sich mit seiner Begleitung unterhalten, ohne schreien zu müssen. Auf der Wiese am Lietzensee sitzen ganze Familien beim Picknick, ohne vom Dauerrauschen der Zylinder angegangen zu werden. Kinder hocken vorne im Babboe oder hinten im Chariot, ohne von giftigen Abgasen eingenebelt zu werden. Rentner queren die Magistrale, ohne ihre Hunde an der Leine vor Nervosität zu strangulieren. Welche Wohltat. Dem Kiez steht ein grüner Sommer ins Haus.

Wie sehr das Auto die Stadt von heute in seinen Klauen hält, wird erst in der Unterbrechung seiner Dominanz deutlich. Im Bezirk Mitte ist ein Kulturkampf um die Stilllegung der Friedrichstraße über eine Länge von 600 Metern entbrannt. Während dieses Relikt der Vorgängerregierung sicher bald vom neuen Senat kassiert werden wird, dürfen sich die Charlottenburger an der unvermuteten Vermenschlichung ihres Kiezes erfreuen. Sie empfinden das verhängte sechsmonatige Moratorium als kolossale Entlastung ihres Alltags, der die Bedürfnisse des Autos längst über jene der Menschen gestellt hat. Vielleicht geht den Menschen während der Abwesenheit der Autos auf, wie schwer sie durch diese geschädigt werden. Und wer weiß, vielleicht kommt es dann endlich zu einer Verkehrswende, die den Namen verdient, weg von den viel zu vielen PKW in der Stadt.

Der gut 50 Meter breite Kaiserdamm drängt sich geradezu auf für eine Neugestaltung des öffentlichen Raumes. Zwei Fahrspuren in jede Richtung ließen sich locker einsparen und mit Bepflanzungen oder gewerblich nutzen, gleiches gilt für den mittigen Parkstreifen. Die Klimaziele der Bundesregierung könnten dann endlich auch im Verkehrssektor eingehalten werden, jeder Umweltmediziner wird attestieren, dass Krach, Schmutz und Enge, konzentriert im privaten PKW, die Menschen krank machen. Die Stadt sollte dankbar sein für die große Baustelle, die ohne Absicht das brutale Chaos des Autoverkehrs bändigt und dabei aufzeigt, wie eine lebenswerte Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts aussehen kann. Vielleicht gründet sich eine Bürgerinitiative, die das Provisorium eines autofreien Kaiserdamms verstetigen möchte. Nicht nur stundenweise zum jährlichen Halbmarathon.