Kollegin

Sie war eine auffällige Erscheinung. Kerstin musste automatisch an einen Kobold denken, als sie ihrer das erste Mal ansichtig wurde. Ihre Kollegin war klein, maximal 1 Meter 60 groß, dazu von zierlicher, fast zerbrechlicher Gestalt. Ihr Körper war von der ungelenken Anmut eines präpubertierenden Mädchens, sie konnte ihre Kleider ohne Probleme in der Jugendabteilung kaufen, modische Aspekte einmal hintangestellt. Ihr Kopf schien im Kontrast zum Leib übermäßig groß, ihre Haare, die sie in einem gestuften Pagenschnitt trug, waren nicht koloriert und hatten ein Farbgemisch zwischen Gletschergrau und Praxisweiß erreicht. Ihre Bewegungen und ihr Gangbild verwiesen auf jahrelanges Training; Kerstin wusste, dass sie mit dem Rad zur Arbeit fuhr und tippte auf Schwimmen und Yoga als Übungen zu Kraft, Flexibilität und Geschmeidigkeit.

Ohne konkrete Absicht öffnete Kerstin während ihres Urlaubs ihr Postfach, überflog unmotiviert die Neueingänge und blieb an einer Nachricht der Personalabteilung hängen. Als sie sie öffnete und las, stieß sie unweigerlich einen Seufzer auf und hob den Finger vom Steuerungsfeld ihres Laptops. Ihre Kollegin Frau Severin war tot, schrieb die Personalabteilung an alle Beschäftigten der Fraktion, verstorben im Alter von 49 Jahren. Es folgten dürre Informationen zum Arbeitsfeld in der Fraktion und zur Dauer ihrer Beschäftigung im Haus, abgerundet vom Mitgefühl mit den Angehörigen. Ein Termin sowie ein Ort der Beerdigung wurden nicht genannt, ebenso fehlten Hinweise auf Art und Ursache des Todes. Gegebenenfalls wussten die Kollegen aus der Personalabteilung hierzu selbst nichts.

Kerstin meinte sich zu Boden geworfen von dieser Nachricht, als sei ihrem Stuhl ein Bein entwendet worden. Sie mochte diese Kollegin sehr und fühlte sich ihr nahe, soweit es das politische Tagesgeschäft in der Schlangengrube des Bundestages zuließ. Ihre Gemeinsamkeiten stellten sie während anfangs zwangloser, später intensiver und herzlicher Gespräche auf dem Flur fest; sie hatten ihre Büros auf derselben Etage im ehemaligen, in den 1990er Jahren kaputtsanierten Ministerium für Außenhandel der DDR Unter den Linden, das von außen so einladend wie ein Hochbunker wirkt, von dessen dunkel getäfelten Gängen im lichtarmen Inneren enge Arbeitszellen abgehen. Sie trafen sich im Kopierraum, auf der Toilette oder in der Teeküche und fanden dort intuitiv eine Sprache, die ihrer jeweiligen Situation gerecht wurde.

Es stellte sich heraus, dass ihre entsprechenden Arbeitskreise – hier Innen, da Digitalisierung – von einer vergleichbaren Dynamik gekennzeichnet waren. Der jeweilige Leitende Referent war darauf erpicht, als Stratege und Kommandeur aufzutreten, über Anweisungen zu kommunizieren und sich Fragen und Diskussionen zu verbitten. Beide standen bei den Leitern ihrer Arbeitskreise, also bei den Abgeordneten, ob ihrer Vergangenheit im Ministerium in hohem Ansehen, das fachlich durchaus gerechtfertigt sein mochte, menschlich aber keineswegs. Frau Severin war mit den Nerven herunter, als sie ihr zum ersten Mal am Kopierer ihr Elend schilderte. Kerstin hörte zu, stellte Zwischenfragen und kommentierte, dabei die Zeit und die offen stehende Tür ihres eigenen Büros vergessend. Ihre Kollegin war auf der Suche nach einer Lösung, sie wollte in der toxischen Konstellation mit ihrem nominellen Vorgesetzten nicht länger bleiben, ihre MdB verhielten sich ob des Konfliktes unzuständig, Bewerbungen in die Ministerialbürokratie waren bislang ohne Erfolg.

Und dann machte ihr ein Abgeordneter das Angebot, als persönliche Referentin in sein Büro zu wechseln, um dort wissenschaftlich, publizistisch und organisatorisch zu arbeiten. Eine Tätigkeit, die die Volljuristin mit ihrer zwei Jahrzehnte währenden Erfahrung in Großkanzleien im südlichen Afrika prinzipiell nicht vor Schwierigkeiten gestellt hätte. Allerdings, und hier gab es eine weitere Parallele zu Kerstin, war sie gesundheitlich angeschlagen, sie deutete eine zurückliegende Krebserkrankung an und eine schwindende Belastbarkeit, seelisch wie leiblich. Die projektierte Arbeit im MdB-Büro wäre nicht in 40 Wochenstunden zu bewältigen gewesen, die dortige scharfe Gangart, vertraut aus der Tätigkeit als Anwältin, hätte sie nicht mehr gehen können, ungeachtet ihrer Neigung zu Perfektion und Verlässlichkeit. Nach einem Aufenthalt im Frühjahr an der Ostseeküste, von der sie stammte, entschied sie sich gegen das lukrative Angebot, sich instinktiv vor zu viel Arbeit und Zeitraub schützend.

Beim gemeinsamen Reflektieren ihrer beruflichen Perspektiven erfuhr Kerstin, dass die Kollegin im letzten Jahr mehrere Monate krankheitsbedingt ausgefallen war und auch jetzt regelmäßig sich in ärztliche Behandlung begab. Sie sprach von Schmerzen in Rücken und Nacken von unklarer Quelle, ihre Ärztin vermutete einen Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule, gegen die heftigen Schmerzattacken wurden ihr Opiate verschrieben, die ihr die Arbeit zwar erlaubten, aber auch einen Schleier über ihren Geist zogen. Schluckend hörte Kerstin zu und fand doch nur leere Worte der Aufmunterung. Heute nimmt sie an, dass Frau Severin an einem Hirntumor litt und verstarb, von dem sie entweder vor einigen Monaten noch nichts wusste oder von dem sie nicht erzählen wollte. Wie sehr musste sie gekämpft haben um ihr Leben, ihre Gesundheit, ihre Zukunft, wie gerne wollte sie sich noch einmal verlieben, wie sie freimütig bekannte – der frühe Tod zog einen Schlussstrich unter alle Vorhaben.

Und dann nahm sie sich ihrerseits ausgiebig Zeit, Kerstin bei der Schilderung ihrer Probleme mit ihrem Kollegen zuzuhören und mit ihr nach Lösungen zu suchen. Schon damals hatte Kerstin den Eindruck, durch diese Aufmerksamkeit beschenkt zu werden; ihre Kollegin war so gar nicht zynisch, kalt und abgebrüht, wie es so viele Referenten in ihren Reihen waren, sondern sensibel, wach und warmherzig. Kerstin fühlt sich heute beschämt, wenn sie an diese Gespräche denkt: Die Kollegin musste bereits geschwächt gewesen sein und fand dennoch die Kraft und den Willen, sich mit den Belangen einer anderen zu beschäftigen. Oder vielleicht gerade deshalb, um von der eigenen bedrohlichen Situation eine kurze Auszeit zu nehmen? Diese Frage bleibt für Kerstin ohne Antwort.

Zum Ende ihrer Sommerfrische blickt Kerstin ernüchtert auf ihre Zukunft im Parlament. Sie wird Frau Severin nicht mehr wiedersehen, weder zum Mittagessen in der Kantine noch zu einem Schwatz im birkenbestandenen Innenhof, auch wird es keine Mitberatung der Anträge des jeweils anderen Arbeitskreises geben, was gerade in den Fragen zur Regelung der Digitalisierung häufig vorkommt. Kerstin hat ihre Entscheidung getroffen, sie wird zum Herbst die Fraktion verlassen und im Büro einer Abgeordneten anheuern als Referentin für Künstliche Intelligenz und Digitalisierung – eine andere Möglichkeit, dem systematischen Mobbing des Leitenden Referentin zu entgehen, sieht sie nicht, die Personalabteilung stellt sich diesbezüglich tot. Das Gefühl des Schicksalhaften wächst in Kerstin, angesichts des Todes einer nahen Kollegin verliert die Wahl zwischen zwei Optionen an Schrecken.

Zu gerne nähme Kerstin an der Beerdigung von Frau Severin teil, ihr eine rote und eine gelbe Rose mit ins Grab gebend. Sie hatte einmal von ihrer noch lebenden Mutter gesprochen, eventuell wird sie in der Heimat bestattet, Partner oder Kind hatte sie nicht erwähnt. Kerstins eigener Krebs der Zunge, dessen Operation mit anschließender Bestrahlung vor knapp 30 Jahren zu einer chronischen Entstellung und damit Unberührbarkeit geführt hatte, wird durch den Tod ihrer Kollegin wieder ins Bewusstsein gehoben. Beim Benutzen von Zahnseide schweifen ihre Augen durch die Mundhöhle, um ein Rezidiv bereits im Ansatz zu erkennen, jedes diffuse Kratzen im Rachen registriert sie beunruhigt. In der ersten Woche nach ihrem Urlaub hat Kerstin einen Kontrolltermin bei ihrer HNO-Ärztin. Sie verspürt eine Verzweiflung darüber, dass Frau Severin eine Chance zum Weiterleben nicht bekommen hat. Gottlob kann sie diese schwärende Leere heute Abend mit in die Messe nehmen.