Indien

Indien wird gern als die größte Demokratie der Welt bezeichnet. Die frühere britische Kronkolonie, 1947 in die Unabhängigkeit entlassen, zählt derzeit 1,4 Milliarden Einwohner und ist damit vor China das bevölkerungsreichste Land der Welt. 968 Millionen Menschen sind derzeit aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen; die Wahl zieht sich wegen der großen Dimensionen des Subkontinents, des zum Teil unwegsamen Geländes und der nicht überall tauglichen Infrastruktur über sechs Wochen hin. Das aufstrebende Land mit seinen vielen verschiedenen Sprachen macht auch im Schach Furore, mit drei Männern und zwei Frauen ist es beim laufenden Kandidatenturnier in Toronto vertreten.

Der derzeitige indische Schachboom geht zurück auf den 1969 geborenen Viswanathan Anand. Der erste Schachgroßmeister Asiens betrat Ende der 1980er Jahre die Turniersäle der Welt und beeindruckte sofort mit seiner seltenen Begabung, seiner enormen Rechenfähigkeit und seinem so schnellen wie fehlerfreien Spiel. 1995 spielte er sein erstes Match um die Schach-WM gegen Garri Kasparow, den Titel holte er dann 2007 und behielt ihn bis zur Niederlage gegen Magnus Carlsen 2013. Derzeit ist der stets höflich und kultiviert auftretende Anand Vizepräsident des Weltschachverbands FIDE und zugleich eine populäre Identifikationsfigur in seinem Heimatland, vielen Kindern und Jugendlichen ist er erklärtes Vorbild. Nur das auf die Briten zurückgehende Cricket hat in Indien noch mehr Fans im Sport als das Spiel der Könige.

Mit tatkräftiger Förderung des Zentralstaates und seiner zahllosen Regionen hat sich ein Netz aus Schulen und Talentschmieden über das ganze Land ausgebreitet, wo bereits Fünfjährige die Regeln des Spieles erlernen und peu à peu in seine Feinheiten eingeführt werden. Im über weite Strecken nach wie vor armen Indien ist Schach ein niedrigschwellig zugängliches Spiel, zu Beginn braucht es lediglich einen Tisch, zwei Stühle, ein Brett aus Plastik und Figuren aus Kunststoff. Das Internet macht zudem Periodika, Datenbanken, Trainingsvideos und Kursmaterial praktisch überall verfügbar. Seit Beginn der 2000er Jahre gibt es im Land regelmäßige Wettbewerbe für Kinder und Jugendliche in verschiedenen Altersklassen. Zeigen diese dann ein besonderes Gefühl für das Spiel, die Bereitschaft zum Lernen und vor allem Freude daran, stehen ihnen renommierte Schulen landesweit anerkannter Trainer offen, wo sie nach dem regulären Unterricht im Schach betreut werden; so manche Eltern opfern dann ihre materielle Habe, um den Kindern und Jugendlichen die Teilnahme an Turnieren auch in entfernten Landesteilen zu ermöglichen.

Diese systematische Frühförderung des Schachs, die durchaus an jene der Sowjetunion während des Kalten Krieges erinnert, trägt nun Früchte. Indien hat derzeit 84 Großmeister und 23 Großmeisterinnen, in der Weltrangliste rangieren vier Männer und zwei Frauen unter den ersten 20 Plätzen. Und auch bei der alle zwei Jahre ausgetragenen Schacholympiade stellen sich die Erfolge der harten Arbeit ein: 2014 holte das indische Männerteam im norwegischen Tromso erstmals Bronze, bei der Schacholympiade im südindischen Chennai 2022 ging Bronze dann sowohl an die Männer als auch an die Frauen. Sagenhaft hier das Auftreten des indischen B-Teams, an dessen Spitzenbrett der erst 16 Jahre alte Dommaraju Gukesh acht Spiele in Folge für sich entscheiden konnte und in einer herzzerreißenden Partie gegen Usbekistan in ausgeglichener Stellung bei knapper Zeit durch einen Patzer verlor.

Dieser kurzerhand Gukesh genannte Spieler liegt nun in Toronto beim Kandidatenturnier zwei Runden vor Schluss in aussichtsreicher Position auf dem geteilten ersten Rang. Sollte er diese Auseinandersetzung um das Recht, den amtierenden Weltmeister Ding Liren aus China zu stellen, gewinnen, wäre er der jüngste Herausforderer in der Schachgeschichte – Garri Kasparow zählte bei seinem ersten Versuch, die Krone zu erobern, 21 Jahre. Dabei wirkt Gukesh mit seinem dichten Schopf, seinem Bart, den warmen braunen Augen, den geschmeidigen Bewegungen, dem kontrollierten Habitus und den schmal geschnitten Anzügen im Gespräch nicht wie ein Teenager, eher wie ein romantischer Held aus einem Bollywood-Film. Seine Eltern sind beide Mediziner, sie haben seine Karriere früh gefördert. Ebenso wie der gleichfalls in Toronto spielende Praggnanandhaa Rameshbabu und dessen Schwester Vaishali Rameshbabu war auch Gukesh bereits als Kind vielversprechend und bekam mit gerade 12 Jahren den Großmeister-Titel verliehen, bevor er die Schule verließ und sich vollends dem Schach verschrieb.

Lange Zeit hat er sich weitgehend ohne Computer an die Analyse und die Vorbereitung einer Partie begeben, was einen positionell klassischen Stil zum Ergebnis hatte. Es war Viswanathan Anand vorbehalten, ihn zu einem professionellen Eröffnungstraining anzuhalten, das ohne einen Computer heute nicht mehr zu bewältigen ist. Nun tritt Gukesh ausgezeichnet vorbereitet an und findet in den Haupt- und Nebenvarianten der traditionellen Eröffnungen wie dem Damengambit, der Spanischen Partie, dem Grünfeld-Inder oder der Sizilianischen Verteidigung überraschende Wendungen, die den Gegner am Brett in Bedrängnis bringen können – eine Sisyphusarbeit, ist eine Neuerung doch bereits im Moment ihrer Präsentation in einer Partie allseits bekannt und erheischt damit die permanente Suche nach weiteren. Gukesh ist ein glänzender Taktiker geworden, der mit beiden Farben auf Sieg spielen kann; lediglich im Schnellschach und in Zeitnot wirkt er noch nicht souverän.

Im Jahr 2020 gründete Viswanathan Anand gemeinsam mit einem Finanzinvestor in Chennai eine Schachakademie, mit dem Ziel, aus bereits sehr guten Jugendlichen potentielle Weltklassespieler zu formen. Erfahrene Großmeister lehren ihre Schüler die Finessen der Eröffnung, trainieren forcierte Varianten im Mittelspiel und üben die Prinzipien und Muster des Endspiels. Hier erhielten auch Gukesh und Praggnanandhaa ihren letzten Schliff auf dem Weg zum Topniveau. Weiter wäre Ramachandran Ramesh zu nennen. Der ehemalige britische und Commonwealth-Meister, der als Indiens Spitzenschachcoach gilt, etablierte bereits 2008 sein Trainingsinstitut und gibt auch private Lektionen, online wie am Brett. Sein Lehrbuch zum Training des konzentrierten Rechnens ist auf dem besten Wege, zu einem Standardwerk zu werden. Die Schulen Anands und Rameshs erinnern nicht von ungefähr an die legendäre Schachschule des ehemaligen sowjetischen Weltmeisters Mikhail Botwinnik, aus der die späteren Champions Anatoli Karpow, Garri Kasparow und Wladimir Kramnik hervorgingen. Die Eleven ihrer Institute wirken ausgelassen und ernsthaft zugleich, in ihren uniformen Jacketts in gedeckten Farben kommen sie wie Zöglinge eines britischen Elite-Internats daher.

Indien ist derzeit hinter den USA, China und Deutschland die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das Land verfügt über Atomwaffen und hat darüber hinaus ehrgeizige Ziele in der Raumfahrt. Seine Softwareingenieure sind weltweit anerkannt, derzeit werden die US-Konzerne Alphabet und Microsoft von indischstämmigen Managern geleitet. Das Auftreten des Landes im Schach, das ja in seiner Frühform aus dem Indien des 5. Jahrhunderts stammt, steht für den selbstbewussten Repräsentationsanspruch einer globalen Führungsmacht. Sollte sich Gukesh tatsächlich für den nächsten WM-Kampf qualifizieren können, stünden die Chancen gut, dass nach Chennai 2013 zum zweiten Mal eine indische Metropole das Match organisiert. Die Hegemonie Russlands auf den 64 Feldern ist gebrochen, die neuen dominanten Mächte im 21. Jahrhundert sind China und Indien.

Opfer

Das „Opfer“ hat mehrere Bedeutungen, die im Deutschen, anders als im Englischen oder Französischen, begrifflich nicht unterschieden werden. Das Sacrifice wird verstanden als Hingabe im religiösen Sinne; der Mensch opfert etwas ihm Wesentliches und Wichtiges, um Gott zu loben oder zu danken, um Schonung zu erbitten oder um ein Unrecht zu sühnen. Das Victim hingegen ist das passive Erleiden einer Erkrankung oder eines Unfalls, vor allem aber eines Verbrechens, des Diebstahls, der Körperverletzung oder des Mordes. Im ersten Fall kommuniziert der Mensch mit Gott mit dem Ziel des Gelingens eines Vorhabens, im zweiten mit einem anderen Menschen zur Missachtung der sozialen Ordnung. Der erste Fall ist der Versuch der Beeinflussung der Zukunft, der zweite zieht eine Wiedergutmachung und gegebenenfalls eine Strafe nach sich.

Kerstin sitzt weit vorn im Parkett des Theaters, für das sie bereits zu Gymnasialzeiten ein Abonnement im Theaterjugendring hatte. Sie spielte in der Theater-AG ihrer Schule mit und besuchte das Große Haus, um Stücke von Bertolt Brecht und Max Frisch sowie Darbietungen der städtischen Ballettcompagnie zu sehen. Das Theater war nach den Verheerungen des II. Weltkrieges im Jahr 1956 als erstes in Westdeutschland wiedereröffnet worden, die Architektur des jungen Harald Deilmann und seiner Kollegen wurde seinerzeit als Befreiungsschlag der Nachkriegsmoderne gefeiert. Das Treppenhaus, das sich halbkreisförmig um den Innenraum zieht und sich mit einer Glasfront zur Straße hin öffnet, wirkt anmutig und luftig. Die Balustraden der oberen Ränge sind mit beigem Flechtwerk verkleidet, an der hohen Decke hängen zahllose kleine Lampen für gleichmäßige Helligkeit und Textilsegel zur Optimierung der Akustik. Das unter Denkmalschutz stehende Gebäude gemahnt an eine begehbare Skulptur, die fast 70 Jahre nach ihrer Aufstellung nichts von ihrer stillen Kraft eingebüßt hat. Nur eine Garderobe fehlt im dunklen Foyer, die dort platzieren Schränke zur Selbstbedienung kommen arg profan daher.

Der erste Teil des Tanzabends widmet sich zu den Klängen der 3. Sinfonie Ludwig van Beethovens dem Heldenmythos beziehungsweise seiner Dekonstruktion. Beethoven hatte seine 1803 fertiggestellte Sinfonie zu Ehren Napoleons die „Eroica“ genannt, nur um rasch sehen zu müssen, dass Bonaparte nicht der anfängliche Freiheitskämpfer blieb, sondern zum Diktator mutierte. Die Männer und Frauen tanzen barfuß, anfangs lieblich, verspielt und zugewandt, im Verlauf des Stücks nach Geschlechtern getrennt. Die Männer imitieren den Gleichschritt des Marschierens, der zum Ausradieren der Individualität führen soll, die Frauen schauen ungläubig zu und müssen dabei lächeln. Das maskulin Heroische wird tänzerisch aufgehoben, etwa dadurch, dass auch eine Tänzerin einen Militärrock trägt oder dass sie, entgegen der Konvention, einen Tänzer hebt und ihn über die Schulter kreisen lässt. Die Lichtregie verzichtet darauf, einen Helden à la Achill optisch hervorzuheben; ohne diese segnende Praxis bleiben die Soldaten einfach Handwerker des Todes.

Der zweite, weitaus kürzere wie intensivere Teil des Abends bringt das berühmte Ballett „Le Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky auf die Bühne. Die Musik aus dem Jahr 1913 ist grell, dissonant und tut beinahe körperlich weh; sie passt aber gut zum schaurigen Inhalt der Choreographie, bei der sich eine junge Frau im Rahmen eines Frühlingsopfers im heidnischen Russland zu Tode tanzt. Anfangs tollt eine Gruppe junger Menschen übermütig um einander herum; erst als die junge Frau als Opfer ausgewählt ist, beginnen sich die anderen Tänzerinnen und Tänzer zu einer menschlichen Mauer zu formieren, die in Opposition zur vereinzelten Todgeweihten steht. In diesem Moment ist die Ballerina als Schauspielerin gefragt, die mit verkrampften Muskeln und verzerrter Mimik ihre Angst angesichts ihres Schicksals verkörpert.

Eine großartige Idee von Dramaturgie und Regie ist der gezielte Einsatz von Wasser auf der Bühne. Dieses regnet als Zeichen der Fruchtbarkeit und der Reinigung auf die Tanzenden hinab, die sich zunächst mit dem nassen Boden und der damit einhergehenden Rutsch- und Sturzgefahr arrangieren müssen. Nach der gelungenen Akklimatisation an die neuen Bühnenumstände setzt die Ensemble das Wasser grandios als Gestaltungselement ein: So werden Tänzerinnen von ihren sich um die eigene Achse drehenden Partnern mit dem Rücken über den nassen Boden geschleift, der Effekt des Aqua Planing macht es möglich. Zur Steigerung werden die Frauen dann regelrecht mit Anlauf über den Boden geschoben, meterweit und spritzend.

Die als Frühlingsopfers auserkorene junge Frau entzieht sich ihrer Bestimmung nicht, sie akzeptiert sich als Opfer der Gemeinschaft, das diese mit einer kommenden Ernte segnen und und so ihren Fortbestand garantieren soll. Das Menschenopfer ist auch im Alten Testament bekannt, in der Genesis stellt Gott Abraham sadistisch auf die Probe. Er verlangt von diesem, ihm seinen einzigen Sohn Isaak als Brandopfer zu bringen. Als Gott jedoch erkennt, dass Abraham bereit ist, sein Liebstes Gott zu Ehren zu schlachten, ist er von seinem Glauben und seinem Gehorsam überzeugt und reduziert seinen Opferbefehl auf das traditionelle Darbringen eines Widders. Dieses Entkommen ist der jungen Frau im „Sacre du printemps“ nicht beschieden, am Ende des Tanzes sinkt sie verdreckt und erschöpft zu Boden und verstirbt. Das Publikum hält es nicht länger auf den Sitzen, stehend applaudiert es der sagenhaften Darstellung und findet im Klatschen eine Erleichterung.

Das Frühlingsopfer in einer heidnischen Gesellschaft geht eng einher mit dem archaischen Kult um Dionysos, den Gott der Fruchtbarkeit und des Weines. Auch im Christentum ist dieser Bezug noch lebendig; in jeder katholischen Messe werden die Gaben am Altar geheiligt, der symbolisch angebotene Sohn Gottes in den beiden Gestalten des Brotes und des Weines wird dabei ausdrücklich als Opfer bezeichnet. Doch auch aus der entzauberten Welt der Technik und der naturwissenschaftlichen Analyse ist das Opfer nicht verschwunden, durchfährt es Kerstin bei der Heimfahrt durch die ruhige Stadt. In der Ukraine werden sei zwei Jahren zehntausende Rekruten den imperialen Herrschaftsansprüchen des russischen Regimes übermacht – auf dem Schlachtfest fallen die sakrale und die kriminelle Dimension des Opfers in eins. Hier ist es nicht Ausdruck der Interaktion, sondern der Zerstörung.

Fachkräftemangel

Zu den bevorzugten Schlagwörtern im sozialpolitischen Diskurs der Gegenwart zählt der „Fachkräftemangel“, ad nauseam wiederholt. Keine Woche vergeht, ohne dass ihn ein Politiker, ein Ökonom, ein Journalist oder ein Verbandsfunktionär mahnend im Munde führt. Der so beschriebene Sachverhalt bedrohe das Rentenniveau, das Wirtschaftswachstum, die Steuereinnahmen, den Wohlstand, kurz, den Frieden und gar die Existenz der Republik. Die geburtenstarken Jahrgänge der späten 1950er und 1960er Jahre gingen sukzessive in den Ruhestand, ohne dass ausreichend viele Berufsanfänger ihnen nachfolgend in den Arbeitsmarkt einträten – der Fachkräftemangel als Schicksal des demographischen Wandels, voilà.

Diese Arbeiterlosigkeit führe dazu, dass sich gut qualifizierte Berufstätige ihre Arbeitgeber aussuchen könnten, so die nächste Strophe des Klageliedes. Um die offen bleibenden Stellen überhaupt besetzen zu können, sei eine Nettomigration von mindestens 500.000 Menschen pro Jahr erforderlich, andernfalls drohe ein dramatisches Absinken der Produktivität, lautet die Schlussfolgerung. Eigentlich rosige Bedingungen für die Jobsuche, denkt sich auch Sascha. Sie gehört rechnerisch zur sogenannten Boomer-Generation, hat aber bis zur Rente noch knapp zehn Jahre vor sich. Angesichts ihrer durch Brüche, Wechsel und Latenzen geprägten Berufslaufbahn stellt sie sich darauf ein, im Ruhestand noch nebenerwerbstätig zu sein. Nun plant sie aus familiären Gründen den Umzug aus der Metropole zurück in ihre alte Heimat.

Frohen Mutes geht sie an die Bewerbungen. Sie weiß, was sie will, sie weiß, was sie kann, und sie fühlt sich bereit für eine erneute Veränderung. Sie verfügt über einen Universitätsabschluss und hat die letzten zehn Jahre durchgehend auf ihrem Qualifikationsniveau gearbeitet. Sie bringt Expertise aus der Politik, der Verwaltung, dem Handel, dem öffentlichen Dienst und der Freiberuflichkeit mit, hat Auslandsaufenthalte im Gepäck, spricht passabel Englisch und Französisch und verfügt über Grundkenntnisse in Italienisch und Russisch. Sie hat sich regelmäßig weitergebildet, kann sich rasch in neue Zusammenhänge einarbeiten und ihr Wissen und Können auf bislang unvertraute Felder transponieren. Sie geht routiniert mit dem Office-Paket um, versteht HTML und Python, kennt die Stärken der verschiedenen sozialen Netzwerke und weiß um die Chancen und Grenzen generativer KI wie ChatGPT und Stable Diffusion. Der rote Faden ihrer Vita ist die Kommunikation, analog wie digital, schriftlich wie mündlich, werblich wie literarisch, konzeptionell wie operativ.

Mögliche Arbeitgeber sind mit diesem geisteswissenschaftlich grundierten Profil klar definiert: Agenturen, Kammern, Pressestellen, Lektorate, Verbände, Referate, Redaktionen, Stäbe. Diese findet sie auf einer einschlägigen Webseite, auf der sich potentielle Arbeitgeber auch regional eingrenzen lassen. Nach einer Aktualisierung ihres CV und ihrer Zeugnisse macht sie sich an die Recherche; dies geschieht stets am Wochenende, weil sie abends nach einem schlauchenden Tag im Büro zu fahrig ist, um noch stundenlang konzentriert in eigener Sache arbeiten zu können. Hat sie dann eine Stelle gefunden, deren Anforderungen sie nach eigener Einschätzung zu mindestens zwei Dritteln erfüllt, schreibt sie ein individualisiertes Anschreiben, freundlich, seriös, zuversichtlich und humorvoll, vergisst auch die Angaben zu Gehaltswunsch und frühestmöglichen Einstiegstermin nicht. Nach dreifachem Korrekturdurchlauf lädt sie Anschreiben und Anlagen inklusive eines ansprechenden Portraitfotos im Bewerberportal hoch oder versendet sie per Mail.

Und dann passiert, nach einer automatisierten Bestätigung des Eingangs der Bewerbung – nichts. Keine Post, keine Mail, kein Anruf. Keine Einladung zum Gespräch vor Ort, auch kein Vorabgespräch auf digitalem Wege, geschweige denn das Bekunden des Interesses einer Anstellung. Sascha ist darauf vorbereitet, dass sie länger nach einem attraktiven Arbeitgeber suchen muss, dass nicht der erste Schuss ein Volltreffer sein wird; dazu hat sie im Verlauf ihres Jahrzehnte währenden Berufslebens ernüchternde Routinen bei der Jobsuche entwickelt. Doch nun muss sie feststellen, dass die Unternehmen, die Stellen schaffen und ausschreiben, heute genauso unverschämt und unprofessionell agieren wie vor 30 Jahren: Sie antworten einfach nicht. Dieses Muster zeigt sich unvermeidlich, seit fast zehn Monaten sucht Sacha nun kontinuierlich nach einer neuen Beschäftigung, aus einer festen Position heraus, doch eine Reaktion seitens der Adressaten gibt es nicht. Sie hätte ihre Unterlagen auch gleich in den digitalen Papierkorb verschieben können.

Sie zieht für sich das Fazit, dass das allfällige Gerede vom Fachkräftemangel eben nur Getöse ist, bar jeder Substanz. Unternehmen nutzen es als willkommene Ausrede, um das eigene Geschäftsmodell in Zeiten von Digitalisierung und Automatisierung nicht anpassen zu müssen. Und sie kommt zum Schluss, dass sie nun mit Ende 50 für die angeschriebenen Firmen, Agenturen, Redaktionen und Betriebe viel zu alt ist. Diese wollen keine Erfahrung, sondern Formbarkeit ohne jeden Anspruch. Alte sind permanent krank, teuer und unflexibel, bestehen auf Urlaub und geregelter Wochenarbeitszeit, haben keine Ahnung vom Internet und gendern nicht, hören Wagner und erzählen vom Mauerfall – also sind sie untauglich für die Arbeit in bunten, dynamischen Teams. Eine weitere Lieblingserzählung heutiger Karriereberater ist die hohe Effektivität gemischter Belegschaften – für Alte, die den Jungen als Sparringpartner zur Seite stehen können, gilt dies ausdrücklich nicht.

Zum Refrain des Lamentos vom Fachkräftemangel gehört das Erschließen bislang ungenutzter Reserven. Die Kinderbetreuung soll verbessert werden, damit mehr Frauen aus der Teilzeit in die Vollzeit wechseln; Umschulungen und Weiterbildungen sollen erforderliche Qualifikationen nachholen; Zertifikate ausländischer Bewerber sollen schneller anerkannt werden; Alte sollen nicht wie bisher abschlagsfrei in Frührente gehen, sondern zum Weiterarbeiten animiert werden. Doch bei den jungen Personalern, die mittlerweile auch KI-Algorithmen zur Rekrutierung neuer Kräfte einsetzen, stößt Letzteres auf Ablehnung. Sie kalibrieren ihre Software dergestalt, dass sie alle Bewerber, die vor 1990 geboren wurden, nüchtern aussondert. Das werden sie natürlich niemals öffentlich zugeben, denn rechtlichen Schritten im Zuge eines Verstoßes gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) wollen sie sich nicht aussetzen.

Im März 2024 sind nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit 2,76 Mio. Menschen in Deutschland arbeitslos gemeldet, 3,6 Mio. Menschen gelten als unterbeschäftigt, lediglich 707.000 offene Stellen sind bei der Agentur gelistet, aber 5,8 Mio. Arbeitssuchende samt Familien beziehen Leistungen nach der Grundsicherung. Diese Zahlen sind deutlich niedriger, als sie es Anfang des 21. Jahrhunderts waren, aber sie sind konstant hoch, vor allem sind sie eine Antithese zum allseits beschworenen Fachkräftemangel: Es gibt nicht genug Stellen, um alle, die arbeiten wollen, können und müssen, in Lohn und Brot zu bringen. Alte Menschen, so Saschas Erfahrung, sind dabei auf dem Arbeitsmarkt besonders wertlos; sie zu selektieren kann sich jedes Unternehmen folgenlos leisten. Sascha fehlen informelle Kontakte und Netzwerke, um auf dem verdeckten Arbeitsmarkt zu reüssieren. Zur professionellen Entwicklung bleibt ihr die Wiederaufnahme der Freiberuflichkeit. Daran feilt sie nun, sie wird sich selbst zur Marke machen und sich projektweise anbieten. So empört sie auch über das wegwerfende Verhalten der Unternehmen ist, ihr Selbstwertgefühl lässt sie sich nicht nehmen.

Toronto

In der Woche nach Ostern wird Toronto zum Mittelpunkt der Schachwelt. In der kanadischen Metropole am Lake Ontario findet das nächste Kandidatenturnier der FIDE zur Ermittlung des Herausforderers des Weltmeisters statt. Dabei handelt es sich um eine Premiere im Kosmos der 64 Felder: Im sogenannten Open streiten acht Kandidaten darum, den amtierenden Titelträger Ding Liren aus China in einem Match um die Krone herauszufordern. In der parallel abgehaltenen Women’s Section spielen acht Kandidatinnen um das Recht, die aktuelle Championesse Ju Wenjun, auch aus China, am Brett zu stellen, ebenfalls doppelrundig über 14 Partien.

Für das Open sind, in der Reihenfolge ihrer Elozahl vom März 2024, Fabiano Caruana (USA, 2804), Hikaru Nakamura (USA, 2789), Alireza Firouzja (Frankreich, 2760), Ian Nepomniachtchi (Russland, 2758), Dommaraju Gukesh (Indien, 2747), Rameshbabu Praggnanandhaa (Indien, 2747), Santosh Gujrathi Vidit (Indien, 2747) und Nijat Abasov (Aserbaidschan, 2632) qualifiziert. Dieses Feld ist so ausgeglichen besetzt, dass es schwerfällt, genau einen Favoriten auf den Sieg zu benennen. Fabiano Caruana und Ian Nepomniachtchi haben bereits ein Kandidatenturnier gewonnen und den darauf folgenden WM-Kampf verloren; sie verfügen über Routine, Können und Stabilität, um ein solch anstrengendes Turnier erneut zu gewinnen. Hikaru Nakamura ist zu sehr zum Schach-Entertainer auf YouTube und Twitch geworden, als dass er weiterhin ein seriöser Wettbewerber wäre. Bei Alireza Firouzja ist es ungewiss, wie entschlossen er noch am Brett agiert; sein zwischenzeitlich begonnenes Studium des Modedesigns in Paris legt es nahe, dass er noch andere berufliche Interessen verfolgt.

Dommaraju Gukesh und Rameshbabu Praggnanandhaa stehen im doppelten Sinne für die Zukunft. Zum einen sind die beiden Großmeister selbst für heutige Verhältnisse mit 17 und 18 Jahren sehr jung, wohl zu jung, um ein solch hartes Turnier wie das bevorstehende zu gewinnen; zum anderen stehen sie für den Vormarsch Indiens als Schachgroßmacht. Nachdem Visvanathan Anand an in den 1990er Jahren als erster Großmeister aus dem Geburtsland des Schachs die Weltspitze stürmte, setzte in Indien ein großer Schachboom mit zahlreichen Trainingsschulen schon für Kinder ein, deren Früchte nun geerntet werden. Santosh Gujrathi Vidit und Nijat Abasov dürften höchstwahrscheinlich nur als Mitspieler dieses Turniers in Erinnerung bleiben; letzterer ist ohnehin lediglich als Nachrücker dabei, nachdem der Sieger des World Cups des letzten Jahres, der Exweltmeister Magnus Carlsen erklärte, seinen Platz in Toronto nicht annehmen zu wollen.

Im Frauenturnier sind, ebenfalls in der Reihenfolge ihrer Wertung des laufenden Monats, Aleksandra Goryachkina (FIDE, 2553), Lei Tingjie (China, 2550), Humpy Koneru (Indien, 2546), Kateryna Lagno (Russland, 2542), Tan Zhongyi (China, 2521), Anna Muzychuk (Ukraine, 2520), Vaishali Rameshbabu (Indien, 2481) und Nurgyul Salimova (Bulgarien, 2426) dabei. Analog zu den Männern ist auch hier mit einem offenen und aufregenden Turnierverlauf zu rechnen, eine eindeutige Anwärterin auf den Gewinn drängt sich nicht zwingend auf. Aleksandra Goryachkina, Lei Tingjie und Tan Zhongyi haben jeweils bereits ein Match um die Weltmeisterschaft gespielt und weisen entsprechende Erfahrung, Klasse und Willensstärke auf. Aleksandra Goryachkina holte im letzten Herbst bei der russischen Meisterschaft der Männer 50 Prozent der möglichen Punkte, eine exzellente Ausbeute angesichts des hochkarätigen Teilnehmerfeldes. Sollte sie diese Form aktualisieren, könnte sie in Kanada am Ende ganz vorn landen.

Anna Muzychuk war bereits Weltmeisterin im Schnellschach und im Blitz, gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Mariya gehört sie seit über zehn Jahren zur Weltspitze. Gleiches gilt für Humpy Koneru, die nach einer Familienpause wieder nach oben gekommen ist. Auch Kateryna Lagno kann wiederholte Erfolgen bei internationalen Turnieren und Olympiaden vorweisen; die im ukrainischen Lwiw geborene naturalisierte Russin erreichte 2018 das Finale der WM, das sie knapp verlor. Schwerer einzuschätzen sind hingegen die Chancen von Vaishali Rameshbabu (die Schwester von Praggnanandhaa aus der Open Section) und Nurgyul Salimova; jung wie sie sind, können sie unbeschwert aufspielen, vielleicht gelingt ihnen eine Überraschung. Der Spielplan Jede gegen Jede bringt es unvermeidlich mit sich, dass die Ukrainerin Anna Muzychuk auf die Russin Kateryna Lagno trifft; vermutlich werden sich die beiden vornehmlich als Sportlerinnen begegnen und Politik und Krieg beiseite lassen.

Dass es in Toronto zu zwei parallelen Turnieren mit dem höchsten Einsatz der Qualifikation für das WM-Finale kommt, ist sicher als Aufwertung des Frauenschachs zu verstehen, die sich der Weltschachverband FIDE im einhundertsten Jahr seines Bestehens auf die Fahnen geschrieben hat. Männer und Frauen spielen zwar zur selben Zeit in der Großen Halle in Toronto, erfahren aber in wesentlichen Punkten eine unterschiedliche Behandlung. Von den insgesamt garantierten € 750.000,- Preisgeld gehen € 500.000,- an die Männer, den Frauen verbleiben noch € 250.000,-. Weiter auffällig sind die unterschiedlichen Zeitressourcen: Den Männern stehen für die ersten 40 Züge 120 Minuten zur Verfügung, die Frauen müssen für die gleiche Distanz mit 90 Minuten auskommen. Dabei spielen alle klassisches Schach, nach den gleichen Regeln, aus der Grundstellung mit 16 weißen und 16 schwarzen Steine heraus.

Wie bei den Männern zeigt auch die Besetzung des Frauenturniers, dass die Jahrzehnte währende Dominanz (Sowjet-)Russlands im Schach Geschichte ist; die bestimmenden Schachnationen sind hier wie da mittlerweile China und Indien. Und dass mit Toronto erstmals eine Stadt auf dem nordamerikanischen Kontinent Schauplatz gleich zweier Kandidat(inne)enturniere wird, verdankt sie dem Hauptsponsor Mark Scheinberg. Der israelisch-kanadische Unternehmer, der mit einer Plattform für Online-Poker zu großem Reichtum gekommen ist, hat ein Haus im Stadtteil Richmond Hill, er lebt wohl aus steuerlichen Gründen auf der Isle of Man, dem Austragungsort eines renommierten Turniers nach Schweizer System. Die FIDE hat mit der Familie Scheinberg einen Vertrag bis 2026 über die Ausrichtung und Finanzierung eines großen Schachturniers pro Jahr geschlossen.

Am 4. April beginnen die Turniere mit der ersten Partie; sollte es nach 14 Runden einen Gleichstand an der Spitze geben, wird es ein Stechen im Schnellschach um den alleinigen Triumph geben. Rundenbeginn ist jeweils 14:30 Uhr lokaler Zeit, das entspricht 00:00 Uhr in Mumbai, 04:30 Uhr in Schanghai und 19:30 Uhr in Hamburg. Die Partien werden auf den einschlägigen Schachseiten übertragen und von ausgewiesenen Großmeistern kommentiert, die Schachfans weltweit dürfen sich auf einen spannenden und unterhaltsamen April freuen. Diese Freude wird auch nicht getrübt durch den Umstand, dass die jeweilige Nummer Eins der Weltrangliste an der Weltmeisterschaft gar nicht mehr teilnimmt: Der Norweger Magnus Carlsen hat schlicht keine Lust mehr auf die kräftezehrende Vorbereitung auf ein Titelmatch, er hat seinen WM-Titels im Frühjahr 2023 nicht verteidigt und firmiert nun als Champion a. D., als der er weiter Turniere spielt und meist gewinnt. Die Chinesin Hou Yifan, die in ihrer aktiven Zeit vermehrt an Männerturnieren teilnahm, hat sich bereits vor Jahren vom professionellen Schach zurückgezogen und lehrt nun als Professorin am Institut für Sporterziehung an der Universität Shenzhen.

Untergrund

Die Bundesrepublik wurde vor einer Woche von ihrer Vergangenheit eingeholt, in Gestalt einer Untoten. Mit der Verhaftung Daniela Klettes Ende Februar in einer Wohnung in Berlin-Kreuzberg wurde der vergessene Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) auf Wiedervorlage gesetzt. Anfang der 1990er Jahre soll Klette in den Untergrund gegangen sein, der Polizei fehlte seitdem jede Spur zu ihrem Aufenthalt und ihrem Milieu. Dass die Gesuchte seit gut zwanzig Jahren in Kreuzberg ein unbehelligtes Leben zwischen Nachhilfe für Nachbarskinder, Fahrradtouren und Tanzstunden im Capoeira-Verein führte, sorgt allseits für Augenreiben und Unverständnis. Die jäh hergestellte Öffentlichkeit wird dazu führen, dass ihre beiden Komplizen, die ebenfalls in Berlin vermutet werden, bald gefasst werden dürften.

Daniela Klette wurde 1958 in Karlsruhe geboren. Die Ermittler gehen derzeit davon aus, dass sie sich 1989 der Roten Armee Fraktion (RAF) anschloss; sie wird gemeinhin zur dritten Generation der Terrorgruppe gerechnet. Klette wird beschuldigt, von den 1990er bis in die 2010er Jahre an mehreren Überfällen auf Banken, Geldtransporter und Supermärkte mitgewirkt zu haben. Vermutlich sollte das dabei erbeutete Geld nicht zur Vorbereitung und Durchführung weiterer Attentate verwendet werden, sondern zur Finanzierung des Lebens im Untergrund. Ob Klette an der Tötung des Sprechers des Vorstands der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, 1989 und des Vorsitzenden der Treuhand-Anstalt, Detlev Karsten Rohwedder, 1991 beteiligt war, ist bis heute offen. 1993 kam ein RAF-Kader bei einem SEK-Einsatz in Bad Kleinen ums Leben, eine andere Führungsfigur der Gruppe wurde dabei verhaftet. 1998 löste sich die RAF mit einem öffentlichen Schreiben auf, zu ihrem unrühmlichen Erbe zählen 35 zum Teil bis heute nicht aufgeklärte Morde, die Rasterfahndung und die linke „tageszeitung“.

Die RAF ging aus der studentisch bewegten großstädtischen Linken hervor, als ihre Geburtsstunde gilt die Befreiung des inhaftierten Kaufhausbrandstifters Andreas Baader 1970 während eines begleiteten Freigangs. Die Terrorgruppe, in Lagern der PLO in Jordanien an Schusswaffen ausgebildet, suchte die gewaltsame Konfrontation mit dem Staat, den sie als nationalistisch-kapitalistisch, gar faschistisch bezeichnete, mit dem Ziel seiner revolutionären Überwindung. Seinen Höhepunkt erreichte der Schrecken im Jahr 1977, als der Generalbundesanwalt, der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank und der Chef der Vereinigung der Arbeitgeberverbände ermordet wurden. Im kolportierten Slogan dieses Jahres „Buback, Ponto, Schleyer – der Nächste ist ein Bayer“ mischten sich Bewunderung für die Täter und Freude über deren Morde. Eine Handvoll Terroristen, in dezentralen Kommandos operierend, forderte die Staatsmacht heraus, ohne jemals Wohlwollen für ihre Blutspur in der Bevölkerung über die genuin linksextreme Szene hinaus zu erreichen.

Gegenstand der Ermittlungen bleibt, ob Daniela Klette, die mit ihren zwei langjährigen Komplizen Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg über Fahndungsplakate des Bundeskriminalamtes (BKA) gesucht wurde, während ihrer Zeit im Untergrund aktive Unterstützung durch Sympathisanten erfahren hat. Dem Vernehmen nach hat sie einen gefälschten Pass mit einem italienischen Namen benutzt und in einer Wohnung gelebt, deren Hauptmieterin sie nicht war. Klette wählte im Untergrund offenbar demonstrative Sichtbarkeit als Tarnung. Sie erteilte Mathematik-Nachhilfe, führte ihren Hund spazieren und engagierte sich in einem Capoeira-Verein, mit dem sie auch am Karneval der Kulturen teilnahm. Dass sie dabei fotografiert wurde, schien sie nicht zu stören; offenbar glaubte sie an die Überzeugungskraft ihrer Legende. Diese hinderte sie aber nicht daran, in ihrer Wohnung Waffen und Munition aufzubewahren, wohl für weitere Überfälle zur Sicherstellung ihrer Terrorrente.

Während ein professionelles Team von Fahndern drei Jahrzehnte vergeblich nach Klette und ihren Genossen suchte, ging es am Ende mit Hilfe moderner Technik ganz schnell. Die Behörden setzten für ihre Fahndungsaufrufe eine Software ein, die Gesichter künstlich altern lassen kann, um zu illustrieren, wie die Gesuchten mittlerweile aussehen könnten. Dabei gibt es bereits frei zugängliche Bilderkennungsprogramme auf der Basis Künstlicher Intelligenz, mit denen Personen im gewaltigen Archiv des Internets aufgespürt werden können. Genau das hat eine kleine Redaktion getan, die im Herbst 2023 einen verqueren Hinweis auf die Untergetauchte bekam. Die Journalisten gaben ein digitalisiertes Foto Klettes aus den späten 1980er Jahren in die Suchmaschine ein und bekamen Bilder einer älteren Frau geliefert, die Anfang des 21. Jahrhunderts mit anderen Frauen zusammen auf den Straßen der Hauptstadt tanzte und diese Bilder auch noch selbst auf Facebook hochlud; die Ähnlichkeit zur Gesuchten über weiße Haare und Augenfältchen war frappierend. Warum private Rechercheure diese Software nutzen, die Polizei mit ihrem Apparat aber nicht, wird in der laufenden Diskussion thematisiert werden müssen.

Daniela Klette mag ein beschauliches postterroristisches Leben im alternativen Kreuzberg geführt haben, ohne weiter straffällig geworden zu sein – für die ihr zur Last gelegten Taten wird sie sich vor Gericht verantworten müssen. Ihre Verhaftung gibt der Bundesrepublik Deutschland die Gelegenheit, diesen Teil ihrer Vergangenheit endgültig vergehen zu lassen. Heutige Linksextreme zielen nicht mehr mit der Kalaschnikow auf hohe Wirtschaftsführer und werfen keine Handgranaten auf leitende Beamte, stattdessen hacken sie die Webseiten global tätiger Konzerne, verbreiten gefälschte Informationen in sozialen Netzwerken, hetzen gegen Israel und prügeln rechte Politiker sowie Aktivisten ins Koma. Allemal eine Diskursstörung, eingebettet in einen studentischen Lebensstil. Sollten sich diese Prototerroristen dereinst in den Ruhestand verabschieden, werden sie kaum auf den Raub von Bargeld setzen können. Vielmehr werden sie vorher in Bitcoin investieren.

Bodentruppen

Vor fast auf den Tag genau zwei Jahren marschierten russische Truppen in die Ukraine ein. Offizielles Ziel dieser „militärischen Spezialoperation“ war die „Entnazifizierung“ des 1991 selbstständig gewordenen Landes, wie die Russische Föderation hervorgegangen aus der Konkursmasse des sowjetischen Sozialismus. Wider alle Erwartungen musste Kiew nicht schon nach einer Woche kapitulieren, der Kampf um das Land, die Freiheit und die Unabhängigkeit geht jetzt ins dritte Jahr. Dass die Ukraine überhaupt so lange durchhalten konnte, liegt in erster Linie an den Finanzhilfen und Waffenlieferungen europäischer Staaten und vor allem der USA. Auf einer Konferenz in Paris sprach der französische Staatspräsident unlängst die Drohung Richtung Russland aus, „westliche“ Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden.

Diesen absurden Vorschlag des Populisten im Elysée fand lediglich sein ukrainischer Kollege gut, alle westlichen Staats- und Regierungschefs wandten sich unisono dagegen. Aus gutem Grund, müsste Russland doch die Anwesenheit ausländischer Truppen in der Ukraine, in welcher Mission auch immer, als Aufforderung verstehen, sein komplettes Waffenarsenal gegen Europa einzusetzen, auch das atomare, gegebenenfalls um den Preis des eigenen Untergangs. Der Wiedergänger Bonapartes wiederholte die ad nauseam verwendete Formel, „man werde alles Notwendige tun“, damit Russland diesen Krieg verliere und die Ukraine in gewinne. Nach Auffassung des Illusionisten aus Amiens gehören dazu eben auch alliierte Bodentruppen – nach und neben den Panzern, Haubitzen, Drohnen, Generatoren und zig Millionen Schuss Munition, die seit zwei Jahren permanent an den Dnjepr geliefert werden. Von diplomatischen Bemühungen zu Verhandlungen über einen Frieden, notfalls auch unter Abtretung an der Küste gelegener Gebiete, sprach er nicht.

Ausgerechnet die Atommacht Frankreich mit ihrer kolonialen Vergangenheit, die bisher lauthals Hilfen angekündigt, aber kaum geleistet hat, lehnt sich gegen jeden Konsens aus dem Fenster mit ihrer halsbrecherischen Volte. Das kleine Estland, das über eine Grenze zu Russland und eine starke russischsprachige Minderheit verfügt, hat, bezogen auf das jeweilige Bruttoinlandsprodukt, etwa dreißigmal so viel an Rüstungsgütern an die Ukraine geliefert wie Frankreich. Vermutlich gehen dem französischen Präsidenten im wöchentlichen Schaulaufen der großen Strategen die Pferde durch; er, der sich weiß Gott mit einer Aura der Eitelkeit umgibt, will sich besonders hervortun im internationalen Konzert der Politik, auch wenn es nur lärmend und knallig ist. Er sollte lieber nachsehen, wozu die internationalen militärischen Einsätze im Irak, in Afghanistan und in Mali, jeweils mit einem UN-Mandat abgesichert, geführt haben. Zu einer stabilen Befriedung der Region jedenfalls nicht.

Seit Februar 2022 werden die führenden Repräsentanten der NATO und der EU nicht müde zu betonen, dass sie eine Kriegsbeteiligung vermeiden wollen. Zynisch gesagt, besteht diese Gefahr überhaupt nicht, weil nach der Diktion des russischen Präsidenten gar kein „Krieg“ in der Ukraine erklärt wurde, sondern dort nur eine „militärische Spezialoperation“ stattfindet. Wer in Russland von diesem Vokabular abweicht, spielt mit dem Leben. Allerdings sind Länder wie Deutschland, Großbritannien, die Niederlande, Polen und erst recht die USA de facto längst Kriegspartei: Sie beherbergen mehrere Millionen ukrainischer Flüchtlinge und versorgen sie mit medizinischer Behandlung, Geld, Sprachkursen und Arbeitserlaubnissen; sie beteiligen sich an den – bisher weitgehend wirkungslosen – Sanktionen gegen Russland, die im Falle Deutschlands zu einer überhasteten und teuren Umstellung von Gas und Öl auf andere Energieträger geführt haben; sie schicken kontinuierlich diverses Kriegsgerät, manches auf Kredit, vieles als Geschenk; sie isolieren Russland diplomatisch auf internationaler Bühne und schmieden eifrig Pläne für einen Wiederaufbau des geschundenen Landes.

Bis heute verfängt das Motiv des ukrainischen Präsidenten, die eigene Armee kämpfe stellvertretend gegen Russland für die Freiheit, die Sicherheit und die Zukunft ganz Europas. An dieser selbstgefälligen Darstellung sind durchaus Zweifel angebracht. Die Ukraine kämpft um das eigene Überleben – für diesen Verteidigungskampf gegen den russischen Aggressor hat sie jedes Recht und verdient jedes Mitgefühl. Aber einen ganzen Kontinent in Mithaftung zu nehmen, hat schon Chuzpe und ist nur aus der Verzweiflung über eine bevorstehende territoriale Auslöschung des Landes zu verstehen. Man muss der imperialen Logik des Kremls, nach der eine eigene ukrainische Nation mit einem Recht auf einen eigenen Staat eine Fiktion sei und es sich bei den Ukrainern bloß um „kleine Russen“ handele, nicht folgen; genauso wenig muss man die Erzählung Kiews, es sei Teil der „westlichen Wertegemeinschaft“, wörtlich nehmen. Man denke nur an den Herbst 2022, als der damalige Botschafter des Landes in Deutschland sich darin gefiel, den Bundeskanzler vulgär zu beschimpfen und im selben Atemzug von ihm Geld und Waffen zu verlangen. Von Demut oder gar Dankbarkeit keine Spur.

Die Ukraine ist ausweislich mehrerer ökonomischer Indizes das Land mit der höchsten Korruption Europas, ohne die Milliarden aus den europäischen Hauptstädten zur Aufrechterhaltung seiner Lohn- und Rentenzahlungen wäre sie überdies längst bankrott. Zudem darf man die Frage stellen, warum die ehemalige Sowjetrepublik, anders etwa als die baltischen Staaten, auch 33 Jahre nach dem Ende der UdSSR noch immer nicht fit genug ist für den europäischen Wirtschaftsraum EU und das transatlantische Verteidigungsbündnis NATO. Offensichtlich befindet sich die Wirtschaft des Landes in der Hand einiger Oligarchen, wie ihre russischen Brüder bei der Privatisierung der riesigen Kombinate in den 1990er Jahren zu märchenhaftem Reichtum gekommen. Der Haushalt des Landes wird weitgehend gestützt durch Exporte landwirtschaftlicher Produkte, daran ändern auch gut ausgebildete IT-Fachkräfte nichts.

Man darf die Unterstützung der Ukraine durch NATO und EU als kostspielige Gefälligkeit verstehen; ob deren Führungsleute wirklich glauben, nach einem möglichen Ende der Ukraine als Staat stünden Länder wie Estland, Lettland und Polen auf der Liste des russischen Caesaren, muss offen bleiben. Eine Beistandspflicht besteht keineswegs: Die Ukraine ist nicht Mitglied der NATO, die einen Angriff auf eines ihrer Länder laut Vertrag als einen solchen auf die ganze Gemeinschaft wertet und entsprechend zu beantworten beabsichtigt. Diese potentielle Abschreckung ist vermutlich die beste Lebensversicherung gegen Hasardeure und Revisionisten, wie sie in Moskau das Sagen haben. Warum sich aber NATO und EU das ukrainische Fass ohne Boden freiwillig in die Küche geholt haben, ist bisher nicht überzeugend dargelegt worden. Die Weltbank beziffert die Kosten für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur vorsichtig mit rund 480 Milliarden Euro.

Vor diesem Hintergrund muten die Bodentruppenphantasien des Jupiters von der Seine wie ein schlechter Witz an – sie wären der Einstieg in eine neue Phase des Krieges mit völlig offenem Ausgang. Seit Wochen machen Aussagen ukrainischer Generäle die Runde, nach denen dem Land die Soldaten ausgehen. Auf Telegram kursieren Geschichten über besonders brutale Rekrutierungen der Armee, mit den Zahlen zu Gefallenen und Verwundeten geht die Führung sehr diskret um – kürzlich war die Rede von 31.000 toten Soldaten und 10.000 toten Zivilisten. Es zählte zu des ukrainischen Präsidenten ersten Dekreten im Februar 2022, dass Männer im wehrfähigen Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht mehr verlassen dürfen, da sie als Reservisten gebraucht würden. Von diesen leben Zeitungsberichten zufolge etwa 650.000 in Westeuropa, davon rund 200.000 in Deutschland. Diesen Deserteuren fallen alle möglichen Gründe ein, warum gerade sie nicht im Donbass an der Front stehen können; die Bestechung von Ärzten, Offizieren, Grenzern und Beamten öffnet ihnen den Weg in die Cafés von Kopenhagen, Wien, Mailand und Prag. Bevor jetzt französische, britische, niederländische oder deutsche Soldaten für einen Krieg, der nicht der ihre ist, mobilisiert werden, sollten jene Fahnenflüchtigen das tun, was ihre Regierung von ihnen erwartet und wozu sie der halbe Kontinent ertüchtigt: Die Freiheit und die Existenz ihres Landes im Schützengraben verteidigen.

Alexej

Die Nachricht kann gar niemand überraschen
Doch als sie kommt lässt sie den Atem stehn
Die helle Kerze Russlands ist erloschen
Ihr Rauch verdunkelt ganz Sibirien

Der Mörder trägt des Reiches höchsten Titel
Die Krönungsmesse peinlich inszeniert
Auf Nervengift fiel seine Wahl der Mittel
Der Gulag lebt weil Tote er gebiert

Verurteilt dank verdorbener Gesetze
Der Kampf galt jahrelang der Korruption
Der Republik fehlt allerort die Stütze
Als Wiedergänger die Sowjetunion

Doch hat nicht jeder Angst sein Glück zerbricht
Die Weltgeschichte wird sein Weltgericht

Potsdam

Nach dem dramaturgisch aufgezogenen Bericht der Aktivistengruppe Correctiv Mitte Januar über ein „Geheimtreffen“ in Potsdam, auf dem die Anwesenden über einen Masterplan zu „Deportationen“ von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland gesprochen haben sollen, steht die Republik Kopf. Der Deutsche Bundestag hat in einer Aktuellen Stunde über das Treffen von Potsdam debattiert, Grüne und Linke forderten ein Verbot der AfD, ebenso zahlreiche Demonstranten im ganzen Land. Den Vogel abzuschießen blieb jedoch der Bundesinnenministerin vorbehalten. Sie fühle sich durch das Treffen von Potsdam an die Wannseekonferenz erinnert, wie sie in einem Interview bekannte.

Dieser Vergleich der Bundesinnenministerin, die qua Position oberste Dienstherrin unter anderem des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und damit politisch verantwortlich für die innere Sicherheit des Landes ist, offenbart ihre Hilflosigkeit im Umgang mit einer Partei, die angesichts bevorstehender Wahlen zum EU-Parlament und drei Landtagen in den Umfragen stabil in nie gekannten Höhen steht. Noch schlimmer ist die damit ausgelebte Ahnungslosigkeit zu historischen Fakten und Kontexten, allen rituellen Beschwörungen des ewigen Erinnerns an die Verbrechen des III. Reiches zum Trotz. Die Ministerin setzt zwei wesentlich unterschiedliche Treffen auf eine Stufe und bagatellisiert damit eine in der Geschichte einmalige Verabredung zum millionenfachen Mord an den europäischen Juden.

Am 20. Januar 1942 trafen sich in einer Villa am Wannsee im waldigen Südwesten Berlins 15 Spitzenvertreter des NS-Regimes zu einer vertraulichen Besprechung mit existentiellen Folgen. Die Teilnehmer im Range von Staatssekretären kamen aus der SS, der Reichskanzlei, der Partei und einigen Ministerien. Zum Zeitpunkt der Besprechung führte das III. Reich seit etwa zweieinviertel Jahren Krieg: Seine Armeen hatten im September 1939 Polen überfallen und zu zwei Dritteln besetzt, hatten Norwegen, Dänemark, die Niederlande und Belgien überrannt und hatten Frankreich im Juni 1940 in einem Blitzkrieg besiegt. Gleichzeitig führte es eine Luft- und Seeschlacht gegen England, hatte im Juni 1941 die Sowjetunion angegriffen und im Dezember 1941 den USA den Krieg erklärt. Im Rahmen dieses Weltkrieges hatten deutsche Truppen, SS- und Polizeikräfte bereits etwa eine halbe Million Juden vor allem im besetzen Osteuropa ermordet, die meisten davon erschossen.

Das Treffen am Wannsee, dessen Ablauf sich aus dem erhaltenen Protokoll und den Aussagen des teilnehmenden Obersturmbannführers Adolf Eichmann bei seinem Prozess in Jerusalem 1961 recht genau rekonstruieren lässt, diente primär der Organisation des angelaufenen Massenmordes an den europäischen Juden im industriellen Maßstab. Die diesbezüglich um die Federführung ringende SS begriff die geplante Vernichtung der über ganz Europa verstreuten elf Millionen Juden, die neben den militärischen Anstrengungen möglichst ressourcenschonend, schnell und unbemerkt vonstatten gehen sollte, vor allem als logistische Herausforderung. Reklamiert wurde eine Bündelung der Kräfte unter ihrem allseits akzeptierten Kommando. Am Wannsee wurde keineswegs die Ermordung der europäischen Juden beschlossen, vielmehr die Organisation und Durchführung dieser „Endlösung der Judenfrage“. Die aus der Exekutive kommenden Teilnehmer erzielten ausweislich des Protokolls in diesem zentralen Punkt Einigkeit. Gute drei Jahre später, zum Ende des II. Weltkriegs, waren in den Todeslagern der Nationalsozialisten insgesamt rund sechs Millionen Juden getötet worden.

Im November 2023 trafen sich nach Darstellung der Correctiv-Aktivisten Geschäftsleute, Mandatsträger der CDU und der AfD sowie Autoren und Sympathisanten aus dem rechten Spektrum zu einer privaten Begegnung in einem Hotel an einem der zahlreichen Seen rund um Potsdam. Mitglieder der Rechercheplattform hatten sich unter falschem Namen im Hotel eingemietet, sie führten Richtmikrofone und versteckte Kameras mit sich, um den Ablauf des Treffens zu dokumentieren und um die Teilnehmer zu identifizieren. Ihr Befund: Die Teilnehmer, etwa zwei Dutzend, sprachen über die sogenannte „Remigration“ von Millionen Menschen aus Deutschland. Unter „Remigration“, so Correctiv, sei nichts anderes als „Deportation“ zu verstehen. Die Rechercheplattform nahm es für sich in Anspruch, ein „Geheimtreffen“ mit seinen unter Umständen strafbaren, zumindest illegitimen Inhalten aufgedeckt zu haben. Die professionellen Medien in Deutschland, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis zum linken Boulevard von der „Süddeutschen“ über den „Spiegel“ bis zur „Zeit“, nahmen diese Erzählung unisono für bare Münze und wähnten die Demokratie in tödlicher Gefahr.

Die Bundesinnenministerin nun schlug dem Fass den Boden aus, als sie sich zum halsbrecherischen Vergleich mit der Wannseekonferenz verstieg. Hier ein offizieller Termin mächtiger Vertreter der Regierung, dort ein informelles Treffen Interessierter zum Austausch von Ideen; hier eine verbindliche Entscheidung zur Konzeption des industriellen Massenmordes, dort gegebenenfalls die Diskussion eines seit langem in der Fachliteratur verwendeten Begriffs; hier eine als „Geheime Reichssache“ eingestufte Konferenz, dort ein privates Treffen im politischen Vorfeld; hier eine folgenreiche Verabredung leitender Repräsentanten eines Unrechtsregimes, dort eine private Begegnung unter Annahme des grundgesetzlich garantierten Rechts auf die Freiheit der Kommunikation; hier ein Land, das den halben Kontinent mit Krieg überzieht, dort ein Land, das durch die anhaltende Einwanderung in die Sozialsysteme destabilisiert wird. Wer hier Parallelen zieht, tut dies entweder aus entsetzlichem geschichtlichem Unwissen oder in bösartiger Absicht.

Niemand hat öffentlich das Vorgehen der Correctiv-Aktivisten mit ihren geheimdienstlichen Methoden hinterfragt. Niemand hat mögliche Redner des Treffens von Potsdam nach ihrer Version des kolportierten Geschehens gefragt, außer einigen Bloggern aus Österreich und der Schweiz. Und alle selbsternannten Experten setzen das Konzept der „Remigration“ kurzerhand mit „Vertreibung“ gleich, ohne die sozialwissenschaftlichen Debatten zu kennen, die in im Buchhandel erhältlichen Publikationen abgebildet werden. Dass „Remigration“ die rechtsstaatliche Ausweisung abgelehnter Asylbewerber und integrationsunwilliger krimineller Migranten meint, wird geflissentlich übersehen. Wenn sich nun die Bundesinnenministerin die Correctiv-Lesart des Vorgangs ungeprüft zu eigen macht, setzt sie sich dem Verdacht aus, aus schierer Sorge um die eigene Existenz den politischen Gegner zu diffamieren, weil sie ihm argumentativ nicht länger Paroli zu bieten weiß.

Klausur

  Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. – Apg 4,32

Kerstin hat die Weihnachtstage und den Jahreswechsel nicht bloß überstanden, sondern voller Innigkeit erlebt. Wie in den Jahren zuvor hatte sie im Gästehaus einer Benediktinerabtei im westlichen Münsterland Quartier bezogen, unweit der Grenze zu den Niederlanden. An diesem Ort, den heilig zu nennen sie sich nicht scheut, hat sie schon mehrfach die dunkelsten Tage im Jahreskreis begangen, das Verweilen zu dieser emotional belasteten Zeit ist ihr eine kostbare Routine geworden. Und so gern sie zum Loslassen des von Korruption und Stress geprägten beruflichen Alltags hierhin kommt, dauerhaft leben in der Klausur möchte sie nicht.

Der Benediktinerorden ist der älteste der großen katholischen Orden, es gibt ihn in einer Männer- und in einer Frauenversion. Seine Gründung geht zurück auf den heiligen Benedikt von Nursia (circa 480 bis etwa 547), der um das Jahr 529 mit einigen Mönchen das Kloster auf dem Monte Cassino gründete. In der abgeschlossenen Gemeinschaft widmeten sich die Mönche primär dem Gebet, um Gott nahe zu kommen; ihren Lebensunterhalt erwirtschafteten die Mönche durch Landwirtschaft und Handel, letzteren in bescheidenem Umfang. Bevor im Mittelalter die ersten Universitäten gegründet wurden, waren die Klöster, speziell die benediktinischen, mit ihren Bibliotheken Zentren hoher Gelehrsamkeit, die das theologische, philosophische, pharmazeutische und ästhetische Wissen ihrer Zeit aufbewahrten. Für das Leben in der Kontemplation legten die Mönche und Nonnen ihre Profess ab, mit der sie Armut, Keuschheit und Gehorsam versprachen.

Bis heute liegt dem Leben in der Klausur die sogenannte Regel des heiligen Benedikt zugrunde. Dieses Brevier fasst die verbindlichen Regeln der klösterlichen Gemeinschaft zusammen, von der Kleidung, der Gebetsordnung und der Beschaffenheit der Mahlzeiten bis hin zur Arbeitsteilung und zu Strafen im Falle einer Verfehlung. Das Leben im Kloster mutet dabei kommunistisch an, kennen die Mönche doch keinerlei Privateigentum. Im Kapitel 33 der Regel heißt es: „Keiner maße sich an, ohne Erlaubnis des Abtes etwas zu geben oder anzunehmen. Keiner habe etwas als Eigentum, überhaupt nichts, kein Buch, keine Schreibtafel, keinen Griffel – gar nichts. Den Brüdern ist es ja nicht einmal erlaubt, nach eigener Entscheidung über ihren Leib und ihren Willen zu verfügen. Alles Notwendige dürfen sie aber vom Vater des Klosters erwarten, doch ist es nicht gestattet, etwas zu haben, was der Abt nicht gegeben oder erlaubt hat.“

Diese drastische Absage an das private Eigentum, zu Papier gebracht vor annähernd 1500 Jahren, hat auch heute noch Bestand, und das keineswegs metaphorisch. So kam Kerstin eine ergreifende Geschichte aus ihrer Gastabtei zu Ohren: Dort hatte ein Mönch, der von einer schweren Erkrankung genesen war, für sich das Fotografieren als kreative und heilsame Beschäftigung entdeckt. Seine Mutter, die den Genesungsprozess ihres Sohnes unterstützen wollte, schenkte ihm eine Kamera. Dieses Gerät jedoch durfte der Mönch nicht einfach annehmen, er musste den Abt des Klosters darüber informieren und diesen um die Annahme der Gabe bitten. Der Abt erteilte seinem Mitbruder schließlich sein Plazet. Ein anderer Mönch, der während einer dienstlichen Reise mit dem Auto einen Strafzettel wegen falschen Parkens kassierte, grämte sich ob dieses Vergehens furchtbar, weil er mit der Geldbuße das Budget des Klosters belastete.

Zu einem solch einengenden Verzicht wäre Kerstin nicht bereit, so sehr sie auch die gelebte Gemeinschaft des Klosters als stützend und sorgend auffasst. Sie ist zu sehr Individuum, als dass sie ganz in einer höheren Gruppe aufzugehen bereit wäre. Und die vorgeschriebene Uniform, bei den Frauen mit einem Schleier, der die Stirn und das Haar bedeckt, wäre ihr nicht nur unpraktisch, sondern auch ein dauernder Quell des körperlichen Unwohlseins – sie trägt auch im Winter keine Mütze, so sehr will sie rund um den Kopf keinerlei Textil haben, so praktisch oder schmückend es auch sei. Sie versteht, dass die Mönche und Nonnen im Kloster sich dem Dienste Gottes verschreiben und dabei ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellen. Eine Berufung in diese Richtung, mit den Konsequenzen der Entsagung materieller und ideeller Art, ist bisher nicht an sie ergangen. Sie bemüht sich durch Gebete und richtiges Verhalten um den Glauben, ohne dass dieser ihr Leben vollends bestimmte.

Im Speisesaal des Gästehauses hat Kerstin ihr Milieu gefunden. Die Gäste, über die Feiertage gut 40 an der Zahl, sind zu 80 Prozent weiblich, die meisten sind jenseits der 70, fast alle kommen aus der näheren ländlichen Umgebung. Über Weihnachten kommen sie hierher, um nicht allein daheim vor der Krippe zu sitzen, hier finden sie ihre emotionale Gemeinschaft auf Zeit. Etliche der Gesichter kennt Kerstin von früheren Besuchen, auch sie wird von mehreren Frauen als eine der ihren begrüßt. Eine Atmosphäre vollständiger Billigung liegt über den Tischen und dem üppigen Buffet, jede ist willkommen, die typische weibliche Lästerei hält sich merklich in Grenzen. Besonders wohltuend im Kontrast zum Alltag ist das Fehlen der Handys neben den Tellern; hier macht niemand Fotos vom Salat, keine greift dauernd zum Telefon, um die letzten Nachrichten auf X, TikTok und Telegram zu verfolgen und zu kommentieren. Dabei stellt das Haus seinen Gästen seit ein paar Jahren ein kostenloses WLAN zur Verfügung, die Router sind gut sichtbar auf den Fluren angebracht.

Kerstin verbringt die Zeit zwischen den Jahren kontemplativ. Sie liest den neuen Roman von Karl Ove Knausgard, macht lange Spaziergänge in der waldigen Umgebung, geht jeden Abend in die Vesper und singt Weihnachtslieder mit den anderen Gästen; die Stunden dazwischen vergehen pflanzenhaft, indem sie einfach Wurzeln in die Luft schlägt und sich vom Wind streicheln lässt. Das größte Geschenk, das ihr die Abtei macht, ist das Verschwinden all der Fragen und Zweifel, die ihren Alltag dominieren – hier wird sie ohne großes Zutun von einer Bedürfnislosigkeit erfasst, die im Zen wohl Satori genannt wird. Kerstin wünscht sich, diese Unmittelbarkeit mit zurück in die große Stadt zu nehmen, wo zu Jahresbeginn die berufliche Fron wieder ruft. Sie wird die Möglichkeiten prüfen, sich als Oblatin dem Kloster besonders zu verbinden. Aber um diese Form der Unterstützung zu schaffen, muss sie erst hier in die Nähe ziehen. Damit ist eines ihrer großen Vorhaben für die kommende Zeit benannt.