Kriminell

Bei der Generalstaatsanwaltschaft München liegen anscheinend die Nerven blank. Am Mittwoch vergangener Woche wurden unter ihrer Federführung Wohnungen in mehreren Bundesländern durchsucht. Sie wirft mutmaßlichen Mitgliedern der „Letzten Generation“ vor, eine kriminelle Vereinigung gegründet zu haben respektive eine solche zu unterstützen. Dieses Vorgehen stellt eine neue Eskalationsstufe der Justiz in der Auseinandersetzung mit den Aktivisten dar, die in den letzten Monaten durch Straßenblockaden in deutschen Städten aufgefallen waren. Sie kreiden der Bundesregierung an, nichts Substantielles im Kampf gegen die menschengemachte Erderwärmung zu unternehmen.

Die Bildung einer kriminellen Vereinigung wird im deutschen Strafgesetzbuch (StGB) unter Paragraph 129 normiert. Deren Zweck ist auf „die Begehung von Straftaten gerichtet“, sie gilt weiterhin als „organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses“. Die Mitgliedschaft in einer so verstandenen kriminellen Vereinigung ist mit einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren, in besonders schweren Fällen mit bis zu zehn Jahren zu ahnden, ihre Unterstützung kann bis zu drei Jahre Gefängnis nach sich ziehen. Bisher haben Gerichte gegen angeklagte Klimaaktivisten Geldstrafen und zur Bewährung ausgesetzte Haftstrafen über mehrere Monate verhängt. Der ad nauseam wiederholte Vorwurf: Nötigung.

Die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ als kriminelle Vereinigung? Junge Menschen, mehrheitlich Frauen, die voller Idealismus und Sorge um die Zukunft ihre Jobs kündigen und ihr Studium ruhen lassen, um, wie sie es nennen, in Vollzeit in den Widerstand zu gehen und Straßen zu blockieren, als schnöde Straftäter? Bei diesem Begriff denkt die unbefangene Beobachterin eher an die ’Ndrangheta (Drogenhandel), das IOC (Korruption) oder die US-Regierung (Kriegsverbrechen). Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes Andreas Voßkuhle kommt in seiner Beurteilung der „Letzten Generation“ zu einer ähnlichen Einschätzung. Im Vergleich zur Anti-AKW-Bewegung, der Hausbesetzerszene oder gar der RAF gehe es hier eher um „harmlose Sandkastenspiele“, überdies sehe er eine „gewisse Orientierungslosigkeit“.

Sei’s drum, die polizeiliche Gewalt zeigt Wirkung. Einzelne Aktivisten, die nun stellvertretend drangsaliert werden, sprechen über ihre Angst, wollen sich aber nicht von ihrem Tun abbringen lassen. Sie müssen allerdings mit dem tiefen Eingriff in ihre Grundrechte leben: Es ist in diesem Land offenbar mit einem Wimpernschlag möglich, einen Internetprovider dazu zu zwingen, eine Webseite vom Netz zu nehmen. Weiter kann mit einem Stirnrunzeln ein Bankkonto eingefroren und so die komplette finanzielle Kommunikation der Betroffenen lahmgelegt werden. Genau das ist im Zuge der Razzia in der Woche vor Pfingsten geschehen, allerdings mit einem Bumerang-Effekt. An vielen Orten gab und gibt es Protestdemonstrationen gegen das autoritäre Vorgehen der Behörden, Spenden an die Gruppe fließen reichlicher denn je.

Man darf der bayerischen Regierung unterstellen, sich die Justiz des Freistaats gefügig zu machen; schließlich wird in Bayern im Oktober dieses Jahres gewählt. Es gehört seit jeher zum Repertoire der Machthaber, sich vor Wahlen als harter Hund sowie als Garant von Sicherheit und Ordnung zu präsentieren. Da kommt eine völlig überzogene Kriminalisierung der Aktivisten gerade recht, wenn man schon keine Argumente gegen deren Tun vorzuweisen hat. Auch unterhalb der Schwelle eines ordentlichen Gerichtsverfahrens sticht Bayern unrühmlich hervor. Dort ist es möglich, Aktivisten in eine Präventivhaft von 30 Tagen zu nehmen; die liberaleren Stadtstaaten Berlin und Hamburg verhängen dieses bedenkliche Mittel vorausschauender Polizeiarbeit über maximal zwei Tage.

Man muss die Endzeitrhetorik der „Letzten Generation“ nicht gutheißen. Die Gruppe fungiert aber als ein Indikator für das, was in diesem Land sakrosankt ist. Der Verkehrssektor, genauer der private PKW-Verkehr, ist nicht nur ein zentraler Verursacher des klimaschädlichen CO2, er ist auch verantwortlich für immer mehr krankmachenden Lärm, Dreck und Enge in den Städten. Die autogerechte Stadt der 1960er Jahre lebt in Deutschland ungebrochen weiter, egal, welche Partei gerade den Verkehrsminister stellt. So verweigert sich der aktuelle Amtsinhaber einem Tempolimit auf Autobahnen, dem Ende von Dienstwagenprivileg, Dieselsubvention und Pendlerpauschale sowie dem Rückbau von Parkplätzen und Fahrspuren. Die eigentliche kriminelle Vereinigung hat ihre Zentrale in der Invalidenstraße unweit des Hauptbahnhofes. Dort wird nach Informationen der Nachrichtenseite „Der Postillon“ bereits an einem Modellprojekt für die menschenfreie Innenstadt gearbeitet.

Man kann den Deutschen allerhand zumuten. Man kann ihnen eine Impfpflicht gegen eine mäßig gefährliche Atemwegserkrankung aufhalsen, man kann sie wochenlang unter Hausarrest stellen und ihnen das Reisen verbieten, man kann ihre Ersparnisse mit chronischer Inflation abschmelzen, man kann ihre Städte und Dörfer mit unberechtigten Asylbewerbern fluten – all das nehmen sie mit geradezu stoischem Gleichmut hin. Wenn es aber an ihr Auto geht, legen sie verlässlich die Reste zivilisatorischer Hemmungen ab. Sobald eine Autobahnzufahrt blockiert wird, werden deutsche Autofahrer zu echten Männern. Sie beschimpfen und bespucken die friedlich dahockenden Aktivisten nicht nur, sie treten ihnen ins Gesicht und in den Bauch, reißen sie an den Haaren und schleifen sie über den Asphalt, natürlich ohne dass die Polizei einschritte. Die ist schließlich hinreichend damit ausgelastet, Türen einzutreten, die Wohnungen von Verdächtigen zu stürmen, diesen eine geladene Pistole an den Kopf zu halten und ihnen ihre mobilen Endgeräte sowie Notizbücher wegzunehmen.

Ein Sprecher der Klimabewegung hatte vor einem halben Jahr die Prognose gewagt, ein Teil der Szene könnte bei chronischer Passivität der Politik zu militanten Mitteln greifen und in die Illegalität abtauchen. Danach sieht es derzeit nicht aus, im Gegenteil. Die jungen Leute zeigen ihre Gesichter und geben ihre Namen an, sie kündigen ihre Taten an und lassen bei Klebeaktionen stets eine Rettungsgasse auf dem Asphalt frei. Sie erinnern die Bundesregierung an ihre eigenen Gesetze und fordern deren Einhaltung. Doch steht zu befürchten, dass die Politik im Bund und in den Ländern sehenden Auges das Gegenteil tut. So soll etwa im Reichshauptslum die Stadtautobahn A 100 durch zentrale Bezirke verlängert werden, für 450 Mio. Euro pro Kilometer, unter Abriss von Parks und Wohnblöcken. Absurder Alltag im so versiegelten wie überbevölkerten Deutschland.

Selbst Antonio Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, die noch am ehesten das globale Vorgehen in der Klimakrise koordinieren könnten, zeigte sich ob der deutschen Hilflosigkeit und Brutalität ihrer ermittelnden Beamten bestürzt. Wohl erst im Abstand von Jahrzehnten wird man die gegenwärtigen Proteste gegen die motorisierte Gewalt und ihre juristische Bekämpfung in den Städten richtig einordnen können: Als Beharrungskräfte der Motormafia oder als Beginn einer Verkehrswende, die ihren Namen verdient. In diesem Fall wäre die „Letzte Generation“ keine kriminelle Vereinigung, sondern ein Schrittmacher eines gesellschaftlichen Wandels. Oder um es mit den Worten der Fans des FC Sankt Pauli zu sagen: Kleben ist kein Verbrechen.