Die Assoziationen, die der Hörerin zu seiner Person, zu seiner Lyrik und zu seiner Musik zuerst kommen, werden „dunkel“, „langsam“ und „ruhig“ sein. Vielleicht noch „flüchtig“, wie bei einem Tanka. Der Gentleman Leonard Cohen musste keine Hotelzimmer zertrümmern oder Steuern hinterziehen, um Aufmerksamkeit zu erregen; er trug es in sich, wie ein Magnet auf Menschen, vor allem Frauen, zu wirken. Folgerichtig fand er den Weg ans Mikrofon, das er nutzte, um mit seinen Liedern seine jüdische Tradition in die Welt zu tragen. Ganz nebenbei hat er mit seiner würdevollen Art zahlreiche Musiker neben sich und nach ihm beeinflusst – der Australier Nick Cave, der sich wie Cohen vielfach vom Alten Testament hat inspirieren lassen, darf als ein legitimer Nachfolger betrachtet werden.
Leonard Cohen wurde 1934 nahe Montreal in eine wohlhabende jüdische Familie geboren. Nach seinem Studium der englischen Literatur arbeitete er zunächst im Textilunternehmen seines Vaters. Er lebte sodann einige Jahre auf der griechischen Insel Hydra und veröffentlichte Gedichte, in denen bereits seine lebenslange Beschäftigung mit religiösen Themen anklang. Berühmt wurde er 1966 mit dem Roman „Beautiful Losers“. Erst mit Anfang 30, als er in New York lebte, begann er Lieder zu komponieren und zu singen. Die Plattenfirmen lehnten es zunächst ab, ihn unter Vertrag zu nehmen, er sei für einen Rocksänger zu alt, außerdem könne er nicht richtig singen. Dabei sollte seine tiefe volle Stimme mit ihrem schleppenden Sprechgesang zu seinem Markenzeichen werden. Mit Liedern wie „Suzanne“, „So long, Marianne“ und „Bird on a wire“ wurde er zu einem der erfolgreichsten Folksänger der 1960er und 70er Jahre. 1984 veröffentlichte er mit „Halleluja“ seine bekannteste Hymne, die von Jeff Buckley über Justin Timberlake bis John Cale zigfach interpretiert wurde.
Anfang der 1990er Jahre zog sich der blendend aussehende Cohen, der nie heiratete, aber zahllose Affairen hatte, in ein Zen-Kloster nahe Los Angeles zurück und schien der Musik abhanden gekommen. Anfang der 2000er Jahre verließ er das Kloster und nahm eine neue Platte im bewährten Folkpopstil auf. 2005 musste er feststellen, dass seine langjährige Managerin, die vollen Zugriff auf seine Finanzen hatte, seine Konten vollständig geplündert hatte. Nun musste er nolens volens mit 70 Jahren auf Tournee gehen, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Zu seinen Konzerten kamen nicht nur jene Fans aus den 1960er Jahren, sondern auch solche, die seine Kinder hätten sein können. Sie alle wollten diesen singenden Rabbi auf der Bühne erleben und waren ob der Intensität seiner Auftritte begeistert. Leonard Cohen, der sein Leben lang mit Depressionen zu kämpfen hatte, starb 2016 in Los Angeles und wurde auf dem jüdischen Friedhof von Montreal beigesetzt.
Auf der Suche nach dem einen repräsentativen Song Cohens stößt die Hörerin gegebenenfalls auf „Dance me to the end of love“, 1984 auf dem Album „Various Positions“ publiziert und lange unbeachtet geblieben. Der Text dieser Ode ist Cohen-typisch melancholisch, traurig, intim; er beschwört die heilende Wirkung des Tanzes über die Ängste des Lebens hinaus. Die Liebe ist stärker als das Durcheinander der Sprachen in Babylon, sie öffnet den Kindern das Tor zur Welt, sie bietet den Menschen Schutz vor Kälte und Alleinsein, so lange sie nur tanzen. Angeblich wurde Cohen zu diesem Lied inspiriert, als er Fotos von Überlebenden der Konzentrationslager gesehen hatte. Die Melodie changiert zwischen Blues, Chanson und Litanei, angeführt von Oboe und Geige, sparsam getragen von Harmonium und Bass, unterlegt von Leonards rhapsodischem Organ. Beschwörend, betend, über die Zeit hinweg, Strophen und Chor im Wechsel.
Natürlich verlangt ein solches Lied nach einer Visualisierung. Auf YouTube existieren etliche Versionen dieses Tanzes, die wohl großartigste Interpretation wird von Mauro Caiazza und Daniela Kizyma dargebracht. Die beiden Profis tanzen einen klassischen Tango, angereichert um Freistilelemente, der mit dem zögerlichen Tempo der Musik perfekt harmoniert. Mauro mit akkurat gestutztem Bart trägt einen schwarzen Anzug mit offenem Hemd und Manschettenknöpfen, dazu flache Slipper mit angedeutetem Absatz; Daniela mit festlichem Make-Up trägt ein schulterfreies Kleid mit weitem Rock, dazu Netzstrümpfe und hohe Hacken. Auch wenn die beiden ursprünglich zu einer anderen Melodie tanzten, passt ihre erotische Darbietung synchron zu Cohens Gesang.
Die beiden bewegen sich in einer leeren alten Fabrikhalle mit rissigem Betonboden und bodentiefer Glaswand, ihre Schritte werden von mehreren Kameras aufgenommen. Die Schwarz/Weiß-Aufnahmen verstärken die dramatische Wirkung ihres Tanzes. Sie blicken tangopassend ernst und streng, kein Lächeln kommt auf ihre Lippen, die sich mehrfach annähern, aber nie zum Kuss finden. Ihre tänzerischen Bewegungen offenbaren jahrelanges Training auf höchstem Niveau, die körperliche Fitness von Spitzensportlern und dazu ein gegebenes schauspielerisches Talent. Immer wieder öffnen und schließen sie ihre Formation, dabei die volle Tiefe der Bühne ausmessend. Akrobatische Hebefiguren werden ebenso eingestreut wie vertrauensvolles Fallenlassen – der Körper des/der anderen wird zur Achse, die gegenläufige Drehungen und Pirouetten erst erlaubt.
Bei Mauro und Daniela sieht das Schwierige beiläufig aus, das Geheimnis großer Kunst. Kein schweres Atmen, kein Tropfen Schweiß, kein falscher Schritt, kein Verhaken der Füße, sie vollführen die Choreographie instinktsicher. Dazu gehört auch das plötzliche Innehalten aus vollem Schwung, statuengleich halten die beiden einander. Daniela ist auf ihren Stilettos fast so groß wie Mauro, einmal sitzt sie für einen Moment auf seiner Hüfte. Die Zuschauerin fragt sich benommen, wer hier eigentlich wen führt und wer wem folgt – es ist das runde Ineinandergreifen zweier Leiber, die für die Figur den jeweils anderen benötigen. Dieser Tanz der Liebe möge niemals enden.
Ist das nun Verführung, die Feier einer Liebe, ein hemmungslos körperlicher Flirt, ein Vorspiel zum Sex? Sei es, wie es ist, Mauro und Daniela gehen respektvoll miteinander um. Bei allem Raumgefühl und bei aller Virtuosität, die die beiden demonstrieren, geht es hier doch nicht um einen Wettkampf, sondern um eine gemeinsame Komposition. Beide halten zu jeder Sekunde den Kontakt zum Boden, auch bei den Figuren, wo Daniela von Mauro über Schulter und Nacken geworfen wird. Zu jeder Zeit halten die beiden die Verbindung, auch wenn die Umarmung gelockert wird, ihre Augen saugen sich im Gegenüber fest. Am Ende vermag die Zuschauerin nicht zu sagen, wo das eine bewegende Element endet und in das andere beginnende übergeht. Es bleibt ein Fließgleichgewicht der Kräfte, ein schönes Bild des Lebens.
Ob Leonard Cohen diese Interpretation seines Liedes, die im Jahr vor seinem Tod online ging, gekannt hat, ist ungewiss; die Liste derer, die sich auf ihn berufen und seine Lieder spielen, ist Legion. Vermutlich hätte ihm Mauros und Danielas Tête-à-Tête gefallen, auch wenn er in seinen späten Jahren eher hüftsteif agierte. Zu Beginn seiner Karriere als Musiker wurde er einmal gefragt, ob er seinen jüdischen Namen nicht ablegen wolle, dieser sei im Showbusiness unter Umständen ein Hindernis; er antwortete, dass er sich überlege, von Leonard zu September zu wechseln. Dieser feine Witz zeigt sein von Zynismus freies Wesen. Dass man sein melancholisches Werk voller Bezüge zur Thora dereinst quasi argentinisch aufführte, hätte sicher seinen Beifall gefunden. Seine vertonte Passion über die Liebe und den Tod ist international anschlussfähig, Musik, Tragödie und Religion teilen sich eine nährende Wurzel, die Liebe.