Korsika

Kerstin fühlte die Bewegung nicht, sie ging in ihr auf. Sie war wie ein Husky im Geschirr, identisch mit dem Auf und Ab der Knie, dem Kontrahieren der Waden und Schenkel. Ihre Hände umschlossen die Lenkergriffe, ohne dass sie die Richtung hätte bestimmen können. Ihre Wirbelsäule war oberhalb des Beckens leicht nach vorn geknickt und hielt den Rücken in der anatomisch angenehmen Form, den Nacken sacht gestreckt, die Schultern entspannt, die Ellenbogen angewinkelt.

Der Duft der Macchia war noch betörender, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie mussten mittlerweile landeinwärts fahren, der Salzdunst nahm peu à peu ab, zumal der Wind offenbar Richtung Meer blies; das berauschende Gemisch der anspruchslosen, dem Ginster und dem Heidekraut verwandten Vegetation, die weite Teile der felsigen Insel bedeckte und im Frühling in unzähligen Knospen explodierte, ließ wenig Raum für weitere Sensationen. Jetzt im Oktober hatten die ätherischen Öle von Lavendel, Thymian, Salbei und Minze eine Konzentration erreicht, die für Menschen halbwegs erträglich war, ohne sie vollends um den Verstand zu bringen. Unwillkürlich sog Kerstin den süßen Duft der Fruchtbarkeit ein, um ihn in jeder Pore festzuhalten.

Kerstin hörte Stellans Atemzüge bei geöffnetem Mund. Das langsame, aber gleichmäßige Tempo bedeutete, dass sie sich im Anstieg zum Bocca di Palmarella befanden. Der Straßenbelag schien den dünnen Reifen wenig Rollwiderstand entgegenzusetzen, keine Selbstverständlichkeit auf dieser Insel mit ihrem schütteren Straßennetz im Hinterland der Küste. Die Kette surrte kaum vernehmlich über Blatt und Ritzel, ihr Tritt wurde eine Spur leichter; das blanke Klicken war das Einrasten des nächstniedrigen Ganges gewesen, die Rampe wurde steiler. Auf ihren nackten Unterarmen lag dauerhafte Wärme, die Straße wurde kaum von Bäumen gesäumt, die Schatten hätten werfen können. Lediglich der Wind begleitete mit seinem Säuseln die Monotonie des Kurbelns, auf und ab im runden Tritt.

Ihre linke Rückenpartie wurde wärmer, auf ihrer Stirn bildeten sich Streifen aus Schweiß, ihre trocknenden Lippen schmeckten erstes Salz. Kerstin ging kurz aus dem Sattel in den Wiegetritt, um ihren Po zu entlasten; das aufrechte Treten ließ sie beide ein wenig schaukeln. Sie lungerte ja nicht in einer Rikscha, sondern saß auf einem Tandem, sich dabei Stellans Steuern überlassend. Er schien zu spüren, welches Tempo er ihr zumuten konnte, welche Trittfrequenz beiden genehm war, schließlich musste sie seine Vorgabe halten können. Halleluja, wie liebte sie diesen Mann dafür. Sie verschmolzen mit dem Rahmen aus Carbon, wurden eine gemeinsame Bewegung auf dem Weg nach oben.

Er hatte nur geschmunzelt, als sie ihm gesagt hatte, dass sie sich eine Fahrt auf die Hochebene mit verbundenen Augen wünschte, um so den Geruch und die Stille der Insel noch inniger wahrzunehmen. Das hieß, dass er vorn auf dem Tandem den Takt bestimmte; und er wusste intuitiv, dass sie sich ihm nahe und von ihm beschützt fühlen wollte, ganz so, als sei die Tour ein BDSM-Spiel über Kontrolle und Geschehenlassen. Er rollte ein weißes Tuch und bedeckte damit ihre Augen, umfasste ihre Taille und führte sie zum startbereiten Rad. Bevor er in die Pedale trat und das Rad dem Fließgleichgewicht übergab, streichelte er ihr noch die Wangen. Sie lächelte ins Dunkel.

Das Tuch über ihren Augen war feucht geworden, die Nässe der Verausgabung sammelte sich im leinenen Gewebe. Eine Böe traf sie frontal, sie mussten an Höhe gewonnen haben im sich weitenden Tal, der Pass konnte nicht mehr weit entfernt sein. Kerstin beugte sich weiter vor, ihre rechte Hand löste sich vorsichtig vom Griff, tastete zögerlich und fand Stellans unteren Rücken; sie schob sein Radlershirt nach oben und spürte seine Lendenwirbelsäule mit dem sie umgebenden mageren Fleisch. Die Vorsprünge, die sie fühlte, waren keine Knöpfe, sondern die Fortsätze der Wirbel, die unter der Haut deutlich auszumachen waren. Diese Körperregion zählte zu den vielen, die sie an Stellan so liebte; vielleicht, weil er mit seinen Händen kaum je hier hinfasste, sodass sie die Gewissheit hatte, diese Stelle seines Körpers sei für sie reserviert.

Die Kehren wurden kürzer, ein Indiz dafür, dass die Passhöhe bald erreicht sein musste. Ein Schauer wohliger Ermattung schüttelte sie, als Stellan schließlich sagte, dass sie oben seien und er das Rad zum Stehen bringen wolle. Im Stand löste sie ihre Schuhe vorsichtig aus den Haltespangen der Pedale und nahm den Helm ab. Kaum hatte er ihr das Tuch abgenommen, kniff sie die Lider, zu heftig stach die Sonne aus einem unschuldig blauen Himmel. Hinter ihnen lag Galeria, eingehegt vom Naturhafen, wie eine Kupferader im Stein zog sich die Straße herauf; nach Süden öffnete sich der Hang im sanften Schwung zum Meer nach Girolata, das nur über einen Saumpfad sowie vom Wasser aus erreichbar war. Und im Landesinneren erhob sich der Monte Cinto auf alpine 2.700 Höhenmeter, von hier in klarer Sicht bereit zum Anfassen. So beglückend die Erfahrung der Blindfahrt für Kerstin auch gewesen war, wollte sie sie doch nicht wiederholen. Denn das hieße ja, dass sie Stellan dann nur würde hören, fühlen, riechen und schmecken können. Das wäre ihr aber zu wenig.