Keres

Wann immer die Frage nach dem stärksten Schachspieler, der niemals Weltmeister wurde, gestellt wird, fällt verlässlich der Name Paul Keres. Der estnisch-sowjetische Großmeister zählte rund 30 Jahre zur Weltspitze, ohne jemals ein Match um den Thron zu spielen. Dieser traurige Umstand brachte ihm den Beinamen des „Ewigen Zweiten“ ein.

Paul Keres wurde 1916 im estnischen Narva geboren, direkt an der Grenze zu Russland, er wuchs in der alten Universitätsstadt Tartu auf. Zum Schach fand er in der Kindheit, als er seinem Vater beim Spielen zusah. Da die Schachszene im kleinen Estland, erstmals unabhängig seit 1918, überschaubar war, wandte sich Keres zu Trainingszwecken dem Fernschach zu, was seine analytischen Fähigkeiten enorm schulte; bis zu 150 Partien spielte er gleichzeitig.

Das Studium der Mathematik trug dann seinen Teil zur Herausbildung eines kristallklaren Spielstils bei. In den 1930er Jahren gewann er mehrmals die estnische Meisterschaft, nach seinem Sieg beim legendären, äußerst stark besetzten AVRO-Turnier 1938 in den Niederlanden durfte er sich als legitimer Anwärter auf ein Match gegen den amtierenden Weltmeister Alexander Aljechin betrachten. Als starker Tennisspieler nahm er zudem an den Landesmeisterschaften teil.

Doch der 1939 ausbrechende II. Weltkrieg machte Keres‘ Hoffnungen auf einen Titelkampf jäh zunichte, mit seiner Familie geriet er in den Mahlstrom des Terrors. Im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes wurden die drei souveränen Baltenrepubliken Estland, Lettland und Litauen 1940 von der Sowjetunion annektiert, Keres‘ Bankkonto samt seiner Turnierpreisgelder wurde verstaatlicht. 1941, nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, wurde das Baltikum von deutschen Truppen besetzt. Um den Lebensunterhalt für seine Familie zu bestreiten, nahm Paul Keres an einigen Schachturnieren im deutsch kontrollierten Teil Europas teil, zudem gab er Simultanvorstellungen für Soldaten der Wehrmacht. 1944, als die Deutschen aus dem Baltikum verdrängt wurden und die Rote Armee auf Estland marschierte, verpasste Paul Keres die Flucht über die Ostsee nach Schweden, er wurde endgültig Sowjetbürger.

Viele Namenlose mit einer vergleichbaren Biografie der Kollaboration wurden in der UdSSR nach 1944 erschossen oder in den Gulag deportiert. Paul Keres blieb dieses Schicksal erspart, ihm wurden allerdings in der Nachkriegszeit von den Behörden Reisen zu Turnieren ins Ausland untersagt; stattdessen gewann er 1947 erstmals die Landesmeisterschaft der Sowjetunion. Hartnäckig hielt sich das Gerücht, dass er 1948 beim WM-Turnier in Den Haag und Moskau, das nach dem Tode Alexander Aljechins 1946 notwendig wurde, viermal zwangsweise gegen den künftigen Weltmeister Mikhail Botwinnik, den Liebling des Politbüros der KPdSU, verlor. Keres, ein distinguierter Herr mit tadellosen Manieren, hat diese Darstellung genauso wenig kommentiert wie die Frage nach einer möglichen Emigration; als starker Großmeister arrangierte er sich im Schach der Sowjetunion und genoss die Privilegien, die den „Staatsamateuren“ des Sports zuteilwurden.

Seine Ambitionen auf ein Match um die Krone gab er allerdings nicht auf. In den 1950er und frühen 60er Jahren wurde er viermal Zweiter bei Kandidatenturnieren und verpasste die Qualifikation für den Titelkampf um Haaresbreite. Er vertrat die UdSSR regelmäßig bei Schacholympiaden, verfasste Bücher zur Eröffnung sowie zum Endspiel und trat als Problem- und Studienkomponist in Erscheinung. In den 1970er Jahren war er gar als Präsident des Weltschachbundes FIDE im Gespräch; als er gefragt wurde, ob er ohne Rücksprache mit der sowjetischen Schachföderation eine Kandidatur für dieses herausgehobene Amt anmelden könne, antworte er melancholisch, selbstständig könne er nur Bücher schreiben. Paul Keres starb 1975 in Helsinki an einem Herzinfarkt, er erhielt ein Staatsbegräbnis auf dem Waldfriedhof Pirita bei Tallinn. Die Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit im Zuge der Epochenwende 1989/91 hat er nicht mehr erlebt.

Im postsowjetischen Estland wird Paul Keres als Nationalheld gefeiert. Anfang der 1990er Jahre gab die estnische Staatsbank einen 5-Kronen-Schein mit dem Konterfei Keres‘ in Umlauf, anlässlich der 100. Wiederkehr seines Geburtstages 2016 wurde sein Porträt auf eine 2-Euro-Münze geprägt. Diese Ehre wurde keinem anderen Schachspieler weltweit zuteil. In der Hauptstadt Tallinn erinnert eine Stele im Park an den stärksten Großmeister des Landes, in seiner Geburtsstadt Narva wurde 2016 eine Plastik mit der Schlussstellung seiner letzten Partie enthüllt.

In Keres‘ Vita spiegelt sich die tragische Geschichte des kleinen baltischen Staates, der auffällig viele Profimusiker hervorgebracht hat und heute zu den europäischen Pionieren der Digitalisierung zählt. Paul Keres bleibt ein majestätischer Botschafter des Schachspiels und ist darüber hinaus eine willkommene Identifikationsfigur für die rund eine Million Esten in ihrem Misstrauen gegenüber dem großen und bisweilen unheimlichen Nachbarn Russland.