Kasparow

Sein schachlicher Triumphzug begann in der Zeit von Glasnost und Perestroika, Garri Kasparow war der letzte Weltmeister der Sowjetunion und der erste des neuen Russlands. Am Brett agierte er wie sein Vorbild Alexander Aljechin, zielstrebig, dynamisch und risikofreudig. Diese zu attraktiven und erfolgreichen Partien führende Mischung ließ ihn zwanzig Jahre lang die Schachwelt beherrschen. Seit dem Ende seiner Profikarriere steckt er seine unbändige Energie in die Politik.

Garri Kasparow wurde am 13. April 1963 in Baku (seinerzeit aserische Sowjetrepublik) als Garik Weinstein geboren. Der Vater Kim Weinstein, ein russischer Jude, und die Mutter Klara Kasparjan, eine Armenierin, waren akademisch gebildet und hoch musikalisch. Das Schachspiel erlernte er mit fünf Jahren, mit sieben trainierte er im lokalen Pionierpalast. Nach dem Tod seines Vaters 1971 änderte seine Mutter den Familiennamen in Kasparow, um der antisemitischen Stimmung in Aserbaidschan zu begegnen. Im Alter von zehn Jahren wurde der Junge Schüler der legendären Schachschule des ehemaligen Weltmeisters Mikhail Botwinnik in Moskau. Sein spielerisches Niveau steigerte sich rasant, mit 14 Jahren avancierte er zum Assistenten des Patriarchen, mit 17 Jahren verlieh ihm der Weltschachbund FIDE den Titel eines Großmeisters. Bereits in seinem ersten Kandidatenzyklus 1983/84 konnte sich Kasparow überlegen als Herausforderer des Weltmeisters Anatoli Karpow qualifizieren, 1985 wurde er der bis heute jüngste Champion der Schachgeschichte.

Der niederländische Großmeister Jan Timman bescheinigt Kasparow das zweifelhafte Talent, Organisationen, die er gründet respektive leitet, zu zerstören. Als Weltmeister suchte Kasparow nach Wegen, das Schach für institutionelle Sponsoren attraktiver zu machen. Früh richtete er den Blick über die implodierende Sowjetunion hinaus Richtung USA. Die von ihm geschaffene (kurzlebige) Professionell Chess Association PCA akquirierte für den Titelkampf 1993 den Chiphersteller Intel als Geldgeber, das Match gegen Nigel Short fand außerhalb der FIDE statt – eine dreiste Privatisierung des Titels und ein Rückfall in die Zeit vor dem II. Weltkrieg. Bis 2006 konkurrierten der „klassische“ und der „FIDE“-Weltmeistertitel in eigenen Zyklen; ein Chaos, mit dem Kasparow dem organisierten Schach einen Bärendienst erwies, der ihn jedoch zu keiner Geste des Bedauerns rührte.

Seine Grimassen am Brett und sein gefürchteter Jähzorn im Auftreten trugen ihm den wenig schmeichelhaften Beinamen „Biest von Baku“ ein. 2005 zog sich Garri Kasparow nach etlichen glänzenden Siegen bei Turnieren, Meisterschaften und Olympiaden vom Profischach zurück, er lag zu diesem Zeitpunkt noch immer auf Platz Eins der Weltrangliste. Er widmete sich verstärkt seiner schachpublizistischen Tätigkeit, seine Reihe über seine „großen Vorkämpfer“ auf dem WM-Thron vereint in exzellenter Weise computergestützte Analysen ausgewählter Partien mit politischen Interpretationen des Wettkampfgeschehens der vergangenen 160 Jahre. Seine Fehde mit der FIDE kulminierte in Kasparows (erfolgloser) Kandidatur für das Amt ihres Präsidenten 2014, nachdem er noch 2010 seinen langjährigen Rivalen Anatoli Karpow in der gleichen Angelegenheit (vergeblich) unterstützt hatte.

Parallel hierzu engagierte sich Kasparow in der russischen Innenpolitik. 2008 gründete er mit dem ehemaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Boris Nemzow die Bewegung Solidarnost, die das zunehmend autoritäre Regime unter Wladimir Putin und Dmitri Medwedew kritisierte und für mehr Demokratie warb. In den Folgejahren wurde der populäre Kasparow zu einer profilierten Stimme der (außerparlamentarischen) Opposition, die Polizei behinderte seine Arbeit massiv, mehrfach wurde er bei Wahlkämpfen und Demonstrationen verhaftet. Seit 2013 lebt Kasparow, der auch die kroatische Staatsbürgerschaft besitzt, in New York im Exil. In amerikanischen und europäischen Medien fordert er vom Westen regelmäßig eine härtere Gangart gegenüber dem russischen Präsidenten Putin, den er als die größte Gefahr für den Weltfrieden bezeichnet.

In Kasparows Charakter kreuzen sich Charisma, Sendungsbewusstsein, Disziplin und ein Hang zu Verschwörungstheorien. Er verstand es geschickt, sich während der endlosen Wettkämpfe gegen Anatoli Karpow als David zu inszenieren, der es mit dem vom Apparat protegierten Goliath aufnahm – dabei hatte Kasparow seit Beginn der 1980er Jahre seinerseits einen mächtigen Förderer im Politbüro der KPdSU. Westliche Medien griffen gerne das Motiv auf, der junge Kasparow repräsentiere die Reformen unter Mikhail Gorbatschow, während der ältere Karpow für die Stagnation unter Leonid Breschnew stehe. Bereits mit 24 Jahren schrieb Kasparow seine (erste) Autobiographie, die dieses Muster variierte. Als er 1986 beim Revanchematch gegen Karpow drei Partien in Folge verlor, wollte er sich das nur durch den Verrat eines Sekundanten erklären – ohne für diesen Vorwurf Indizien vorlegen zu können. Die russische, in New York lebende Publizistin Masha Gessen weist darauf hin, dass Kasparow eine Zeit lang den dubiosen Ideen des Mathematikers Anatoli Fomenko anhing, der gegen jede historische Evidenz behauptete, die Kulturgeschichte beginne im Mittelalter mit dem strahlenden Moskauer Imperium.

Seine Neigung zur Intrige hat Garri Kasparow nie an äußerst sorgfältiger Vorbereitung auf seine Gegner gehindert. Er übernahm von seinem Lehrer Mikhail Botwinnik die strenge Analyse der Eröffnungen bis ins Mittelspiel hinein, strebte mit beiden Farben nach Initiative und zeigte auch im Endspiel keine Schwäche. Als Ende der 1980er Jahre die ersten leistungsfähigen Schachprogramme samt Datenbanken aufkamen, erkannte Kasparow sofort ihr Potenzial zur Analyse gespielter wie zur Vorbereitung kommender Partien. Während seines Wettkampfes 1995 gegen Vishy Anand kam zum ersten Mal eine am Rechner präparierte Variante aufs Brett, die Kasparow einen spektakulären Sieg einbrachte. Im Jahr 2000 hingegen musste er der nächsten Generation Tribut zollen: Sein Herausforderer Wladimir Kramnik hatte die vergessene Berliner Verteidigung der Spanischen Partie ausgegraben, die durch einen frühen Damentausch Kasparow vieler taktischer Möglichkeiten beraubte. Er gewann keine einzige Partie und verlor das Match in technisch trockenen Manövern.

Für viele Fans bleibt Kasparow der stärkste Spieler der Geschichte, seine Analysen mit ihren Variantenbäumen haben Maßstäbe für spätere Kommentatoren gesetzt, seine Schachbücher bilden den Grundstock jeder einschlägigen Bibliothek. Ein Teamplayer ist er nie gewesen, vielmehr ein Magnet, der die Kräfte anderer ausrichtet. Vielleicht findet der Kosmopolit Garri Kasparow seinen Platz als CEO einer kulturell oder pädagogisch tätigen NGO, die dafür dienlichen Beziehungen zu den Strategen und Finanziers des Silicon Valley und der Wall Street pflegt er schon lange. Oder er spielt auf das Jahr 2024 hin, wenn nach den Buchstaben der russischen Verfassung Wladimir Putin den Kreml wird räumen müssen. Die Härte für das Präsidentenamt hätte Garri allemal, er müsste allerdings lernen, auf fähige Berater zu hören und die Zögernden nicht zu verprellen. Bis es soweit ist, wird er noch häufiger zu Werbezwecken am Brett sitzen, in Zeitnot wird er dabei kaum geraten.