Kinderhymne

Anmut sparet nicht noch Mühe
Leidenschaft nicht noch Verstand
Daß ein gutes Deutschland blühe
Wie ein andres gutes Land.

Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.

Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.

Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir’s
Und das liebste mag’s uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.

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Diesen Text, der den Titel „Kinderhymne“ erhielt, schrieb Bertolt Brecht im Jahr 1950 als Teil eines Zyklus von Kinderliedern; von Hanns Eisler wurde dazu eine chansoneske Melodie komponiert. Brecht schrieb den Text in bewusster Abgrenzung zum romantischen „Lied der Deutschen“ von Hoffmann von Fallersleben (1841), dessen dritte Strophe zur Nationalhymne der gerade gegründeten Bundesrepublik Deutschland werden sollte. Die „Kinderhymne“ stellt sich in ihrem Zukunftsoptimismus neben „Auferstanden aus Ruinen“ von Johannes R. Becher, das (ebenfalls von Hanns Eisler vertont) 1949 im Auftrag des SED-Politbüros entstand und zur Nationalhymne der DDR wurde. Im Wendejahr 1990 wurde aus der Bürgerrechtsbewegung angeregt, die frappierend aktuelle und liberale „Kinderhymne“ zum Jubelchor des vereinigten Deutschlands zu machen – allerdings ohne Erfolg, diese blieb das „Lied der Deutschen“.

Das Versmaß des Brechtschen Gedichtes ist exakt das gleiche wie das der Gedichte Bechers und Fallerslebens, es lässt sich sowohl zur Komposition Eislers als auch Joseph Haydns österreichischer Kaiserhymne (1797) singen; es harmoniert obendrein auch mit dem von Friedrich Schiller geschriebenen Schlusschor „Ode an die Freude“ der 9. Sinfonie Ludwig von Beethovens (Erstaufführung 1824). Brecht zeigt sich in der „Kinderhymne“ einmal mehr als Meister der verknappten Form, ohne pädagogischen Eifer in Anschlag zu bringen. Ohne Pathos und Schnörkel, mit schlichter Syntax im nahen Präsens ruft er zum Aufbau eines „guten Deutschlands“ auf, das seine territorialen Grenzen als Folge des II. Weltkriegs akzeptiere, sich in die Familie der Völker einreihe und von seinen Bewohnern (m/w/d) gleichermaßen geliebt werde. Dieser gesunde Patriotismus, erstaunlich frei formuliert gerade fünf Jahre nach dem Ende des Naziregimes, dessen steinerne und ideologische Trümmer noch allgegenwärtig waren, steht für eine nationale Kontinuität über die Systemgrenzen von Ost und West hinweg.

Ausgerechnet Brecht, überzeugter Kommunist und kühler Apologet Josef Stalins, verficht in seiner „Kinderhymne“ das Recht auch Deutschlands, von seinem Volk geliebt zu werden. 70 Jahre nach Entstehung dieser Zeilen dürfte sein Appell im Deutschland der Gegenwart eher Befremden, gar Unverständnis hervorrufen. Jedes Land der Welt wirft sich an seinem Nationalfeiertag groß in Schale – Deutschland begeht das wunderbare Datum seiner Vereinigung in Frieden und Freiheit als drögen Verwaltungsakt bar jeden Zeremoniells. Voller Scham wird deklamiert, dieses Land müsse in einer „Bundesrepublik Europa“ aufgehen, dürfe für seine Nachbarn nie wieder zur Bedrohung werden. Dieser peinliche Moralüberschuss verhindert, dass sich dieses Land unverkrampft für seine Interessen einsetzt und von seinem Volk „wie ein andres gutes Land“ beschirmt wird. Den Deutschen steht die permanente, staatlich verordnete Erinnerung an jene 12 Jahre im Weg, dabei ist die Hauptfunktion des Gedächtnisses das Vergessen.