Leere

Wie klingt das Klatschen mit einer Hand? – Koan im Zen-Buddhismus

Nach dem Aufenthalt über Weihnachten und den Jahreswechsel im Kloster fällt es Kerstin nicht leicht, wieder Tritt im Alltag zu fassen. Durch die vielen Feiertage ist ihr unbewusstes Wissen über den jeweiligen Wochentag etwas ins Rutschen geraten, durch die weitgehende Abstinenz an Zeitungen, Messengerdiensten und Social Media ist sie nicht à jour über das politische und gesellschaftliche Geschehen im Lande. In der sanften Natur der Baumberge schweift der Blick ungehemmt über die Felder, ohne von hässlichen Funktionsbauten beleidigt zu werden. Den akustischen Hintergrund dieses Settings bilden der Wind, der Regen, gelegentliches Vogelgeschrei und das Glockengeläut der Abteikirche.

Das Zimmer im Gästehaus neben der Abtei ist einfach, klein und praktisch, wie es von einer Klause erwartet werden darf: Telefon, Kühlschrank und Fernseher fehlen, dafür wurde nachträglich eine Nasszelle mit Dusche eingebaut. Anders als in den modernen Hotels, in denen die Klimaanlage das ganze Jahr über brummt, lässt sich das Fenster weit öffnen. Zum Entsperren der Tür kommt ein richtiger Schlüssel zum Einsatz und keine Chipkarte, die gleichzeitig die lokale Stromversorgung aktiviert; in der Lampe auf dem Nachttisch steckt noch eine längst von der EU verbotene Glühbirne. Über dem Bett hängt ein schlichtes Kreuz, im kleinen Regal über dem Schreibtisch stehen die Bibel und die Regel des heiligen Benedikt. Einzige Konzession an die Moderne ist seit einem Jahr ein überraschend stabiles WLAN, das Kerstin bei ihren vorigen Besuchen nicht vermisst hat. Das tragbare Telefon hat aber nur zufällig Empfang.

In seinem berühmten, noch heute regelmäßig zitierten Aufsatz von 1903 über „Die Großstädte und das Geistesleben“ vertritt der Soziologe Georg Simmel die These, das vorherrschende Gefühl in der Seele des Großstädters sei die Blasiertheit. Damit ist eine eingeübte Haltung der Reizfilterung gemeint, die angesichts der Dichte, des Tempos, der Anonymität und der Hektik der Großstadt unabdingbar sei, um von den zahllosen Eindrücken auf engem Raum nicht übermannt zu werden. Der Mensch, der in der Großstadt lebt, reagiert auf Neues mit einer Haltung des „Das kenne ich schon, das überrascht mich nicht“. Dieses defensive Abwinken gegenüber den Verlockungen und Bedrohungen des städtischen Lebens mit seinen Theatern, Restaurants, Geschäften, Moden, Palästen und Wohnwaben sowie Menschen aus allen Ecken der Welt und einem aggressiven Verkehr imprägniert nach Simmel Geist, Körper und Seele, um an ihnen nicht Schaden zu nehmen.

Hiervon ist in den Baumbergen nichts zu spüren. Hier liegt kein Dauerdröhnen des motorisierten Verkehrs in der Luft, ab und an ist das Kommen und Wegfahren eines einzelnen Autos zu vernehmen, miteinander redende Menschen sind noch in sechzig Metern Entfernung zu verstehen. Während in der Metropole die Lichtverschmutzung das steinerne Meer der Häuser ununterbrochen grell erblendet, lassen sich auf dem Land des Nachts die Sterne erkennen und zu verschiedenen Konstellationen zusammenfügen, sofern die trübe Wolkendecke mal für länger aufreißt. Die Luft ist klar und zugleich landwirtschaftlich würzig, sie ist kein Gemisch aus Diesel, Frittenfett, Briketts und lautem Parfum. Als Kerstin beim Spaziergang über die Felder ein unbekanntes Paar entgegenkommt, wundert sie sich über dessen offenen Gruß – ist es schon weit gediehen mit ihrer sozialen Deformiertheit, dass die unvermuteten Worte der Freundlichkeit sie irritieren?

Auf einer kleinen Anhöhe mit Blick auf das tiefer gelegene Dorf bleibt sie stehen und schaut ohne Wollen ins fahle Graugrün des ausklingenden Dezembers. Mit ihren Händen formt sie einen imaginären Rahmen, durch den sie das Dorf, den mächtigen Dom, die umliegenden Gehöfte, die Haine und die weidenden Kühe betrachtet. Unwillkürlich fühlt sie sich in ein niederländisches Landschaftsgemälde aus dem goldenen 17. Jahrhundert versetzt – hier wie da fehlen Fabrikschlote, asphaltierte Straßen, Hochspannungsleitungen und Windräder. Fast wundert sie sich, dass aus dem Bauernhaus keine Magd hinaustritt, wie sie auf den Gemälden Jan Vermeers so oft in emsiger und dabei wortloser Geschäftigkeit zu sehen ist. Dafür erinnern die Giebel der Fachwerkhäuser an die nahen Niederlande. Schweigen ist der Verzicht des Menschen auf den Hinweis seiner Anwesenheit, Stille meint seine Abwesenheit.

Im Speisesaal des Gästehauses wird Kerstin herzlich umarmt von Frauen, die sie von vorherigen Besuchen kennt und die wie sie die emotional belastenden Festtage in ausgewählter Gemeinschaft verbringen möchten. Beim Essen fühlt es sich so an, als sei die Erde nicht einmal rund ums Jahr gelaufen, als sei die letzte gemeinsame Mahlzeit erst am Vormittag gewesen. Viele Gäste kennt Kerstin vom Sehen, manche durch direkte Gespräche; auch die bislang unbekannten Gesichter sind ihr nach wenigen Mahlzeiten beinahe vertraut. Ein wenig kommt sich Kerstin vor wie auf dem Zauberberg in den Bündner Alpen, wo der Tag durch die fünf übergewaltigen Mahlzeiten strukturiert wird, zu denen die Tuberkulosepatienten zusammenkommen und zunächst gepflegte Konversation machen, alsbald in Tratsch abgleiten und es auch an maskierter Minne und Werbung nicht fehlen lassen. Hier ist das Essen an einem Buffet arrangiert, das keine Wünsche offen lässt; lediglich ihren feinen japanischen Grüntee vermisst sie, Teebeutel sind dafür nur ein halber Ersatz.

Während die Gäste auf dem Berghof bei Davos die meiste Zeit in den Liegekuren auf den Balkonlogen verbringen, ist das bestimmende Ereignis im Kloster das Gebet in der Abteikirche. Die Mönche kommen fünfmal am Tag zu festen Zeit zum gregorianischen Gesang zusammen, für dessen Pflege und Vervollkommnung die Benediktiner weithin berühmt sind. Die Vesper, das Abendlob, ist für Kerstin der Höhepunkt eines Tages. Die Mönche psalmodieren auf Latein, sie werden von der Orgel begleitet, die ihre Stimmen stützt und unter das Dach der Kirche hebt. Kerstin schließt die Augen und folgt dem meditativen Gesang der Mönche, ihre Sinne erholen sich peu à peu und nehmen auf, ohne gleich ein Urteil folgen zu lassen. Als die Mönche nach dem abschließenden Pater Noster in einer Prozession den Chor verlassen und zurück in ihre Klausur gehen, denkt Kerstin, dass jeder Opernregisseur den Aufbau einer katholischen Messe studieren sollte. Die traditionelle Liturgie weiß genau, wie sich mit Licht, Gesang, Instrumentalbegleitung, festlichen Gewändern, Gesten, Schrittfolgen, Pausen, sakralen Symbolen und Farben ein optimales Raumgefühl erzeugen lässt. Die Dramaturgie schließt das mitfeiernde Publikum ausdrücklich in die Gemeinschaft des Glaubens ein.

Den kurzen Rückweg von der Kirche zum Gästehaus geht sie an der Seite einer älteren Tischnachbarin, die sich unsicher fühlt, den Weg im Dunkeln allein zu gehen. Vor dem Speisesaal kreuzen sie den Weg einiger Gäste, die sich zu einem mehrtägigen Zen-Kurs in völligem Schweigen, angeleitet von einem Benediktiner, zusammengefunden haben. Als Kerstin erstmals einer Frau aus dieser Gruppe im grandiosen geschwungenen Treppenhaus begegnet, wundert sie sich, dass diese ihren Gruß nicht erwidert; später versteht sie, dass hinter diesem Verhalten keine Unhöflichkeit steht, sondern schlicht das vereinbarte Schweigen für die Dauer des Aufenthaltes. Die Zen-Kontemplation und das gesungene Gebet der Benediktiner passen für Kerstin exzellent zusammen: Beide sind gekennzeichnet von der Ausrichtung auf ein Ziel, von der Ernsthaftigkeit des Übens, von der steten Wiederholung der Praktiken. Beide lassen nach Möglichkeit alle Störfaktoren beiseite und wollen sich im Schauen und Staunen dem Unbegreiflichen öffnen.

Nach einigen Tagen stellt sich bei Kerstin ein angenehmes Gefühl der Leere ein. Die heilsame Wirkung des Aufenthaltes zeigt sich für sie in der Abwesenheit des Grübelns, im Verschwinden der Fragen, im Abschwächen des Verhaftetseins in der Vergangenheit, auch im verbesserten Schlaf. Sie ist angekommen im Moment, den sie verstreichen lässt, im Vertrauen, dass der kommende ebenso wohltuend sein wird. Die Zeit ist nichts, was mit möglichst Vielem gefüllt werden müsste, um sie nach der Logik der Ökonomie effektiv zu nutzen – sie ist ein Geschenk, sie geschieht und vollzieht sich, dabei kaum merkliche Spuren an den Körpern der Menschen wie an den Steinen der Abtei hinterlassend. Dieses Gefühl ist an einen Ort gebunden, der das Heilige zulässt. Niemand legt im Speisesaal ihr Telefon auf den Tisch, hantiert auf Telegram herum und fotografiert das Müsli. Billigung und Absichtslosigkeit greifen um sich, schichten sich solide auf, auch wenn sie flüchtig sein mögen. Im Zen wird dieser Zustand Satori genannt, die katholische Entsprechung heißt für Kerstin Gottvertrauen.