Der Begriff der „Krise“ hat im politischen Diskurs eine stabile Konjunktur. So war in den Jahren 2008ff. von einer Finanzkrise die Rede, an die sich eine Vertrauenskrise der politischen Institutionen anschloss. Und seit dem Sommer letzten Jahres macht das Wort von der Flüchtlingskrise die mediale Runde, im Zuge des Zustroms von Millionen Menschen aus dem Nahen Osten und Nordafrika nach Europa und Deutschland. Ist dieser Begriff geeignet, die aktuelle Situation adäquat zu beschreiben oder schürt er nur unnötig Ängste?
Im allgemeinen Sprachgebrauch seit dem 18. Jahrhundert ist die Krise eindeutig negativ besetzt; der Duden schlägt als Synonyme etwa die Ausweglosigkeit, das Dilemma oder die Misere vor. Im ursprünglichen Sinn ist die Krise nach dem Pschyrembel, dem klinischen Wörterbuch der Medizin, als Wendepunkt eines Krankheitsverlaufs definiert, ab dem eine Linderung oder aber eine Verschlimmerung der Situation zu erwarten ist. Die griechische Wortspende der krisis meint die Entscheidung resp. die Trennung; in den Worten kritisch und Kriterium schwingt diese Bedeutung nach, ergänzt um die Konnotation des Bewertens und des Urteilens.
Die Geschichte der politischen Ideen kennt von Beginn an die Medizin als Metaphernquelle: So betrachtete die römische Antike Senat und Volk als aufeinander angewiesene Glieder und Organe eines Leibes, so hob Thomas Hobbes im Barock die zahlreichen Individuen über den Vertrag im ideellen Staatskörper des Leviathan auf, so pervertierten die Nationalsozialisten die Vorstellung der Volksgesundheit durch die Denunziation der Juden als Schädlinge. Aufstieg und Fall gewaltiger Imperien lassen sich historisch beobachten als Lebenszyklen, die auf der Ebene des Volkes resp. der Gesellschaft das Werden und Vergehen des Einzelnen wiederholen.
So gesehen, ist der vornehmlich medizinisch verstandene Begriff der Krise hervorragend geeignet für den politischen Diskurs, kommuniziert er doch eine Entwicklung, über deren Richtung zum Guten oder Schlechten noch nicht abschließend entschieden ist. Vor allem drückt er aus, dass es im Umgang mit den Flüchtlingen noch keine Routine gibt, weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene. Politisch kann die Krise verstanden werden als Impuls für die Suche nach Lösungen – oder wieder medizinisch: nach Rezepten zur Bewahrung der Gesundheit resp. des Friedens.