Ende Mai erscheint der sechste und letzte Band der autobiographischen Saga „Mein Kampf“ von Karl Ove Knausgård auf Deutsch. Der norwegische Autor macht mit seinen Büchern die Menschen nicht nur seiner Heimat rollig, auch hierzulande tauchen die Leser*innen in die uferlose Beschreibung einer inszenierten Welt, auf der Suche nach dem einen Moment à la Knausgård. Eine Annäherung an ein beispielloses literarisches Phänomen anhand des vierten Bandes der Serie, 2010 im Orginal erschienen und schlicht „Leben“ betitelt.
Mitte der 1980er Jahre, Karl Ove Knausgård ist 18 Jahre alt und hat gerade sein Abitur gemacht. Er sucht sich eine Stelle als Aushilfslehrer nahe Tromsø, um dort ein Jahr lang Geld zu verdienen und zu schreiben, sein Lebensziel lautet Schriftsteller. Sein emotionaler Kosmos wird vermessen durch die Bücher von Hubert Selby, Jack Kerouac, J. D. Salinger und Charles Bukowski: „Bücher über junge Männer, die sich in der Gesellschaft nicht zurechtfanden und etwas mehr vom Leben wollten als Routine und Familie, kurz gesagt, junge Männer, die Bürgerlichkeit verabscheuten und die Freiheit suchten. Sie reisten, sie betranken sich, sie lasen, und sie träumten von der großen Liebe oder dem großen Roman. Alles, was sie wollten, wollte ich auch.“ Der selbsternannte Nonkonformist Karl Ove Knausgård ist kaum älter als seine Schüler*innen, unsicher im Umgang mit Frauen, trinkt entschieden zuviel Schnaps und schwankt in der Beurteilung seiner schriftstellerischen Versuche. Mit stiller Beharrlichkeit verfolgt er sein Ziel, am Ende seines Lehrerjahres steht die Aufnahme an der Akademie für Literarisches Schreiben in Bergen.
Von „Leben“ geht, ungeachtet des dünnen Handlungsfadens, ein sich selbst verstärkender Sog aus. Dabei ist des Autors Sprache keineswegs sonderlich kunstvoll, die Sätze sind nicht übertrieben lang oder durchsetzt mit seltenen Wörtern; die Sprachebene ist durchgehend die einer sachlichen Reportage, die Perspektive ist stets die des Ich-Erzählers, der sich über Seiten in detaillierten Beschreibungen trivialer Begebenheiten verlieren kann. Der märchenhafte Erfolg des Projektes, mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt, dürfte darin liegen, dass es quer zum Zeitgeist liegt: Heute wissen bereits Zwölfjährige, wo sie ihr Studium der Betriebswirtschaft aufnehmen und in welcher NGO sie ihr erstes Praktikum absolvieren – Karl Ove legt keinen gesteigerten Wert auf Statussymbole, folgt stattdessen seinem inneren Kompass in Richtung Literatur. Heute wird durch mobile Telefone und soziale Netzwerke eine 24/7-Aufmerksamkeit generiert, die für jede Information nur Sekunden reserviert – Knausgård findet auf über 600 Seiten Text immer wieder die Muße, dem Schnee beim Fallen zuzusehen. Insgesamt ein Tempo, das zum Innehalten animiert, Lesen als Meditationserfahrung.
Knausgårds Bücher sind unabweisbar eingelassen in die grandiose, kaum besiedelte Landschaft Norwegens. Das Wasser, die Stille und der Wind sind ständige Begleiter der Menschen, die endlosen Wälder ebenso wie die schroffen Berge, vor allem aber das Nordlicht mit der Monate währenden Dunkelheit im Winter und der surrealen Helligkeit im Sommer: „Der Mai ging, der Juni begann, und alles schien sich im Licht aufzulösen. Die Sonne ging nicht mehr unter, sie wanderte Tag und Nacht über den Himmel, und das Licht, das sie über die wilde Landschaft warf, hatte ich noch nie gesehen. Dieses Licht war rötlich und voll, es schien der Erde und den Bergen zu gehören, sie strahlten wie nach einer Katastrophe.“ In solch plastischen Beschreibungen liegt die ruhige Stärke des Autors; unter seiner Hand werden die Menschen zur Kreatur, die sich aller kulturellen Errungenschaften zum Trotz ihrer Abhängigkeit von den Launen der Natur bewusst ist. Dabei werden ihre Gedanken, Worte und Taten nicht bewertet, eine Trennung in Wichtig oder Unwichtig ist nicht intendiert, alles hat seine Zeit und seinen Ort, auch die Identitätsprobleme Karl Oves auf der Schwelle zum jungen Mann.
Dabei lassen sich der Autor und sein Held nicht in Deckung bringen, es muss offen bleiben, was Biographie ist, was Phantasie und Traum. Für Knausgård ist die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion eine Konstruktion, er schafft sich seine Welt mit Hilfe des Schreibens neu, Erinnertes und Ersehntes parallel integrierend. Dabei hat sein protestantischer Bekenntniszwang etwas Peinigendes für das Publikum, das gar nicht so genau wissen will, was es mit seinem frühzeitigen Samenerguss, seiner Vorliebe für britische Indiebands und seinen bedenklichen Alkoholexzessen auf sich hat. Es ist die gnädige Reife des über 40 Jahre alten Autors, die die Häutungsschmerzen des Jünglings erträglich macht. Jede Epoche im Leben hat ihr Gewicht, sie nimmt die Prägungen durch andere Menschen auf und konserviert sie im sich verändernden Ich; Kindheit und Jugend sind Gegenden, die man mit Menschen bereist hat, die nun fort sind: „Wir leben unser Leben nicht allein, doch das bedeutet nicht, dass wir diejenigen sehen, mit denen wir es zusammen leben.“ Das Leben ist die Geschichte, die ich anderen und mir darüber erzähle. In diesem Sinne sind Bücher wichtige Gedächtnisstützen.