Das Beherrschen der Kunst, auf den Gegner einen stetigen Druck auszuüben, ist sehr nützlich, gerade in nahezu ausgeglichenen Positionen. – Judit Polgar
Die Geschichte des Schachspiels hat viele glänzende Spieler hervorgebracht, jeder von ihnen hat von seinen Vorgängern gelernt und hat seine Erfahrungen an seine Nachfolger weitergegeben. Diese evolutionäre Sicht auf das Schachspiel wurde wohl von niemandem so frappierend variiert wie von Anatoli Karpow. Die Kiebitze haben ihn nie geliebt, seine Gegner haben ihn ob seiner Souveränität gefürchtet. Er schien das Spiel instinktiv von Grund auf zu verstehen und war mit dem absoluten Gehör für die perfekte Position ausgestattet. In den Worten des niederländischen Exweltmeisters und FIDE-Präsidenten Max Euwe gebe es keine Analogie zum Phänomen Karpow, niemand sei vor ihm auf seine Weise Weltmeister geworden. Und auch nicht nach ihm, auch wenn der aktuelle Champion Magnus Carlsen hier und da als sein Wiedergänger identifiziert wird.
Anatoli Karpow wurde am 23. Mai 1951 in Slatoust am Osthang des Ural geboren, seine Mutter war Ökonomin, sein Vater Ingenieur in der metallverarbeitenden Industrie. Karpow erlernte das Schachspiel im Alter von vier Jahren intuitiv durch das Zuschauen einer Partie, ersten regelmäßigen Unterricht erhielt der schmale Junge im lokalen Pionierpalast. Im Alter von zwölf Jahren besuchte er die legendäre Schachschule des Patriarchen des sowjetischen Schachs Mikhail Botwinnik in Moskau. Der Exweltmeister ließ sich von der schwächlichen Konstitution des Jungen als Folge einer Atemwegsinfektion blenden und erklärte, er habe keine Zukunft als Profi. Nach raschen Erfolgen im Jugendalter wurde Karpow ab 1969 von Semjon Furman trainiert, einem der renommiertesten Schachlehrer des Sojus, im selben Jahr wurde er in Stockholm Jugendweltmeister. 1970 wurde Karpow von der FIDE zum Großmeister ernannt, mit seinem geteilten Sieg beim Aljechin Memorial 1971 in Moskau gehörte er zur Elite seines Landes; er half als Sparringpartner dem Weltmeister Boris Spasski bei dessen Vorbereitung auf den WM-Kampf 1972 gegen den US-Amerikaner Bobby Fischer.
Dessen Sieg im Match in Reykjavik setzte den sowjetischen Funktionären arg zu, hatten ihre Schachspieler doch seit Ende des II. Weltkriegs das internationale Schach nach Belieben dominiert und ununterbrochen den Weltmeister sowie die Weltmeisterin gestellt. Nun wurde der rasch aufsteigende Anatoli Karpow als Vertreter der jungen Generation dazu auserkoren, die Schachkrone zurück in die Sowjetunion zu holen. Er setzte sich im Kandidatenzyklus 1973/74 mit stupender Leichtigkeit gegen stärkste Konkurrenz durch und wurde 1975 am grünen Tisch zum Weltmeister erklärt, weil Bobby Fischer sich weigerte, seinen Titel in einem Wettkampf zu verteidigen. Diese klaffende Wunde in seiner Karriere verschloss Karpow als spielender Weltmeister durch Siege bei nahezu allen Turnieren, bei denen er antrat; seine 160 Triumphe sollten ein Rekord für die Ewigkeit sein. Seinen alten Freund und Rivalen Viktor Korchnoi, der 1976 in den Westen gegangen war, besiegte Karpow 1978 und auch 1981 in politisch aufgeladenen Duellen, weit und breit war kein ernsthafter Gegner für Karpow in Sicht.
Das änderte sich mit dem Auftreten Garri Kasparows auf der nationalen und internationalen Bühne Anfang der 1980er Jahre. Zwischen 1984 und 1990 spielten die beiden fünf Matches um die Krone; das erste Match, das noch auf sechs Gewinnpartien angesetzt war, wurde nach 48 (!) Partien beim Stand von 5:3 für Karpow unter ungeklärten Umständen ohne Ergebnis abgebrochen, das zweite Match 1985 gewann Garri Kasparow auf mitreißende Weise. 1986, 1987 und 1990 lieferte Anatoli Karpow seinem Nachfolger jeweils einen großartigen Kampf, ohne aber den Titel zurückholen zu können. Faktisch regierten die beiden K in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gemeinsam auf dem Schacholymp; von den insgesamt 144 Partien ihrer Matches gewann Kasparow 21, Karpow deren 19, derweil 104 Partien remis endeten. Bei internationalen Turnieren teilten sie sich meist den 1. Rang, zu groß war der Abstand zwischen ihnen und den nächsten Spielern der Weltrangliste.
Das grimmige Ringen der beiden wurde publizistisch vereinfacht als Kampf der Systeme dargestellt. Während der impulsive, rebellische Kasparow, Jahrgang 1963, als Repräsentant von Glasnost und Perestroika unter Mikhail Gorbatschow inszeniert wurde, galt der blasse, kontrollierte Karpow als Liebling des Apparates unter Leonid Breschnew. Dieses David-gegen-Goliath-Muster war schon seinerzeit schief, hatte doch Kasparow mit Heydar Alijew einen mächtigen Fürsprecher im Politbüro der KPdSU, der er übrigens bis 1990 angehörte. Es fand aber auch einen Niederschlag im unterschiedlichen Schach der beiden: Kasparow spielte ein mutiges, mitunter riskantes Angriffsschach mit spektakulären Opfern, während Karpow seine Partien ruhig und positionell anlegte und seine Meisterschaft im Anhäufen kleiner Vorteile zeigte. Auch nach dem Untergang der UdSSR gingen die beiden K verschiedene Wege: Während Kasparow sich als politischer Gegner des Präsidenten Wladimir Putin hervortat und seit 2013 im Exil in New York lebt, sitzt Anatoli Karpow seit 2011 für die Partei „Einiges Russland“ als Abgeordneter der Oblast Tjumen in der Duma in Moskau.
Anatoli Karpows Stil am Brett ist einzigartig. Wahrscheinlich ist kein Spieler vor und nach ihm mit einem solchen Talent für die Harmonie unter den Figuren gesegnet, unter dem Dirigat seiner Hände agieren die Steine als Ensemble wie die Musiker eines Orchesters beim Aufführen einer Sinfonie. Nach einem Eröffnungsvorteil auch mit Weiß hat Karpow selten gestrebt, ihm ging es um den Zugang zu einer spielbaren Stellung. Unerreicht war Karpow beim Markieren und Festlegen einzelner Schwächen in des Gegners Lager, zu seinen liebsten Waffen zählte das Isolieren und Neutralisieren gegnerischer Figuren. Viele seiner hochklassigen Gegner verloren gegen ihn, ohne einen objektiv nachweisbaren Fehler gemacht zu haben; eingelullt von langen Manövern, verteidigten sie sich in ausgeglichenen Stellungen unter permanentem Druck nicht optimal und wählten nur zweitklassige Züge, die den gegnerischen Raumvorteil peu à peu vergrößerten und ihnen schließlich die Luft zum Atmen nahmen. In seinen besten Tagen dominierte Karpow das ganze Brett, während die Figuren seines Opponenten sich gegenseitig behinderten.
Karpows virtuose Technik zeigte sich besonders deutlich im Endspiel. Mit nur noch wenig Material, wenn es auf jedes einzelne Tempo ankommt, „wusste“ er, wo seine Steine ihre maximale Wirkung ausübten. Er beherrschte das Thema des guten Springers gegen den schlechten Läufer ebenso wie das Turmendspiel mit dem entfernten Freibauern gegen die Majorität am Königsflügel; etliche seiner Partien haben Einzug in die Endspielliteratur gefunden, so die 9. Partie aus dem ersten WM-Kampf 1984/85 in Moskau gegen Garri Kasparow mit dem paradoxen Zug 47. Sg2!! Karpow hat in seiner langen Laufbahn nur relativ wenige Partien verloren, er ging mit seinen Kräften am Brett immer sehr ökonomisch um und willigte pragmatisch in ein Remis ein, wenn es seinen Erfolg im Turnier nicht gefährdete. Als seine einzige Schwäche mag seine wenig robuste Physis gelten, die gerade zum Ende langer Matches zu einer merklichen Erschöpfung für Körper und Geist führte. So hat Karpow während des Wettkampfes 1984/85, der sich über fünf Monate hinzog, zwölf Kilo an Gewicht verloren.
Aus dem zarten Jüngling ist mit den Jahren ein stattlicher Herr barocken Leibesumfangs geworden. Anatoli Karpow hat sich nie offiziell vom professionellen Schach zurückgezogen, allerdings hat er schon lange keine ernsten Turniere mehr gespielt. Er tritt regelmäßig als Kommentator im Internet auf, hat eine Schachschule unter seinem Namen gegründet und gibt gerne Simultanvorstellungen zur Popularisierung des Spiels. Sein Auftreten bei Interviews ist bescheiden und sachlich zu nennen, im März 2020 war er als Ehrengast bei der Eröffnung des Kandidatenturniers in Jekaterinburg dabei. Mit seinem sportlichen Kontrahenten Kasparow hat er sich dem Vernehmen nach ausgesöhnt; als dieser 2007 für einige Tage nach einer Verhaftung bei einer Demonstration im Gefängnis saß, hat Karpow ihn dort besucht. 2010 kandidierte Karpow (erfolglos) für das Amt des FIDE-Präsidenten und wurde dabei von Kasparow unterstützt..
Karpow hat sich nach dem endgültigen Verlust des WM-Titels mit bemerkenswerter Energie und harter Arbeit zurückgekämpft. Als Kasparow und Nigel Short 1993 ihren Wettbewerb um die Krone außerhalb des Weltschachbundes FIDE austrugen und die Professional Chess Association (PCA) gründeten, existierten bis 2006 zwei konkurrierende WM-Titel nebeneinander. Kasparow blieb „klassischer“ Weltmeister bis 2000, während Karpow den Titel des „FIDE-Weltmeisters“ von 1993 bis 1999 behaupten konnte. Jenseits der 50 widmete sich Karpow dem Schach vor allem mit repräsentativen Aufgaben, durch die Turnierpreise, Lizenzen, Honorare und kluge Anlagen ist er durch das Schach zum Millionär geworden. Als sein Hobby gibt der geborene Reflektor des Schachs, der in zweiter Ehe verheiratet ist und der gelegentlich als Gast für den SV Hockenheim in der Bundesliga spielte, das Briefmarkensammeln an. Der Spieler, der wie kein anderer Großmeister das Schach so einfach aussehen lässt, feiert heute seinen 70. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch, Tolja, und vielen Dank für Deine Sternstunden am Brett!