Ein wirkliches Glück ohne Müßiggang ist unmöglich. – Anton Tschechow
Der Samstag gehört traditionell dem Wald. Nach dem Frühstück mit etwas Obst, einem Croissant und einer Kanne Grünen Tees zieht Kerstin ihren Laufdress und ihre Asics an, geht um die Ecke zum Zeitungshändler und kauft sich die Wochenendausgabe ihrer Lieblingszeitung. Diese steckt sie in den Briefkasten, bevor sie in den nahe gelegenen Wald fährt. Nach einer Tour durch das ruhige Villenviertel im Westen der Stadt erreicht sie den Waldrand, schließt ihr Rad ab und macht die ersten Schritte in einer feierlichen Stimmung, als sei sie die Erste auf dem Weg. Ein warmer Duft nach Frühling empfängt sie, das Sonnenlicht blinzelt durch die dichten Kronen.
Seit etwa zwanzig Jahren kommt sie hierher in ihr bevorzugtes Revier. Sie war Teil einer Trainingsgruppe schwuler Männer, ist ab und an mit einer Freundin gelaufen, meistens nimmt sie die Strecke, die sie in der Länge variieren kann, allein unter die Sohlen. Laufen und Bäume passen unüberbietbar gut zusammen, nirgends sonst kann sie den Alltag mit seinem Korsett aus Terminen und Pflichten besser und schneller hinter sich lassen als in Gesellschaft von Blättern, Nadeln, Vögeln, gelegentlichen Wildschweinen und seltenen Rehen. Der Lärm der Stadtautobahn, die den weitläufigen Forst zerschneidet, ist gottlob nach ein paar Minuten nicht mehr zu vernehmen, das Summen der Mücken wechselt sich ab mit dem rhythmischen Ein und Aus des Atems.
So früh am Morgen hat sie die schattigen Wege fast für sich allein, die Familien kommen erst am Nachmittag. Daran hat sich seit ihrer Marathonzeit nichts geändert. Seit einigen Jahren ist Kerstin auf ihrer alten Trainingsstrecke lediglich im Schritttempo unterwegs, das rechte Knie von einer straff sitzenden Bandage umhüllt. Ihre progrediente Arthrose erlaubt ihr das Laufen im sportlichen Sinn nicht länger, der Schmerz, hervorgerufen durch den beschädigten Knorpel ist zu groß, als dass auch nur ein leichtes Traben möglich wäre. Laufen wird mechanisch dadurch charakterisiert, dass bei jedem Schritt der Körper für einen Augenblick vollends in der Luft steht; beim Gehen hat stets einer der Füße Bodenkontakt. Vor sich selbst bleibt Kerstin eine Läuferin.
Sie will nicht davon lassen, ihre freie Zeit im Wald zu verbringen. Das Gehen auf der Laufstrecke nahm sich anfangs etwas seltsam aus, zwischenzeitlich hat sie sich daran gewöhnt, dass sie für die etwa zehn Kilometer messende Standardrunde mehr als doppelt so lange braucht wie seinerzeit. Die Stunden unter Bäumen bleiben ein Geschenk, auch wenn der Körper nicht mehr so kann, wie sie es gewohnt war. Sie hat an konservativen Therapien alles versucht, was die Orthopädie bereit hält, von der Akupunktur über die Hyaluronkur und Gymnastik bis zu Elektroreizen, ohne dass die Beweglichkeit und die Belastbarkeit des Knies zurückgekommen wären. Ihr Orthopäde, ein Mann ihres Alters, verweist auf den künstlichen Gelenkersatz als Perspektive – wäre damit die Wiederherstellung des Laufens halbwegs sicher verbunden, hätte sie sich wahrscheinlich dafür entschieden.
Kerstin muss akzeptieren, dass sie eine Laufbehinderung erworben hat. Woher die Arthrose in ihrem Fall gekommen ist, bleibt spekulativ. Einen Riss des Kreuzbandes oder des Meniskus hat sie nicht erlitten, Einlagen zur Achskorrektur trägt sie seit langem in ihren Straßen- und Sportschuhen, ihr Trainingspensum während der unmittelbaren Marathonvorbereitung lag bei moderaten 80 Kilometern pro Woche, übergewichtig war sie nie. Sie hat die Befürchtung, dass die jahrzehntelange Behandlung mit Östrogenen aufgrund ihrer Transidentität ein Auslöser der Arthrose sein könnte; allerdings hat ihr Hausarzt auf ihre diesbezügliche Frage gesagt, dass er keine Studien kenne, die einen kausalen Zusammenhang belegten. Es wäre ein hoher Preis für ihr nachgeholtes Frausein.
Das Gehen im Wald ist mit dem Laufen kaum zu vergleichen, dennoch möchte sie auf diese Form der Bewegung nicht verzichten. Die Arthrose hat ein Stadium erreicht, in dem sie das rechte Bein nicht mehr vollständig strecken kann; vermutlich hat sie aufgrund der drohenden Schmerzen eine unbewusste Schonhaltung eingenommen, die zu einer Verkürzung der Muskulatur und der Sehnen geführt hat. Sie erinnert sich an ihre Mutter und auch an ihre Großmutter, die beide im Alter nicht aufrecht in einem Winkel von 180° zum Boden gingen, sondern den ganzen Körper um einige Grad nach vorn neigten. Sie ist dabei, dieses schiefe Gangbild in der nächsten Generation zu wiederholen, wie es ihr ihr Spiegelbild im Schaufenster verkündet. Sie versucht, mit Streck- und Dehnübungen der Beinmuskulatur dagegenzuhalten, damit ihre Haltungsschäden sich nicht weiter auswachsen. Wenn sie nach längerem Sitzen aufsteht, kann sie das rechte Bein in den ersten Sekunden nicht belasten, zu sehr schmerzen die Fasern in der Kniekehle.
Fast trotzig hält sie am Gehen durch den Wald fest, die Benutzung von Stöcken zur Entlastung der Gelenke lehnt sie ab, dazu greift sie nur in den Bergen, wenn es bergab geht, was die Knie und Knöchel besonders belastet. Hin und wieder nimmt sie schmerzlindernde und muskelentspannende Präparate zu sich, solche, die sie auf Rezept erhält und solche, die sie sich in speziellen Geschäften in Eigenregie beschafft. Ihre Behinderung ist für sie ein Indiz des Alters, nur halb im Scherz nennt sie ihr Fahrrad ihren Rollstuhl. Mobilität im Sport sowie im Alltag ist Ausweis von Gesundheit, Selbstständigkeit, Aktivität, nicht zuletzt Lebensqualität. Radfahren und Schwimmen, früher einmal mit dem Laufen zum Triathlon kombiniert, sind deutlich gelenkschonender, weil das Körpergewicht weitgehend vom Sattel respektive ganz vom Wasser getragen wird. Nun geraten ihr diese Disziplinen zur Kompensation für das unmöglich gewordene Laufen.
Wenn sie im Wald unterwegs ist, geht es ihr gut, auch bei vermindertem Tempo. Sie reagiert beschämt und irritiert, wenn andere Leute sie ob ihres Hinkens fragen, ob alles in Ordnung sei. In solchen Momenten registriert sie ihren Widerstand gegen ihre offensichtliche Behinderung. Sie realisiert, dass sie sich vom Laufen partout nicht verabschieden will, dass sie im Inneren eine Läuferin geblieben ist. Der Prozess der Trauer um das, was nicht mehr möglich ist, ist für sie noch nicht abgeschlossen. Sie will ihren Verlust nicht beklagen, sie will ihn einfach nicht wahrhaben. Dieses Rechthabenwollen gegenüber der Wirklichkeit kommt ihr manchmal kindisch vor, manchmal kämpferisch. Wenn sie sich zum Pinkeln in die Büsche schlägt, kann sie sich nicht hinhocken, sondern muss sich mit dem Hintern an einen Baum lehnen, der ihr Gewicht stützt, damit sie die Knie leicht anwinkeln und damit die Blase öffnen kann.
Der Fluss der Endorphine, der ihr das Laufen so lange so attraktiv gemacht hat, ist passé. Die ersten Meter auf dem Rad auf dem Weg nach Hause tun weh, das zirkuläre Beugen und Strecken der Knie im kleinen Gang will eingeübt werden. Zuhause angekommen, trägt sie ihr Rad in den Keller, was besser geht, wenn die Beine durch die Bewegung besonders durchblutet sind. Nach dem Duschen setzt sie sich mit der Zeitung und einer zweiten Kanne Grünen Tee an den Schreibtisch. Daneben steht ein altes Nachtschränkchen aus dem Fundus ihrer Großmutter, obenauf liegt ein turnierfähiges Schachbrett mit den Figuren in der Grundstellung. Sie zieht seit jeher die Leichtfiguren der Dame, den Türmen und den Bauern vor, sie bewegen sich eleganter und femininer, wie sie findet. Das ruhige Schach wird die Passion ihres Alters sein, ihre Lieblingsgestalt nennt sie Läuferin.