Ein „Kandidat“ weiß sich zu Höherem berufen. Er hat die Anfangsgründe seines Metiers lernend hinter sich gelassen, verfügt über ein solides Wissen und strebt nun weiter zur Spitze. Ein Kandidat ist ursprünglich ein Bewerber um eine Magistratur, der eine mit Kreide geweißte toga candida trägt. Der Begriff wurde im 16. Jahrhundert aus dem lateinischen candidatus entlehnt, was so viel wie weiß gekleidet bedeutet; das Verb candere steht für glänzen, schimmern.
In Berlin treffen dieser Tage acht besondere Kandidaten aufeinander. Drei Russen, zwei US-Amerikaner, ein Chinese, ein Armenier und ein Aseri, Großmeister der Extraklasse allesamt, haben sich für ein doppelrundiges Turnier qualifiziert, dessen Sieger Ende dieses Jahres den amtierenden Weltmeister im Schach zu einem Match um die Krone fordern darf. Das Kandidatenturnier wurde nach dem II. Weltkrieg unter der Regie des Weltschachbundes FIDE etabliert und nach längerer Pause 2011 erfolgreich reanimiert. Den Fans weltweit bietet es traditionell ein Spektakel begeisternden Schachs.
In Berlin dient das Kühlhaus, ein alter Lebensmittelspeicher am Gleisdreieck, als Austragungsort. Der entkernte Klinkerbau mit seinen unverputzten Wänden, den massiven Stahlträgern und rohen Betonstützen versprüht den morbiden Charme der Frontstadt. Die dominierende Dekorationsfarbe der Teppiche und Vorhänge ist ein mattes Schwarz, auf Trennwänden gleichen Tones leuchten die in Weiß gehaltenen Logos der Sponsoren. Das Ambiente eines Nachtclubs in der Umbauphase ist gewöhnungsbedürftig für ein Schachturnier auf Premiumniveau, von einer Galerie aus können die Kiebitze den Spielern beim Denken auf die Köpfe sehen.
Ob diese Perspektive hilft, das elitäre Schach der Kandidaten zu verstehen? Es ist verblüffend, wie konzentriert schweigend das Publikum sich zu verhalten vermag. Gelegentlich ist ein Räuspern zu vernehmen, hin und wieder quietscht ein Spielersessel, ab und an wird über die Stellung auf dem Brett gewispert, von ferne schlagen Absätze, ganz selten nur fiept ein Telefon. Ansonsten herrscht im schwach beleuchteten Turniersaal die andächtige Stille einer Messe während der Wandlung, die draußen vorbeifahrende Hochbahn ist im Innern des Kühlhauses weder zu hören noch als Erschütterung zu spüren.
Vier, fünf und noch mehr Stunden sitzen sich die Opponenten gegenüber, schieben die lackierten Steine über die 64 Felder, erzielen einen Vorteil, holen gegebenenfalls den vollen Punkt oder verderben eine Gewinnstellung noch zum Remis. Eine Schachpartie kommt der Kontemplation ignatianischer Exerzitien nahe: Die Spieler versenken sich in sitzender Haltung in die Welt des Brettes, das sich Zug um Zug verändert; sie meditieren über die Energie der Figuren, entfesseln deren verborgene Dynamik, berechnen Varianten, stehen zwischendurch auf und laufen umher, ohne ein Wort zu sprechen. Das zentrale Element dieser Übungen ist die Wiederholung, ihr Ziel das vollkommene Schach.
Im Turniersaal werden die Partien im fahlen Licht der Monitore als Diagramme abgebildet, die Züge sind in alphanumerischer Notation dokumentiert. Eine parallele Bewertung der Position durch Computer, wie sie bei den Übertragungen der Turniere im Internet Standard ist, geschieht hier nicht, schließlich könnten die Kontrahenten einen Blick auf die Bildschirme erhaschen und eine Empfehlung der Engine aufnehmen. Um einen elektronischen Betrug am Brett zu verhindern, werden die Spieler vor Beginn der Partie auf mobile Rechner abgetastet.
Im Obergeschoss des Kühlhauses findet derweil eine Schachparty statt. Hier kommentieren Experten den Hintersinn einzelner Züge, hier sitzen Patzer bei einer Tasse Kaffee über einer freien Partie, hier werden T-Shirts, Schachsets und Plakate feilgeboten, und hier finden die Pressekonferenzen nach beendeten Partien statt. Wenn die erschöpften Großmeister das Spiel Revue passieren lassen, blitzt in den gemachten Zügen wie in den gedachten Manövern die mathematische Schönheit des ewig jungen Schachspiels auf. Nach 14 Runden wird einer der Kandidaten zum Herausforderer promoviert, er steht dann auf der letzten Stufe unterhalb des Champions. Das WM-Match wird im November 2018 in London gegeben, die Freude darauf greift bereits um sich.