Diesen Termin hätte Sascha sich am liebsten geschenkt. Aber ihn zu schwänzen wäre einem Affront gegen den Teamgeist und das ungeschriebene Gesetz zur Feststellung sozialer Kompetenz gleichgekommen. Die Arbeit dieser Woche ist geschehen, die Sitzungszeit dieser Legislatur geht zu Ende, die parlamentarischen Ferien stehen ins Haus – all das wird mit einer Flurfeier begangen, zu der die Kommandeure und ihre Schatten geladen sind. Es ist ein Pflichttermin, obwohl er nach einer Kür aussieht, mit impliziter Tagesordnung.
Größere Treffen in informeller Runde gehören definitiv nicht zu Saschas Stärken. Sie trifft sich am liebsten zu zweit, ungestört und mit ausreichender Zeit für das Gespräch. Drei Leute gehen auch, zu viert ist es gerade noch erträglich, alles darüber fängt an, sie zu stressen. Sie kann ihre Aufmerksamkeit nicht verteilen, ihre Kapazitäten zur Aufnahme und Sortierung von Reizen sind schnell erschöpft. Sie fühlt sich beobachtet und schlecht bewertet, sie sieht sich in kein soziales oder gar erotisches Raster passen. Sie ist peinlich berührt, wenn ihre Kollegen und ab und an auch ihre Vorgesetzten von ihrem Leben abseits der Arbeit erzählen, von Partnern, von Kindern, von Vergnügungen, wenn sie Fotos von Reisen oder vom Geburtstag oder vom Grillen freischalten. Sie hat nichts dergleichen anzubieten, nicht nur sie wird sich fragen, was denn mit ihr nicht stimme. Alle scheinen davon auszugehen, dass sie ohnehin niemanden an ihrer Seite hat, wie sollte sie auch. Niemand fragt.
Der Nackenschlag der vergangenen Woche kam ungewollt von ihrem direkten Kollegen, mit dessen herablassender Art sie ohnehin nicht zurechtkommt. Er ist noch einmal Vater geworden und wird dazu vom gesamten Team mit Hurra-Rufen beglückwünscht, als sei es eine besondere Leistung gewesen. Solche Beispiele stellen sie bloß, sie fühlt sich nackt und deformiert und ausgestoßen, sicher nicht dazugehörig. Sie wird geschätzt für ihre Präzision beim Erledigen komplizierter Aufgaben, ihre Arbeitsweise ist sachlich, analytisch und sorgfältig, ihre Chefs sind von ihren Ergebnissen angetan. Doch schon eine kurze gemeinsame Aufzugfahrt auf dem Weg zur nächsten Sitzung stellt sie vor die Aufgabe der Konversation, zu der sie sich nicht befähigt fühlt. Sie ist am liebsten allein, dann kann sie niemanden enttäuschen und ihrem eigenen Tempo folgen. Zum Glück hat sie ein Einzelbüro, auch wenn vor dessen Fenster seit Monaten der Lärm einer großen Baustelle dominiert.
Die heutige Kür ist leicht improvisiert, die Party findet auf dem Flur vor mehreren Büros statt, Lachen und Rufe sind im ganzen Haus zu hören. Eine Tür steht offen, dort sind auf einem Tisch salzige Knabbereien arrangiert, dazu gibt es Bier, als wollte man gemeinsam Fußball in einer WG schauen. Mit dem Eintreffen weiterer Gäste schwindet der formale Charakter des Geschehens. Sascha drückt sich mit einem Becher Wasser an die Wand und blickt in die Runde meist bekannter Gesichter. Niemand will ihr hier offenkundig Böses, das weiß sie, aber wohl fühlt sie sich nicht. Es kommt ihr nicht so vor, als sei sie der anstehenden Freistilübung gewachsen, als fände sie Themen, die andere interessierten. So bleibt ihr die Rolle der Beobachterin, die mit Nicken, Lächeln und Bejahen ihren vernachlässigbaren Beitrag zum Geplauder beiträgt. Sie bleibt allein, angefüllt mit saurer Melancholie. Dabei fühlt sie durchaus das Bedürfnis nach menschlicher Nähe, sie hat nur nie gelernt, diese herzustellen.
Natürlich gelten die beruflichen Hierarchien hier weiter, auch wenn sich viele duzen und im eher legeren Look auftreten. Sascha fällt es schwer, bella figura zu machen, weil hier wie überall die Männer auf Jugend und Schönheit stehen. Die Kollegin aus dem Nachbarbüro, halb so alt wie sie und dreimal so attraktiv, wird von wichtigen Männern umringt, die ihr Wein nachschenken und sie nach ihren Zukunftsplänen fragen. Sascha steht gequält im Weg und muss langsam aufstoßen von der vielen Kohlensäure, die sie mit dem Wasser getrunken hat. Die Frauen nehmen sie gar nicht wahr und finden es nicht gegeben, einander sich vorzustellen. Diese Form der Arbeit ist Sascha zuwider, sie führt zu nichts und dafür ist sie wahrlich nicht qualifiziert. Sie will zu ihren Tabellen, ihren Texten, ihren Formularen und Zeitplänen zurück, ohne sich für ihre Hässlichkeit schämen zu müssen. Komplimente bekommt sie gelegentlich für ihren Geist, nie für ihre Figur, ihren Teint oder ihr Haar. So wenig wie ein genuin politischer Kopf ist, so möchte sie keinesfalls explizit mit Menschen arbeiten.
Sascha kennt nur ein wirksames Muster, sich diesem körperlichen Unbehagen zu entziehen, die Flucht. Sie verlässt die Party und das Gebäude, ohne sich zu verabschieden. Der Fahrtwind auf dem Rad auf dem Weg nach Hause kühlt sie ein wenig ab, ihre Gier nach einer Tablette Tavor wird unbezwingbar. Kaum ist sie in ihrer Wohnung angekommen, schluckt sie die gewohnte Dosis an Benzodiazepin und spürt bald darauf das Anfluten der erlösenden Wirkung. Sie tippt auf dem bewährten Videoportal das Album „Sons and Fascination“ der Simple Minds von 1981 an. Die oft und oft gehörten Songs sind noch immer treibend und gehen ihr direkt ins Gedärm. Die hallende Stimme des Sängers, die hypnotischen Akkorde des Synthesizers, die knallende Linie des Basses, unterlegt vom harten maschinenhaften Getrommel, ein Angebot an die Muskeln und Sehnen zum automatischen Zucken. Ein passendes Rezept, um sich eine wohltuende Leere im Hirn zu verschaffen. Der Schmerz im Herzen wird zumindest geringer.
Die Harmonien der New Wave stammen aus ihrer Jugend, als ihre Zukunft noch vor ihr lag und manches möglich schien. Sie erinnert sich an Abende im Jugendzentrum und später in der Disco, als sie von den Songs magnetisch auf die Tanzfläche gezogen wurde. Es war eine Sache der Mädchen, als erste sich den freien Raum zu nehmen und im Gezucke der Lichtorgel sich versonnen zu bewegen. Sascha, schmal und ohne Kurven, dafür mit Aknenarben im Gesicht, wirkte auf die großspurigen Jungs provokant, zu weich und unerklärt feminin. Die Macker konnten nur mit Gewalt auf das für sie Unverständliche reagieren, mehrfach passten sie Sascha in einer Nische oder einer Seitenstraße ab und schlugen ihr ohne Worte ins Gesicht. Sie dachten, sie prügelten auf einen jungen Mann ein, der jedoch kein anderes Reaktionsschema parat hatte, als den Angriff geschehen zu lassen in der Hoffnung, ihn zu überleben. Die Schläger hatten Sascha nicht nur die Brille zertrümmert, sondern ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er auf der Seite der Männer nichts zu suchen habe. Ein paar Jahre später war Sascha dann bereit für das Trans Coming-out, aus der Starre der Passivität wurde ein verspätetes Wachstum.
Schon in der Kindheit und Jugend blieb Sascha gern bei sich, in Gruppen fühlte sie sich verloren, ihr sich verändernder Körper wurde ihr fremd. Sie fand ihre Ruhe beim Schachspiel, wo sie nicht reden musste und mit den Figuren aus Holz sich gemein wusste. Diese geschlechtslose Zone der Rituale hat sie nach einer Zeit der Abstinenz wieder entdeckt, zur Rettung ihrer Pubertät wurden die Bücher, die sie bei ihrem Selbstgespräch bis heute nicht enttäuschen. Ihre emotionale und soziale Reife ist jedoch in einem frühen Stadium zum Stocken gekommen. Sascha baut sich ihre Welt täglich neu im Kopf zusammen, sie hat nie jemanden getroffen, der daran interessiert und auch noch geeignet gewesen wäre, diese innere Welt kennen zu lernen. So spielen sich alle Kontakte, die Sascha hat, auf einer formalen Ebene ab, im Grunde gibt es nur die Pflicht für sie, selbstredend allein. Wenn sie dann einmal als Privatperson bei einer Feier zugegen ist, empfindet sie sich als fehl am Platze – und den anderen geht es ebenso. Zwischen ihnen steht eine gut geputzte Glasscheibe, die manchmal im Sonnenlicht sich spiegelt. Entscheidend ist ihre Undurchdringlichkeit. Für ein Leben der Wahl, der Kür, der Freizeit bleibt nichts mehr übrig.