Lager

Straflager mit Zwangsarbeit und anschließender Verbannung reichen in Russland bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Die junge Sowjetunion intensivierte dieses Bestrafungssystem, unter Josef Stalin avancierte es zum festen Bestandteil der Unterdrückung angenommener wie realer Gegner des Regimes. Der Tod der Häftlinge angesichts der unmenschlichen Zustände wurde billigend in Kauf genommen. Der autobiografische Roman „Lager“ der Medizinerin Angela Rohr thematisiert das Leben und Überleben im Gulag.

Angela Müllner wurde 1890 in Mähren geboren und wuchs in Wien auf. 1909 gebar sie ihre Tochter Ligeia, 1913 begann sie das autodidaktische Studium der Medizin in Paris, ohne immatrikuliert zu sein. In den frühen 1920er-Jahren hörte sie pharmakologische und toxikologische Vorlesungen bei Louis Lewin in Berlin, 1925 ging sie mit ihrem deutschen Ehemann Wilhelm Rohr nach Moskau, wo sie sich auf Hämatologie spezialisierte. Von 1928 bis 1937 war sie Russland-Korrespondentin der „Frankfurter Zeitung“. 1941 nach dem Überfall der Wehrmacht auf die UdSSR wurde sie verhaftet und von 1942 bis 1946 als „sozialgefährliches Element“ in einem Straflager am Osthang des Urals interniert. 1957 wurde sie rehabilitiert und lebte fortan mit einer kleinen Rente in Moskau, wo sie 1985 starb.

1962 erschien mit Billigung der KPdSU der Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ von Alexander Solschenizyn über den Gulag. Zur selben Zeit schrieb Angela Rohr (auf Deutsch) über ihre Erfahrungen im sowjetischen Straflager, der Versuch einer Veröffentlichung des Manuskriptes in der DDR scheiterte jedoch. 1989 wurde ihr Text unter Pseudonym in Österreich publiziert, 2006 gab die russische Menschenrechtsorganisation Memorial eine russische Version heraus, 2015 fand „Lager“ einen deutschen Verlag.

Der Stil der Erzählung ist schmucklos, die geschilderten Szenen sind ergreifend genug, eine Dramatisierung haben sie nicht nötig. Als wollte die Autorin auch Jahre nach Haft und Verbannung jede emotionale Beteiligung zurückweisen, da diese als Schwäche ausgelegt werden könnte. Dergestalt wirkt das Lager in der Freiheit nach, sind Misstrauen und Vorsicht die Kardinaltugenden im Kampf um das Überleben. Die Erzählerin vermeidet Nähe und Solidarität, instinktiv sieht sie in den Mitgefangenen die ersten Konkurrenten um die begrenzten Ressourcen.

Zwischen 1930 und 1953 gab es rund 20 Millionen Gefangene im Gulag, die Haftstrafen von fünf bis zu 25 Jahren verbüßten; konservativ geschätzt, kamen über zwei Millionen direkt in den Lagern um, weitere vier Millionen starben an den Folgen der Haft. In den Lagern wurden Kriminelle mit Dissidenten, Religiösen und Intellektuellen sowie mit Angehörigen ethnischer Minderheiten interniert. In den über ganz Sibirien verteilten Lagern herrschten winters Temperaturen von bis zu 50 °C Kälte; die Baracken waren schlecht geheizt, die sanitären Verhältnisse waren katastrophal, die Verpflegung bestand aus einer dünnen Suppe, Gerstenbrei und schmalen Brotrationen – für Sklavenarbeit im Bergwerk, im Steinbruch, beim Holzfällen oder im Straßenbau bei täglich zwölf und mehr Stunden. Hinzu kamen ungebremste Brutalitäten der Wachleute und eine unzureichende medizinische Versorgung. Die Quote arbeitsunfähiger Häftlinge im Gulag lag bei etwa 9 %, die Produktivität der Straflager betrug rund 50 % im Vergleich zur freien Arbeit.

Als Ärztin im Lazarett ist die Erzählerin zum einen privilegiert, da sie nicht bei beißendem Frost im Freien arbeiten muss; zum anderen steht sie unter ständigem Verdacht, Häftlinge zu Unrecht krankzuschreiben und damit die Arbeitsleistung des Lagers zu sabotieren. Sind die Klassiker der Lager-Literatur (etwa Primo Levi über Auschwitz oder Warlam Schalamow über die Kolyma) aus der Perspektive der Häftlinge verfasst, ist die Ich-Erzählerin von „Lager“ Teil der Struktur: Sie erleidet fraglos die Qualen des Gulag, hat aber mit dem Mittel des Attestes ein Instrument der Macht in Händen, das sie anfällig für Bestechungen werden lässt. Obendrein macht ihr Geschlecht sie in der Männerwelt des Lagers, wo sie ihre Autorität als Ärztin durchsetzen muss, vulnerabel; im Jahr 1945 lag der Frauenanteil im Gulag bei 30 %, Vergewaltigungen und Zwangsprostitution waren verbreitet.

Die Medizin, die die Ich-Erzählerin praktiziert, kann nicht einmal die Symptome der vorherrschenden Krankheiten behandeln, geschweige denn deren Ursachen therapieren. Die Häftlinge leiden an Pellagra, Skorbut, Ruhr und Irrsinn, die durch einen chronischen Mangel an Vitaminen und Eiweiß ausgelöst und im Lagerjargon unter „alimentärer Dystrophie“ summiert werden. Geradezu gespenstisch wirkt die pharmazeutische Ausstattung: „In meiner Wohnecke gab es außer einer Pritsche nur ein kleines Medizinschränkchen, mit dem ich anscheinend auskommen sollte. Es enthielt eine verrostete Spritze und einen Tiegel einer braunen Salbe ohne Aufschrift. Auf meine Frage, was man damit anfangen könne, antwortete Asad, so hieß mein Gehilfe, daß man sie auf erfrorene Glieder streiche. Eine Flasche mit Salmiak diente zur Desinfektion der Spritze, die anscheinend vor allem zu Injektionen von Kampferöl benutzt wurde, das in genügender Menge vorhanden war. Einige Ampullen Strychnin lagen in einer Schachtel.“

Den Hunger, der die Gedanken und Träume der Gefangenen beherrscht, kann die Ärztin nicht bekämpfen; sie erlebt ungefiltert, wie er zivilisatorische Standards ausradiert: „Der Hunger war so groß, daß sie die unverdauten Maiskörner aus dem menschlichen Kot auswuschen und aßen.“ Immer wieder verzehren Häftlinge die Wurzel des Schierlings, eines süßen, aber tödlich giftigen Doldenblütlers; ob wahnsinnig vor Hunger oder in suizidaler Absicht, bleibt offen. In der surrealen Bürokratie der Lagerwelt kommt es der Ärztin in der Morgue schließlich zu, den Tod des Häftlings zur Schließung der Akte offiziell zu bestätigen.

Die Sträflinge in dieser Hölle à la Dante verschmelzen wie Sisyphos mit den Steinen, die sie brechen müssen. Seinen Ungereimtheiten zum Trotz – so ist es unwahrscheinlich, dass Angela Rohr die Sektionen, über die sie schreibt, selbst hat eigenhändig vornehmen können, hat sie Medizin doch als Externe studiert, ohne ein Examen abgelegt zu haben –, ist der Text ein erschütterndes Zeugnis eines verbrecherischen staatlichen Systems, das ein menschliches Leben für wertlos erklärt. Darüber zu lesen mag für die Nachgeborenen zur Mahnung werden, derlei Gräuel nicht zu vergessen. „Lager“ hebt die literarischen Grenzen zwischen Erzählung und Dokumentation auf, es wird zur geschriebenen Fackel, die in der Düsternis eines horrenden Jahrhunderts leuchtet.