Katarina

Zweimal Carmen. Was wie arrangiert aussah, war nur ein Zufall, wenn auch ein besonders spektakulärer. Bei der Kür des Eiskunstlaufes der Frauen bei der Olympiade 1988 in Calgary traten Katarina Witt und Debi Thomas jeweils zur Musik aus „Carmen“ von Georges Bizet aufs Eis. Bei der Interpretation dieser klassischen Frauenfigur aus Oper und Mythologie hatte die 23 Jahre alte Läuferin aus Karl-Marx-Stadt klar das bessere Ende für sich. Sie gewann die Kür deutlich vor ihrer amerikanischen Konkurrentin und holte das zweite olympische Gold ihrer Karriere. Ihre „Carmen“ aus Calgary machte Katarina Witt zu einer der größten Athletinnen der Sportgeschichte.

Katarina Witt wurde 1965 in Staaken bei Berlin geboren. Sie begann mit fünf Jahren ihre Eiskunstlaufkarriere in Karl-Marx-Stadt (dem heutigen Chemnitz), wo sie von der gestrengen wie renommierten Jutta Müller trainiert wurde. Die 1,65 m große Witt hat in ihrer Laufbahn alle großen nationalen und internationalen Titel gewonnen: Sie wurde Olympiasiegerin im Einzel in Sarajevo 1984 und in Calgary 1988, sie holte den Titel bei den Weltmeisterschaften 1984, 1985, 1987 und 1988 und gewann zudem sechsmal die Goldmedaille bei den Europameisterschaften; achtmal in Folge siegte sie bei den DDR-Meisterschaften. Vom bundesdeutschen Boulevard wurde sie halbseiden ob ihrer Linientreue und ihrer atemberaubenden Attraktivität zum „schönsten Gesicht des Sozialismus“ getauft. Als sie 1992 ihre Stasiakte studierte, erfuhr sie, dass sie bei ihren Auslandswettkämpfen, aber auch im Alltag und beim Training intensiv vom Geheimdienst überwacht worden war, der eine mögliche Flucht seines Juwels ins westliche Ausland unter allen Umständen verhindern wollte.

Während des Kalten Krieges geriet der Spitzensport ins Fahrwasser der Politik, die Blöcke nutzten ihn, um ihre Überlegenheit über das jeweils andere Lager zu demonstrieren. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die DDR-Bürgerin (und SED-Mitglied) Katarina Witt ausgerechnet in einer Individualsportart mit einem hohen künstlerischen Anteil das Maß aller Dinge wurde. In Calgary 1988 lag sie nach der Pflicht auf dem dritten Rang, in die folgende Kür ging sie dennoch als Favoritin auf den Sieg. Bereits im ersten Teil ihres gut viereinhalb Minuten langen Programms zog sie alle technischen Register ihres einmaligen Könnens. Ihre schwierigen Sprünge – Doppel-Axel, Doppel-Rittberger, Dreifach-Salchow – gelangen ihr ansatzlos und ohne jede Schwäche beim Absprung und beim Landen, sie waren integriert in die Choreografie, ohne dass es zu einem Bruch oder auch nur einer Verzögerung kam.

Nach etwa der Hälfte des Programms beginnt der lyrische Teil der Kür, vom Kommentator wegwerfend als „Posing Section“ abqualifiziert (auf YouTube ist die amerikanische TV-Übertragung im Original abzurufen). Während Katarina ihre technische Virtuosität zu den schmissigen Passagen der Bizet-Musik zeigt, offenbart sie zu den eher verspielten Klängen zu „L’amour est un oiseau rebelle“ ihr schauspielerisches Talent und ihre Lust daran. Sie trippelt und steppt auf dem Eis, sie unterstreicht die gleitenden Bewegungen ihres Körpers mit fließenden Armen und Händen. Ihr Gesicht ist festlich geschminkt wie das einer Flamenco-Tänzerin, ihre Haare sind wie bei dieser zu einem Knoten im Nacken gebunden. Das Urteil der neun Preisrichter, unter ihnen zwei Frauen, lässt keine Fragen offen: Sie geben Katarina eine 5,7 für ihre Technik und eine 5,9 für ihren künstlerischen Ausdruck. Das reicht für Gold.

20.000 Menschen im Eisstadion und Millionen an den Fernsehern werden Zeugen eines einmaligen Auftritts zwischen Sport, Akrobatik, Tanz und Zirkus. Wie ein Fohlen auf der Koppel durchmisst Katarina die ganze Fläche des Stadions, lässt sich durch die Linien und Kreise auf dem Eis nicht irritieren. Sollte sie unter Erwartungsdruck stehen, ist ihr davon nichts anzumerken. Ihr Rumpf hält sich aufrecht beim Vorwärts- und Rückwärtslaufen, nie besteht die Gefahr, dass sie ob des hohen Tempos vor der Bande abbremsen müsste. Lehrbuchhaft gelingen ihr die schweren Sprünge, lasziv die Flirts mit den Zuschauern. Ihr Makeup und ihr Kostüm, das aus einem Body mit Federn, Rüschen und Puscheln besteht, geraten ihr zur Rüstung, die es ihr erlaubt, eine intime Inszenierung hinzulegen. Als die Musik erstirbt, sackt Witt in großer Geste in sich zusammen, schließt die Augen und legt sich zum Sterben auf das Eis. Kein Wunder, dass das Publikum begeistert applaudiert. Die nach ihr auftretende Debi Thomas läuft nervös und verkrampft, ihre Sprünge misslingen ihr ebenso wie ihre Posen, zu keiner Zeit kann ihre „Carmen“ der Rivalin das Wasser reichen.

1984 hatte Katarina Witt in Sarajevo mit der Unbekümmertheit der jungen Außenseiterin die Goldmedaille gewonnen, noch als halbe Jugendliche. Der Erfolg brachte ihr im grauen DDR-Alltag jede Menge Privilegien. Nicht nur konnte sie ins westliche Ausland zu Wettkämpfen reisen, sie hatte Zugang zu Devisen, fuhr einen VW Golf und wohnte in einer großen Wohnung. Zum DDR-Regime wahrte sie zeitlebens eine fugenlose Loyalität; sie betonte immer wieder, dass es der sozialistische Staat gewesen sei, der ihr die aufwändige Karriere im Eiskunstlauf erst ermöglicht habe, und dass sie nie daran gedacht habe, sich durch eine Flucht ihrer Verantwortung zu entziehen. Vier Jahre später trat Witt als Berühmtheit und als Diva in Kanada zu Olympia an. Ihr Programm stellt weniger auf Drill und Perfektion der Schülerin ab, sondern auf das schwerelose Solo einer erwachsenen Frau, die sich ihrer erotischen Ausstrahlung vollauf bewusst ist. Die DDR-Führung hatte eine klare Ansage gemacht: Wenn Katarina das zweite Gold bei Olympia holt, darf sie zu kommerziellen Zwecken im westlichen Ausland touren.

Als ein Jahr später die Mauer fällt und die DDR implodiert, öffnet sich für Katarina Witt ein großer Markt in Amerika wie von selbst. In den 1990er Jahren lebt sie überwiegend in den USA, wo sie als Darstellerin und Produzentin diverser Eislaufshows arbeitet und ihren sportlichen Ruhm zu monetarisieren versteht. Für die Olympiade 1994 in Lillehammer lässt sie sich reamateurisieren, erreicht dort aber nur mehr einen siebten Platz bei der Konkurrenz. Als Unternehmerin, Schauspielerin und Moderatorin ist sie in der Folge ungleich erfolgreicher. Als sie sich 1998 für den amerikanischen „Playboy“ ablichten ließ, wurde die Nummer die erfolgreichste nach der Cover-Story des Magazins über Marilyn Monroe. 2009 trat sie im Berliner Dom als „Buhlschaft“ im „Jedermann“ auf, diverse Auftritte im Privatfernsehen schlossen sich an.

Heute lebt Katarina Witt als Unternehmerin im Reichshauptslum, ihr Privatleben hält sie versiert unter Verschluss. Eine nach ihr benannte Stiftung kümmert sich um Kinder mit Behinderung, parallel dazu vertreibt sie eine Fitness-App und ist Besitzerin mehrerer Fitnessstudios. Anfang 2021 äußerte sie sich kritisch zur chronischen flächendeckenden Schließung des öffentlichen Lebens durch die Bundesregierung im Zuge der Corona-Pandemie; zudem fühlte sie sich durch die einseitige Diskussion der politischen Maßnahmen an den engen Meinungskorridor in der DDR erinnert. Katarina Witt ist der Solitär geblieben, der sie von klein auf war, allen Prägungen durch das sozialistische und später kapitalistische Milieu zum Trotz. Durch ihre makellose Schönheit erzeugt sie bei vielen Menschen ein Gefühl der Schüchternheit – doch die Rolle der Unerreichbaren scheint ihr zu gefallen. „Carmen“ verbrennt schließlich auch jene Männer, die ihr zu nahe kommen.