Laufen ist Leben, alles andere ist Warten. Dies war für Jahrzehnte Kerstins Losung. In knielangen Hosen, leichten Asics an den Füßen und einem Radlershirt mit Rückentasche für den Schlüssel fühlte sie sich am wohlsten. Früh am Morgen durch den Wald zu laufen, ab und an ein Wildschwein zu sehen und manchmal gar ein Reh, war eine nicht zu bezahlende Freude. Dass sie diesen Zustand im Imperfekt formuliert, hat einen tristen Grund: Ein irreparabler Schaden im Knie beendet ihre Lebensform als Läuferin.
Zwischen den großen Knochen des Ober- und des Unterschenkels liegen Knorpelflächen, die das dauernde Beugen und Strecken des Knies erlauben. Knorpel ist ein festes und zugleich elastisches Gewebe, das nur schwach durchblutet und von Nerven durchzogen ist. Ist der Knorpel einmal lädiert, kann er anders als die Haut oder der Knochen nicht mehr regenerieren. Es treten Schmerzen auf, zunächst kurz und leicht, später heftig und andauernd. Im fortgeschrittenen Stadium kommt es zu massiven Bewegungseinschränkungen des Gelenkes. Kerstin muss sich von ihrem Orthopäden bescheinigen lassen, unter einer voll ausgebildeten Arthrose zu leiden, viel zu früh für ihr Alter. Ursache unbekannt, Prognose ungünstig.
Kerstin hat das Spektrum der konservativen Behandlung durchmessen. Sie trägt Einlagen, macht Kräftigungsgymnastik für die Muskulatur, sie läuft nicht mehr auf Asphalt, nur noch auf weichem Waldboden, sie verkürzt die Strecken und verzichtet auf die Teilnahme an Wettkämpfen. Sie ist selig, wenn sie wenigstens einmal in der Woche im Wald laufen kann. Das geht ein paar Jahre halbwegs gut, bis sich das zweite Knie mit ähnlichen Beschwerden meldet. Die Gabe von Hyaluronsäure ins Gelenk lindert die Symptome, ohne die Ursache der Schmerzen aufzuheben; potente Opiate nimmt sie primär wegen des milden Rausches. Kerstin trauert um den Verlust des Lebens einer Läuferin.
Im Büro steht auf ihrem Schreibpult eine Gliederpuppe aus dem Fachgeschäft für Künstlerbedarf. Sie hat die rund 30 cm hohe Figur, die für anatomische und kinetische Studien mit dem Zeichenstift gemacht ist, in eine laufende Bewegung gebracht. Ihre Puppe hat das linke Bein weit nach vorn geworfen, Knie und Sprunggelenk sind gebeugt, um mit dem Mittelfuß aufzusetzen. Das rechte Bein steht kurz vor dem idealen Anfersen, die Arme schwingen, im Ellbogen annähernd rechtwinklig gebeugt, parallel zum gerade gehaltenen Torso. Der Kopf verlängert die gestreckte Wirbelsäule vertikal, der Blick geht in Vorwegnahme des Weges in die Ferne. Vom Bildschirm gleitet ihr Blick auf dieses Denkmal einer Läuferin.
Von einem optimalen Laufstil, der Ästhetik und Effizienz vereint, war sie selbst weit entfernt, doch im Kopf ist sie so ökonomisch rund gelaufen wie Paavo Nurmi. Sie freute sich auf die Schwelle, ab der der Körper wie von selbst lief, die Schwere der ersten Schritte einem Automatismus der Bewegung wich. Ihr Atem ging gleichmäßig und tief, ihre Füße federten jeden Stoß, als seien Kissen unter der Sohle montiert. Nie war sie so sehr Leib und Geist in einem; sie ließ es geschehen, dass sich ihre Füße den Weg durch den Wald suchten, zum Überspringen kleiner Hindernisse ansetzten, die Schritte verkürzten bei gelegentlichen Anstiegen. Das Laufen machte die Abwesenheit lästiger Fragen attraktiv, ihr von Sauerstoff geflutetes Gehirn brauchte nicht länger zu denken, sondern durfte genießen.
Sie fährt von klein auf Fahrrad, unter dem Aspekt der Mobilität, der Entspannung und des Sports. Doch hat sie sich nie als Radfahrerin gesehen. Sie hat Freude an der Beschleunigung dieses so simplen wie vollkommenen Verkehrsmittels, kann aber im Sattel nie von der brachialen Übermacht der Autos auf den Straßen abstrahieren. Wenn sie fährt, ist sie hellwach, sie kann sich im Verkehr keine Sekunde der Unachtsamkeit leisten. Durch diese Dauererregung entfernt sie sich mit jedem Pedaltritt vom Gefühl der Kontemplation, dementsprechend schüttet ihr Organismus auch keine Endorphine aus, sondern pures Adrenalin. Die Umstände der Marginalisierung des Rades machen sie aggressiv. Eine Lebensform wird das Radfahren nicht, es taugt allenthalben zur Kompensation.
Noch weiter vom aufrechten Gang entfernt ist das Schwimmen, ähnlich wie das Radfahren kolossal gelenkschonend. Kerstin kann frei Schwimmen seit der Grundschule, sie liebt es bis heute, im Meer zu kraulen und sich von den Wellen schaukeln zu lassen. Aber im klinisch gekachelten Geviert des öffentlichen Schwimmbades überwiegen die Störungen durch andere Menschen, sie muss ihr Tempo jenem der anderen anpassen und kann sich schlecht auf eine saubere Technik konzentrieren. Abgesperrte Bahnen für Schulen, Vereine und Kurse verknappen den ohnehin begrenzten Wasserraum. Als Physiotherapie für den ganzen Körper kann sie das Schwimmen im Becken hinnehmen, als ihr gemäße Kultur jedoch nicht.
Ihr täglicher Weg mit dem Rad ins Büro führt am Wasser entlang. Sie nimmt die Treppenstufen anstelle des Aufzugs, schreibt und telefoniert im Stehen, als habe sich sie ihre Mentalität des Trainings im Alltag erhalten. Das Tragen hoher Absätze, was ihr zum Kleid und Leggings schmeichelt, kann sie sich nicht täglich leisten; der geballte Druck, der in Pumps auf den Zehen lastet, wird die kinetische Kette nach oben weiter gegeben und zerrt verlässlich am Knie. Erhabenes Stolzieren, im professionellen Umfeld gern gesehen, kann sie nur gelegentlich vollführen. Sie hebt den Kopf, setzt einen Fuß vor den anderen und konzentriert sich auf ihr Ziel: Gut aussehen und sich dabei bestens fühlen. Das ist die Erbschaft einer Läuferin.