Kratt

Der estnische Weg der Künstlichen Intelligenz (KI) ist eine Fortsetzung der Digitalisierung der Verwaltung des baltischen Staates. Die Regierungen der 1990er Jahre haben nach der Implosion der UdSSR konsequent auf das junge Internet gesetzt. Sie machten das Beste aus dem Wegbrechen der Industrie, dem fehlenden papierenen Grundbuch und der ländlichen Struktur des Landes. Schnelles, stabiles WLAN in den Städten und in der Provinz ist selbstverständlich, fast alle staatlichen Dienstleistungen sind online erhältlich. Die Geschichte des modernen Estlands ist auch eine des WWW, im Global Cybersecurity Index liegt Estland auf Rang 5 (von 36 Ländern der OECD).

Im Mai 2019 hat die estnische Regierung eine Strategie bis 2021 zur Erprobung der KI vorgelegt. Geregelt werden die produktive Nutzung der neuen Technologie, die Mensch/Algorithmus-Interaktion und Fragen der Haftung. Die aufgesetzten KI-Lösungen haben den experimentellen Charakter eines Sandkastens, sie müssen nicht perfekt sein, sondern sollen Erfahrungen generieren. Die Regierung möchte hiermit die Produktivität der Wirtschaft steigern und Kosten sparen. Im öffentlichen Sektor gibt es bereits 27 Machine-Learning- Projekte, bis Ende 2020 sollen es 50 sein. Ein kleines Land wie Estland mit einer schrumpfenden wie alternden Bevölkerung (bei gleichzeitiger digitaler Expertise) sollte nach OECD-Empfehlung zwingend in KI-Lösungen zu investieren.

Namensgeberin der estnischen KI-Strategie ist „Kratt“, eine Gestalt aus der heimischen Mythologie. Derzufolge wurde sie aus Heu und alten Haushaltsutensilien geschaffen; ihr Herr musste, um Kratt sich dienstbar machen zu können, dem Teufel einen Tropfen Blut spenden. In diesem Sinn ist Kratt ein Artefakt ihres Schöpfers und ihm zur Hilfe verpflichtet, birgt aber das Potenzial, über ihn hinaus zu wachsen. Daraus ergibt sich der Auftrag, KI sorgsam und mit wachem Blick zu nutzen, dabei die Menschen vollumfänglich über ihren Einsatz zu informieren. Die KI-Strategie der estnischen Regierung profitiert vom Datenvolumen, das in den vergangenen 20 Jahren in der X-Road, aus technologischer und organisatorischer Sicht ein System zum Datenaustausch zwischen rund 800 öffentlichen und privatwirtschaftlichen Einrichtungen über das Internet, akkumuliert wurde.

KI-Lösungen werden versuchsweise beim Ausstellen von Zahlungsbescheiden, etwa bei Unterhaltsklagen bis zu 400 Euro im Monat oder beim Falschparken, eingesetzt. Für derlei Sachverhalte gibt es im estnischen Rechtssystem keine Gerichtsverfahren, Fälle dieser Dimension kommen jährlich etwa 32.000 Mal vor. Der Algorithmus prüft in einem gegebenen Fall die Fakten, trifft eine Entscheidung entlang geltenden Rechts und legt einen Zahlungsplan fest. Gegen solch einen Bescheid ist Widerspruch zulässig, dem sich dann in zweiter Instanz ein Mensch annimmt.

Die Tech-Firma Finestmedia hat eine Spracherkennungssoftware entwickelt, die die Debatten des estnischen Parlamentes aufzeichnet und in geschriebene Sprache transkribiert. Der Algorithmus wurde mit 1.500 Stunden akustischer Protokolle trainiert, seine semantische Erkennungsgenauigkeit wird mit 95 % taxiert, der Rest wird von menschlichen Korrektoren ausgeglichen. Die KI-Lösung ist darauf ausgerichtet, die Stimmen der Regierungsmitglieder wie jene der Abgeordneten zu erkennen und dem Gesagten zuzuordnen.

Die Erfahrungen der Jahre 2019/21 sollen ausgewertet werden, um darauf eine langfristige KI-Strategie zu entwickeln. Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid unterstreicht, dass ein kleines Land wie Estland nur einen Rohstoff „zwischen den Ohren“ habe. Daher müsse das Land weiter in Bildung investieren, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben und für Fachkräfte attraktiv(er) zu werden. Die kleinste der drei baltischen Republiken kann mit ihren Ressourcen weder im Hardwarebereich noch bei Cloudangeboten mit den global operierenden Konzernen mithalten, daher liegt der Schwerpunkt auf spezialisierten Angeboten in den Bereichen Finanzen, Mobilität und Gesundheit.

Vorbild ist die Videotelefonie Skype, 2003 entwickelt, mittlerweile Teil des Office-Paketes von Microsoft. Die App Bolt vermittelt Fahrdienste, mit der App TransferWise lassen sich weltweit Überweisungen tätigen, die App Veriff überprüft Identität und Bonität von Kunden. Knapp 6 % der Beschäftigten Estlands arbeiten im ICT-Sektor, rund 3.000 offene Jobs werden gegenwärtig in der Branche angeboten, das Gründen einer eigenen Firma ist eine Angelegenheit einer halben Stunde. Auf 100.000 Menschen kommen 42 Start-ups (in Deutschland fünf).

Komplementär zur Technikaffinität ist eine tiefe Liebe der Menschen zu ihrer ländlichen Umgebung zu beobachten; die weitgehend unberührte Natur wird als weicher Standortfaktor, der vergleichsweise niedrige Gehälter kompensieren soll, gepriesen. Der demokratische Staat soll sich gut liberal auf seine rahmenden Aufgaben für Wirtschaft und Gesellschaft beschränken, die Menschen gelten als Eigentümer ihrer Daten.

Die KI-Strategie Estlands setzt rhetorisch mit Kratt nicht umsonst in der nationalen Märchenwelt an. Das kleine Land, das ab dem 13. Jahrhundert vom Deutschen Orden christianisiert wurde, dann von Dänemark und Schweden beherrscht wurde und schließlich zwei Jahrhunderte als Ostseeprovinz zum Russischen Reich gehörte, bevor es nach einer kurzen Zeit staatlicher Souveränität ab 1940/44 zwangsweise Sowjetrepublik wurde, musste seine Identität stets gegen Imperien behaupten. Seit der wiedererlangten Unabhängigkeit 1991 positioniert sich das Land erfolgreich zwischen Tradition, Pragmatismus und Technologie.

Mutmaßliche Gründe für die weitgehende Akzeptanz von Digitalität und KI sind die dünne Besiedelung und damit weite Wege, die tiefgreifende Transformation des politischen Lebens nach 1991, die als Chance begriffen wurde, sowie kaum Vetoakteure bei nur einer legislativen Kammer. Nach der Finanzkrise 2008 hat sich der estnische Arbeitsmarkt wieder erholt; die Beschäftigungsrate ist mit 74 % der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter hoch, die Arbeitslosenquote mit rund 4 % gering. Allerdings schwelt der Konflikt mit den ethnischen Russen im Land, die rund ein Viertel der Bevölkerung (von insgesamt 1,3 Mio.) ausmachen. Mit Kratt werden diese sich kaum identifizieren können, bedauerlich angesichts der sowjetischen Ingenieurstradition.