Wie es in allen
Gemeinden der Heiligen üblich ist, sollen die Frauen in der
Versammlung schweigen; es ist ihnen nicht gestattet zu reden.
1 Kor 14,33-34
Wenn Kerstin eine hellblaue 501 trägt, wird ihr Schritt unweigerlich modelliert. Von der Stelle, wo die geschlossenen Oberschenkel zusammenkommen, ziehen sich zwei Falten über den Jeansstoff nach oben. Unter dem eng anliegenden Textil sind die Konturen des pflaumenförmigen Genitals plastisch auszumachen. Wenn Kerstin unter der Dusche des Schwimmbades den Badeanzug abstreift und sich vor dem Betreten der Schwimmhalle abseift, ist zwischen ihren Beinen nichts weiter als eine Scheide zu sehen, gepolstert durch dicht gewachsenes Schamhaar. Erst der genaue klinische Blick offenbart, dass dieser Teil ihres Körpers nicht natürlich gewachsen ist. Kerstins Intimregion ist das Resultat einer operativen Geschlechtsannäherung. Wie die Kirsche auf der Torte sitzt oberhalb davon die Klitoris, der Rest ihrer Eichel, durchaus sensitiv und orgasmisch.
Es liegt nun ein halbes Menschenleben zurück, dass Kerstin von einer Nacht zur anderen aus der geschlechtslosen Idylle der Kindheit in die gnadenlose Welt der Pubertät und ihrer Konkurrenz gestoßen wurde. Ihr ganzer Körper wurde mit Testosteron geflutet, ein reißendes Tier wurde von der Kette gelassen, so sah es das uralte Programm der Gene vor. Der Leib wuchs weiter in die Höhe, Hände und Füße wurden raumgreifend, die Schultern wurden breit, die Muskulatur an Armen und Beinen definierte sich ohne Zutun. Der neue stechende Geruch, der von ihr ausging, war ihr peinlich, der Penis begann ein aggressives Eigenleben ohne Rücksicht auf andere zu führen. Die Oberlippe wurde von einem Flaum überzogen, ihre Stimme sackte wegen der Vergrößerung des Kehlkopfes und der Verlängerung der Stimmbänder um eine Oktave ab, irreversibel. Sie wurde launisch, sah sich Attacken von Jähzorn ausgeliefert und wusste nicht wohin mit dem inneren Drängen.
Diese drastischen Veränderungen ihrer Körper nahmen die Jungen ihrer Klasse zum Anlass, auf Entdeckungsreise in die Welt der Sexualität zu gehen, unbeholfen und tapsig zunächst, später immer zielstrebiger und voller Prahlerei. Mit lautem Entsetzen sah Kerstin an den sich rundenden Körpern der Mädchen in ihrer Klasse, was ihr vorenthalten blieb: Brüste und Hüften, Taille und seidige Haut, ein Aufblühen einer Attraktivität, die sich ihrer selbst gar nicht bewusst ist. Kerstin zog sich instinktiv zurück vom sich formierenden Feld der Geschlechter, sie versank in die Welt der Literatur, sprach mit ihren Schachfiguren, machte lange Läufe um den See und im Wald und schämte sich der großflächigen Akne im Blumenkohlrelief. Auf die Idee, sich untenrum anzufassen und zu bespielen, kam sie nicht. Sie spaltete es unbewusst ab, es ging ihr um das schiere Überleben.
Dieses biologische Programm, das den unbeschriebenen Leib binnen weniger Jahre einem Ufer des Geschlechterflusses zuweist, hat tief eingegrabene Folgen unter der Haut, die nicht vollends zu tilgen sind, so Kerstins heutige Überzeugung. Sie hat in ihren Zwanzigern das getan, was medizinisch-juristisch als Geschlechtsangleichung beschrieben wird. Sie hat, nach einem langen selbstzerstörerischen Kampf voller Drogen gegen sich selbst, mit der kontrollierten Einnahme von Östrogen begonnen, sie hat ihre Haare wachsen lassen und ihre Kleidung peu à peu mit weiblichen Accessoires ausgestattet, sie hat amtsgerichtlich ihren Vornamen ändern und sich operativ ihr Geschlecht angleichen lassen. Anstelle der ursprünglichen Ausstattung, deren Gewebe als Rohstoff diente, findet sich nun eine Scheide, einen halben Meter weiter oben sprießen niedliche Knospenbrüste. Eine tiefe Ruhe bemächtigte sich ihrer, Herz, Hirn und Hand konstellierten sich neu als Einheit.
Rein medizinisch ist Kerstin kastriert (aus dem Lateinischen verschnitten). Ihre Keimdrüsen, also ihre Hoden, wurden entfernt, der Penis wurde amputiert, oberhalb des Dammes wurde Raum für eine Neovagina geschaffen, ausgekleidet mit der Haut des Bestands. Dieses Können der modernen Medizin, auf einem frappierenden chirurgischen Prinzip der 1950er Jahre basierend, macht aus ihr natürlich keine Frau; diesem Irrtum saß sie lange genug auf. Heute, am Beginn ihres letzten Lebensdrittels, empfindet sie sich als Kastrat. Sie muss bis zum letzten Atemzug weibliche Hormone pharmakologisch substituieren, ihre Lebensstimmung ist depressiv bis resignativ, ihr gesamter Körper, den sie nicht mehr nackt im Spiegel betrachten mag, kommt ihr verschnitten und taub vor – genauso fremd wie vor der gewollten Veränderung. Leider ist ihr Gedächtnis nicht so gnädig, die Vergangenheit aus Gründen der Gesundung zu vergessen – der Leib erinnert sie beständig an sich selbst.
Das Barock war die Hochzeit der Kastraten. Unter Berufung auf Paulus untersagte die katholische Kirche Frauen in heiligen Räumen zu reden oder zu singen. Um die reinen Knabensoprane auch über die Pubertät zu erhalten, wurden besonders talentierte Jungen um das zehnte Lebensjahr herum kastriert, noch bevor die Geschlechtsreife einsetzte. Kastrieren, also verschneiden, meint in diesem Zusammenhang das Durchtrennen der Samenleiter oder auch das komplette Abschneiden der Hoden. Dieser für die Kinder grausame Eingriff erfolgte unter hygienisch bedenklichen Bedingungen, es kam zu Infektionen und Wundheilungsstörungen, auch zu direkten Todesfällen. Das Ziel jedoch war erreicht: Die helle, liebliche Stimme blieb bestehen, durch das einsetzende Wachsen des Thorax und der Lungen gewann sie noch an Kraft, Dynamik und Volumen, vom Klang einer Trompete vergleichbar. Kastraten wurden zu Stars der Opern von Händel, Gluck und Porpora, sie sangen im Chor der Sixtinischen Kapelle des Papstes und waren unter den Hofdamen begehrte Liebhaber, da eine Schwangerschaft ausgeschlossen war. Der römische Maler Caravaggio hat jugendliche Kastraten portraitiert, vom letzten Kastraten der römischen Kurie wurden Anfang des 20. Jahrhunderts noch Tonaufnahmen angefertigt.
Dass Kerstin sich nun mit den unglücklichen Trägern einer künstlich konservierten Stimme von vor 400 Jahren identifiziert, hat zum einen mit dem Ausweiden eines intakten Genitals zu tun, zum anderen mit der lebenslangen Einsamkeit in einem geschlechtlichen Niemandsland. Kaum ein Kastrat konnte seinerzeit von seiner vokalen Besonderheit leben, vielen blieb nur die Caritas der katholischen Kirche oder die Bettelei. Von einer legalen Ehe oder auch nur sozial anerkannten Beziehung blieben sie ausgeschlossen, sie wurden im Alltag verspottet und waren über ihre meckernde Sprechstimme negativ markiert. Für Kerstin kam ihre Kastration zu spät, das Testosteron hatte reichlich Zeit, ihren Leib unwiederbringlich zu verwüsten. Ihre Stimme wird am Telefon durchweg als männlich gehört, ihre Körpersilhouette ist athletisch schlank ohne jede Wölbung des weiblichen Musters, ihre Schultern sind breit, ihr Kiefer markant, ihre Länge fatal.
Kurzum, Kerstin sieht nicht so aus, wie sich ein Mann eine Frau wünscht und vorstellt. Sie bekommt durchaus Anerkennung für ihre Belesenheit, ihren scharfen Intellekt, ihr Wissen und ihren Witz, aber es macht ihr niemand Komplimente für ihre Figur, niemand nennt sie weiblich, reizend, anziehend, begehrenswert, kein Mann hat je mit ihr geflirtet. Dabei ist es egal, wie sie ihr Haar trägt, welche Garderobe sie präsentiert, ob sie sich schminkt oder mit Perlen sich schmückt. Die Menschen spüren, dass sie nicht passt; Frauen erleben sie als harmlos, Männer übersehen sie als sexuell uninteressant, Kinder starren sie an wie ein Gespenst. Ihre blind endende Scheide ist großzügig geschnitten, sie hat jedoch außer ihren eigenen Fingern, einem niedlichen Dildo und dem Spatel einer Gynäkologin nichts weiter in sich aufgenommen. Kerstin lebt erzwungenermaßen keusch, eingefroren auf der erotischen Reifestufe eines Kindes. An eine Beziehung oder gar eine Familie ist unter diesen Umständen nicht zu denken. Die Tantalosqualen beim Sehen des Glückes eines jeden beliebigen Paares werden sie bis zum Tod nicht verlassen.
Vor drei Jahrzehnten, dem Zeitpunkt ihres Coming-out, ging Kerstin optimistisch davon aus, dass sich ihre maskulinen Anteile herauswachsen würden, dass sie eine überzeugende Transfrau, ja sogar eine schöne Frau werden würde. Es hat weitere Jahre gedauert, bis sie sich von dieser Illusion verabschieden konnte. Sie freut sich, dass ihr Schopf voll und dicht ist, wenngleich mit Friedhofsblond durchsetzt; ihre Haut ist am ganzen Körper fein und weich, allerdings erschlafft hier und da bereits das Unterhautfettgewebe. Die Gesellschaft hat ihr Urteil über sie gefällt: Sie wird für ihren geschlechtlichen Voluntarismus nicht auf den Scheiterhaufen gezerrt, sondern bekommt die Erlaubnis, mit einem weiblichen Namen sich in der Welt zu bewegen. Doch wird sie durch physische Eigenschaften, die sich einer Manipulation durch Chirurgie, Sport und Make-up entziehen, in der männlichen Welt gehalten. Angekommen am weiblichen Ufer wähnte sie sich bestenfalls seelisch; das geschlechtliche Freiwild, das sie ist, wird ihr täglich durch ihre Einsamkeit vorgeführt. Sie ist eine emotionale Null, eingesperrt im Körper einer Transfrau. Sie hat im Gebet oft gefragt, warum ihr dieses Schicksal auferlegt wurde; Gott hat wie üblich geschwiegen.
Sie hat leidlich versucht, in der weiblichen Rolle zu bestehen. Doch der ersehnte Neuanfang wurde zur Sackgasse. Aus Freude am Singen nahm sie mehrere Anläufe, einem Chor beizutreten. Allem Training zum Trotz kam sie nie stabil in den Alt, als Tenor, der sie ist, wollte sie nicht dazugehören. Wenn sie in der katholischen Messe am Ambo aus dem Alten Testament zitiert, senden Mikrofon und Lautsprecher eine unverkennbar männliche Stimme in den Raum. Der gegenwärtige Kult um Transgender kommt für sie viel zu spät, sie profitiert als alter Mensch nicht mehr von der keimenden Sensibilität für die Untiefen der Geschlechter. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal in den Arm genommen wurde, berührt wird sie lediglich von ihrem Arzt im Rahmen der jährlichen Untersuchung. Zärtlichkeit, Sexualität, Liebe und Hingabe kennt sie nur aus Romanen und Filmen, kein Mann will sich der Lächerlichkeit preisgeben, ihr Liebhaber oder gar ihr Partner zu sein. Ihre amputierte Banane hat sie noch keinen Tag vermisst, die Narben ihrer Scham schmerzen nur bei langen Radtouren, die Größe ihrer Brüstchen noch unter A ist ihr einerlei. Dass sie einen Körper hat, wird ihr nur angesichts vitaler Regungen wie Hunger oder Müdigkeit bewusst, in geschlechtlicher Hinsicht ist sie ein Schatten eines Krüppels.