LX

Im warmen Dunkel
Ouvertüre Tannhäuser
Zur Auferstehung
Tränen statt Erklärungen
Kreatur vom Brunnengrund

Mare Baltikum
Danzig Riga Helsinki
Vertraute Ferne
Europa so wie früher
Wasser lädt zur Wandlung ein

Schule des Gesangs
Wiederholung des Gebets
Geheimnis Glaube
Defilee zur Kommunion
Der Raum bereit für Christus

Brett in Schwarz und Weiß
Für sprechende Figuren
Bobby und Garri
Zeitnot Zugzwang Zwischenschach
Denken voller Kunst bei sich

Horror des Frühlings
Das harte Licht kehrt zurück
Turteln im Café
Der Schutz der Kälte schwindet
Zu viele schöne Körper

Den Arm lang machen
Unter Wasser ausatmen
Schwerelosigkeit
Optimal horizontal
Im tonlosen Element

So bar der Kinder
Evolutionär versagt
Einsames Dasein
Unfreiwillig unbemannt
Gehenkt am Dauerpranger

Leben mit Büchern
Als Teil des Gelesenen
Texte als Freunde
Erquickendes Quellwasser
Schönheit Rettung Phantasie

Die Schmerzen wogen
Das Knie lässt sich nicht strecken
Laufen war einmal
Das Fahrrad wird zum Rollstuhl
Gonarthrose progredient

Lob des Vergessens
Bruder Hypnos bleibt zur Nacht
Schwester Lethe tagt
Leere Stille Ablösung
Ziel der Exerzitien

Gewaltenteilung
Trügerisches Renommee
Semikriminell
Das Milieu des Parlaments
Auf Seiten der Verbrecher

Jahrzehnte Latenz
Unverminderter Ausbruch
Zur Behinderung
Stopp jeder Karriere
Karikatur des Geschlechts

Wiederaufbau

Wie sähe der Wiederaufbau der europäischen Stadt nach dem Ende des Autos aus? – Andrea Warnekros

Mit der Epochenschwelle 1989/91 endete die Sowjetunion, das perfide Menschheitsexperiment des Kommunismus wurde für gescheitert erklärt. Zu seinen bis heute sichtbaren Hinterlassenschaften gehören die großen Wohnsiedlungen an den Rändern der Städte des Sojus, die sich unheimlich gleichen, ob sie nun in Riga, Minsk, Bukarest, Danzig, Sofia oder Odessa stehen. Um das steinerne Erbe des zentral gesteuerten Bauens läuft bereits eine Diskussion der Denkmalpflege, einzelne Historiker feiern gar die Panelki genannten Plattenbauten. Der deutsche Architekt Philipp Meuser, der mit mehreren Büchern zum Bauen und zur Stadtplanung in den sozialistischen Ländern hervorgetreten ist, hat gemeinsam mit der ukrainischen Architektin Kateryna Malaia Ende 2024 ein Buch veröffentlicht, das Gebäudetypen und Bauserien der Ukraine abbildet. Ein Unterfangen, das während des laufenden Krieges neben der Bestandsaufnahme notwendig den Ausblick provoziert.

Philipp Meuser, Jahrgang 1969, Architekt und Verleger, gründete 2005 den auf Architektur und Stadtplanung spezialisierten Verlag DOM Publishers. Seit 2018 ist er Honorarprofessor an der Universität Kharkiv. Kateryna Malaia, Jahrgang 1988, studierte Architektur in Kiew und bekleidet derzeit eine Vertretungsprofessur an der Universität Utah. Ihr Schwerpunkt ist die (post-)sowjetische Architektur. Das Buch umfasst ein ganzes Jahrhundert, das mit der Gründung der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) 1922 beginnt und mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sein Ende findet. Die erste Phase von 1922 bis 1938 ist dem spezifisch ukrainischen Wohnungsbau in der Frühzeit der UdSSR gewidmet, die zweite Phase von 1938 bis 1958 steht für Stalins Prunkbauten und das Ende der Moderne, die dritte Phase von 1958 bis 1984 schildert das serielle Bauen unter und nach Chruschtschow, die vierte Phase von 1984 bis 2008 erfasst die späte Sowjetunion und die Oligarchen-Jahre unter wackliger Freiheit, die abschließende fünfte Phase von 2008 bis 2022 dokumentiert den sogenannten Turbokapitalismus ausländischer Investoren und die Renaissance des Urbanen. Die – noch kaum zu bemessende – sechste Phase wäre schließlich eine Darstellung der Zerstörungen während des Krieges und des anschließenden Wiederaufbaus.

Auf den ersten Blick kommt das Buch wie ein lieblicher Katalog des öffentlichen Bauens in der Ukraine im Verlauf der Jahrzehnte daher, versetzt mit den typischen Abkürzungen für einzelne Bauserien: I-438, I-302, II-57, APPS-Lux. Verblasste Fotos, detaillierte Pläne, Grund- und Aufrisse sowie Modelle erzählen an ausgewählten Beispielen aus Kiew, Lviv, Odessa, Jalta, Mariupol, Chernihiv, Dnipro und Cherson die Geschichte des Wohnungsbaus in der Ukraine, mehrheitlich als Sowjetrepublik, ergänzend für die Zeit nach der Unabhängigkeit 1991. Die beiden Autoren sind im Sommer 2022 erneut an den Dnepr gereist, ihre seinerzeit gemachten Fotos geraten nolens volens zu Zeugnissen des Krieges. Eine surreale Aufnahme zeigt ein 24 Stockwerke hohes Wohngebäude in Kiew, die Fassade angestrichen in leichtem Orange und blassem Lachs. Etwas oberhalb der Gebäudemitte zeigt sich ein über mehrere Stockwerke gehendes Loch nach einem Bombentreffer, Stahlträger hängen in der Luft, Wände sind herausgerissen, Decken kippen senkrecht, Staub strömt nach allen Seiten, Fensterrahmen sind verschoben. Und einige Meter weiter brennt ein Licht in einer Wohnung, weht eine Gardine im Wind, laufen Klimaanlagen weiter. Ob das Haus einsturzgefährdet oder notdürftig stabilisiert ist, lässt sich aus der Aufnahme nicht ablesen.

Die Entwicklungen des urbanen Planens und Bauens lassen sich im besprochenen Band an verschiedenen Aspekten ausmachen: Anfangs werden die Wände mit Ziegeln gebaut, mit der Ära Chruschtschow kommen die im ganzen Sojus verwendeten Panelki, also in der Fabrik vorgefertigte und auf der Baustelle eingesteckte Wandelemente inklusive Aussparungen für Türen und Fenster, zum Einsatz. Sind in den 1920er und 30er Jahren auch Mehrfamilienhäuser für Arbeiter im Foyer und an den Fassaden klassizistisch geschmückt, tritt wiederum mit Chruschtschow die pure Sachlichkeit ohne Schnörkel in all ihrer lähmenden Monotonie in den Vordergrund. Die in den 1970er Jahren errichteten Wohnhäuser scheinen schlecht zu altern, was sich an abblätterndem Putz, Wasserflecken und aus der Mode gekommenen Musterreliefs ablesen lässt. Anfang des 21. Jahrhunderts erschlossene Wohnblöcke, umgeben und durchsetzt von erstaunlich viel Grün, könnten mit ihrer unterkühlten Ästhetik schlanker Fenster und auskragender Balkone auch in den Häfen von Kopenhagen oder Rotterdam stehen. Ein kein zehn Jahre altes Wohnhaus in Odessa stellt sich in historisierender Pracht mit Loggien, Ziersäulen, Dekoziegeln, Gesimsen und Balkongittern dar – allerdings verrät die erbärmliche Deckenhöhe von höchstens 2,10 m die Enge hinter der effektheischenden Fassade.

Die russische Kriegsführung richtet sich beileibe nicht nur gegen im engen Sinn militärische Ziele, sondern nimmt konkret die Ausdauer und die Kraft der Zivilbevölkerung ins Visier: Russische Artillerie, unterstützt durch wendige Drohnen, nimmt Schulen, Krankenhäuser, Einkaufszentren, Fabriken und Wohnhäuser unter Feuer, zusätzlich Straßen, Brücken, Häfen und Flugplätze, nicht zuletzt Einrichtungen kritischer Infrastruktur wie Elektrizitätswerke, Kläranlagen, Getreidespeicher und Tanklager. All das geschieht unter einer unfassbar kalten Verachtung des einzelnen menschlichen Lebens – Schätzungen belaufen sich auf bis zu 1.000 gefallene beziehungsweise schwer verwundete russische Soldaten pro Tag. Die meisten von ihnen werden ihren Familien gegenüber als „vermisst“ gemeldet, um der Armee die versprochenen Witwenrenten zu sparen. Hinzu kommt, dass der ganze Donbass im Wortsinn ein einziges Minenfeld ist, an eine landwirtschaftliche Nutzung dieses Gebietes in den kommenden Jahren nicht zu denken ist.

Seit Beginn des Krieges haben die USA rund USD 114 Mrd. an Unterstützungsleistungen an die Ukraine geliefert, davon knapp USD 66 Mrd. an eigens militärischer Hilfe. Damit sind die USA mit Abstand größter Waffenlieferant der Ukraine, hinzu kommt etwa die wichtige Satellitenaufklärung über das private Starlink-Netzwerk. Deutschland kommt für den bisherigen Kriegsverlauf auf eine Unterstützungssumme für das Militär in Höhe von € 28 Mrd.; die Kosten für die Unterbringung der gut 1,3 Mio. ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland sind darin ebenso wenig enthalten wie die drastisch gestiegenen Kosten zur hiesigen Energieversorgung als Folge der Beteiligung Deutschlands an den EU-Sanktionen gegen Russland. Die Ukraine hat nach eigenen Angaben bisher etwa 45.000 gefallene und weitere 390.000 zum Teil schwer verwundete Soldaten zu beklagen, zu Verlusten unter der Zivilbevölkerung schweigt sich die Administration aus. Anfang Januar 2024 galten etwa 250.000 Wohngebäude in der Ukraine als beschädigt oder gar zerstört.

Die Weltbank schätzt, dass es dereinst etwa USD 524 Mrd. kosten werde, die Schäden des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zu beseitigen. Wer diese enormen Gelder des Wiederaufbaus des geschundenen Landes über welchen Zeitraum aufbringen solle, bleibt seitens der zitierten Studie unerwähnt. Die US-Amerikaner unter ihrem altneuen Präsidenten sind die einzigen, die bisher den Wert und den Preis der gewährten und projektierten Hilfen beziffern und den Gedanken einer Refinanzierung ins Gespräch bringen; der ursprüngliche Plan, die in der Ukraine lagernden Seltenen Erden durch US-Konzerne erschließen und abbauen zu lassen und dergestalt die gewaltigen Summen zumindest tendenziell einzuspielen, ist nach dem offen ausgetragenen Streit von Washington zwischen dem ukrainischen und dem US-Präsidenten erst einmal vom Tisch. Darüber hinaus hat die US-Regierung jede weitere Ukraine-Hilfe bis auf weiteres gestoppt. Im schlimmsten Fall schlüge gerade fern ab jeden Friedens eine Stunde Null mitten im Krieg, die eine weitere Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression auf andere Füße würde stellen müssen.

Die Ukraine ist zwar überwiegend ein Agrarland, die Bevölkerung lebt aber zu mehr als zwei Dritteln in städtischen Regionen. Sie ist anders als Deutschland kein Mieterland, die Wohneigentumsquote liegt bei über 85 Prozent. Nach dem Kollaps der Sowjetunion ging der staatlich reglementierte Bestand sukzessive an die Bewohner über. Allerdings wurde es 1991ff. versäumt, den neuen Eigentümern auch einen Teil des Grundstücks zu übertragen, dieses verblieb beim trägen, an Erhalt und Pflege weitgehend desinteressierten Staat. Diese Nachlässigkeit im Umgang mit umbautem Raum zeigt sich auch beim Verkauf von Wohnungen; diese sind in der Regel unverputzt und verfügen über keinerlei technische Ausstattung, sodass es dem neuen Eigentümer obliegt, nicht nur zu tapezieren, sondern sich auch um Strom, Wasser, Heizung und dergleichen zu kümmern. Ein besonders rührendes Foto des besprochenen Bandes zeigt eine Tiefgarage, die mit Matratzen, Konserven, Decken und Wasserflaschen zu einem Luftschutzbunker umfunktioniert wurde.

Wenn der Wiederaufbau der geschundenen und teilweise zerstörten Städte beginnen kann, wird es in erster Linie darum gehen, rasch Wohnraum für die Bevölkerung zu schaffen. Es braucht zunächst die Bergung der zahllosen Minen und nicht explodierten Bomben, Abraumhalden für den Schutt, Kenntnisse und Geräte zur Identifizierung und Wiederverwertung kostbarer Trümmerteile, einen Anschluss an die städtische Infrastruktur, eine Anschubfinanzierung für den Baubeginn, eine sozial verträgliche Priorisierung bei der Vergabe neu erbauter Wohnungen speziell in den urbanen Zentren. Auch gilt es den unversehrten Bestand auf weitere Tauglichkeit hin zu prüfen und ihn gegebenenfalls mit zu ersetzen. Welche Stilelemente und Materialien die künftige Nachkriegszeit prägen werden und wie lange ihre Halbwertzeit sein wird, lässt sich heute nicht seriös abschätzen. Allerdings steht es zu vermuten, dass sich die Nachkriegsukraine vom kyrillischen Alphabet, das auch vom verhassten russischen Nachbarn benutzt wird, abwenden wird. Schon jetzt, so zeigt es der vorliegende Band, dominieren in den jüngeren Vierteln ausländische Unternehmensmarken das kommunikative Bild der Straßen. Und die schreiben sich selbstredend im lateinischen Alphabet.

Boris

Spasski ist ein kompletter und absolut universeller Spieler. Er konnte gleichermaßen gut angreifen, verteidigen und positionelle Vorteile anhäufen. Er war es, der die Mode der Universalität schuf, die bis auf den heutigen Tag lebendig ist. – Anatoli Karpow

Wie schafft man es, als Weltmeister seiner Disziplin immer nur als Komparse genannt zu werden? Indem man gegen einen Herausforderer verliert, der ein bis dato unbekanntes Niveau erreicht und dergestalt die Grenzen der Profession verschiebt. Genau das geschah im Sommer 1972, als sich Boris Spasski und Bobby Fischer in Reykjavik um den Titel des Schachweltmeisters duellierten. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges entriss der Amerikaner Fischer dem Russen Spasski die WM-Krone und unterbrach die sowjetische Dominanz im Schach. Die Behörden der UdSSR empfanden diese Niederlage ihres Spielers als Affront und strichen ihm die staatliche Unterstützung. Spasski hingegen zeigte sich erleichtert, nicht länger die Bürde des Weltmeisters schultern zu müssen.

Boris Spasski wurde am 30. Januar 1937 im seinerzeitigen Leningrad geboren. Rechtzeitig vor der mörderischen Blockade der Stadt an der Newa durch die Wehrmacht 1941 wurde er in die Region Kirov evakuiert; das Schachspiel erlernte er mit fünf Jahren, ernsthaft widmete er sich dem Spiel nach der Rückkehr in seine Geburtsstadt 1946. Er profitierte davon, dass die sowjetischen Behörden das Schach sowohl in der Breite als auch der Spitze systematisch förderten und den Anspruch erhoben, die UdSSR zur globalen Führungsmacht im Schach zu machen. Im Pionierpalast Leningrads traf er auf den Trainer Vladimir Zak, der den Jungen zu einem vielversprechenden Spieler formte, der eine Vorliebe für ein bewegliches Zentrum, den Königsangriff und rechenintensive taktische Stellungen zeigte. 1953 besiegte er bei einem Turnier in Bukarest den nachmaligen Weltmeister Vassily Smyslov, 1955 verlieh ihm der Weltschachbund FIDE den Titel eines Großmeisters – als damals jüngstem Spieler überhaupt.

Anders als bei seinem Generationenkollegen Mikhail Tal verlief Spasskis weiterer Weg nicht so kometenhaft. Sein unzweifelhaftes Talent für das Spiel traf auf eine gewisse Lethargie hinsichtlich des Trainingsfleißes. Zwar teilte er 1958 den 1. Platz der Meisterschaft der UdSSR (die er 1961 und 1973 erneut gewinnen sollte), bei mehreren Kandidatenturnieren zur Qualifikation für ein WM-Match lieferte er aber nur durchwachsene Leistungen ab. Erst als Anfang der 1960er Jahre Igor Bondarewski sein Trainer wurde, entwickelte sich sein Schach in Richtung absolute Spitze. Er gewann 1966 in Santa Monica den Piatigorski-Cup, damals eines der wenigen privat organisierten und gut dotierten Turniere mit internationaler Besetzung. Im selben Jahr unterlag er dem amtierenden Titelträger Tigran Petrosian, der in den Eröffnungen schlicht besser präpariert war.

Spasski bewies Ausdauer, durchlief den mühsamen Qualifikationszyklus um die WM ein weiteres Mal und forderte Petrosian 1969 in Moskau erneut. Diesmal behielt er souverän die Oberhand und erntete die Früchte jahrelanger Arbeit. Als er dann nach drei Jahren gegen Fischer den sogenannten Wettkampf des Jahrhunderts verlor, wurde er wegen angeblich schlechter Vorbereitung und unzureichender Leistung vom Sportkomitee gemaßregelt. Spasski zog mit seiner dritten Ehefrau nach Frankreich und spielte regelmäßig in der deutschen Bundesliga; seine Versuche, sich ein weiteres Mal für ein Titelmatch zu qualifizieren, scheiterten. 1992 erklärte er sich mitten im Jugoslawienkrieg zu einem Gespenstermatch gegen Bobby Fischer in Belgrad bereit, wohl aus Hilfsbereitschaft seinem so geschätzten wie schwer verwirrten Gegnerpartner von Reykjavik gegenüber. Danach saß er nur noch sporadisch am Brett, spielte gelegentlich simultan, kommentierte hier und da. Vor allem litt er unter den Folgen mehrerer Schlaganfälle, Anfang der 2010er Jahre zog er zurück nach Russland.

1970 kam es in Belgrad zum sogenannten Match UdSSR gegen den Rest der Welt. Zehn Großmeister der seinerzeit unbestritten dominanten Schachnation spielten gegen zehn Kollegen außerhalb des Sojus. Boris Spasski war als Weltmeister für das 1. Brett gesetzt, an dem er auf den Dänen Bent Larsen traf, der diese Position selbstbewusst für sich reklamiert hatte und damit den Amerikaner Bobby Fischer ans 2. Brett verwies. Im zweiten Umgang dieser reizvollen Veranstaltung spielten Larsen und Spasski eine Miniatur, bei der dem Weißspieler Hören und Sehen verging. Larsen eröffnete unorthodox mit 1.b3, Spasski antwortete mit 1.e5 und weiteren, naheliegenden Entwicklungszügen, während Larsen sich mit obskuren, antipositionellen Zügen verzettelte. Unter mehreren sehenswerten Figurenopfern drang Spasski leichter Hand in die weiße Stellung ein und erlegte den unrochierten König mitten auf dem Brett nach nur 17 Zügen. Eine köstliche Partie, die Erstaunen und Schadenfreude gleichermaßen aktivierte, bis heute ein Vergnügen beim Nachspielen.

Zum Spektakel in Reykjavik ist anzumerken, dass das Match, das wegen Fischers peinlichen Eskapaden mehrfach vor dem Abbruch stand, nur dank Spasskis Konzilianz überhaupt halbwegs geordnet durchgeführt werden konnte. Fischer kam erst mit tagelanger Verspätung auf Island an, fehlte bei der Eröffnung, wollte keine Kameras im Spielsaal, düpierte die Organisatoren, war mit der Beleuchtung und dem Spieltisch unzufrieden und forderte überdies mehr Geld. Langmütig nahm Spasski dieses kindische Gebaren seines Herausforderers hin, weil er sich schachlich mit ihm messen wollte. Offen widersetzte er sich den Anweisungen der sowjetischen Funktionäre, den Wettkampf einfach abzubrechen; angesichts Fischers grob unsportlichen Verhaltens hätte er jedes Recht dazu gehabt. Zum Glück für die Schachwelt kam es anders.

Die 1. Partie warf der Amerikaner durch einen Anfängerfehler im Endspiel weg, die 2. Partie verlor er durch Nichterscheinen. Spasski wahrte die Contenance und stimmte Fischers Diktat, die 3. Partie in einem kleinen Nebenraum ohne Publikum und Kameras zu spielen, zu. Als Lohn wurde er zum ersten Mal überhaupt von Fischer geschlagen. Als Fischer die 6. Partie überraschend mit 1.c4 eröffnete und in grandiosem Stil gewann, fing das Publikum spontan an, dem Amerikaner zu applaudieren – Spasski fiel nach dem Händedruck als Zeichen der Aufgabe in den Beifall ein, welch generöse Geste gegenüber seinem Widerpart. Weitere Höhepunkte der Auseinandersetzung waren die 10. und die 13. Partie, die Fischer zwar gewann, die aber ohne Spasskis couragiertes Zutun keine zeitlosen Kunstwerke geworden wären. Am Ende siegte der Amerikaner mit 12,5 zu 8,5 Punkten und wurde der 11. Schachweltmeister.

Während Fischer danach in der Versenkung verschwand und seinem Antisemitismus – als Jude! – hemmungslos freien Lauf lief, kultivierte Spasski den Habitus eines Bohemian und Bonvivant. Er, der mit seinem blendenden Aussehen und seinen monarchischen Ansichten so gar nicht ins graue Kollektiv der Sowjetunion passte, wurde gar Teil der Popkultur: Im James Bond-Film „Liebesgrüße aus Moskau“ wurde eine seiner berühmten Partien dargestellt. Spasski spielte halbseidene Eröffnungen wie das romantische Königsgambit und war zugleich der führende Experte der Breyer-Verteidigung der Spanischen Partie. Auf seine unterstellte Endspielschwäche angesprochen, antwortete er lakonisch, das sei nicht weiter schlimm, da er seine Partien im Mittelspiel zu gewinnen pflege. Am 27. Februar 2025 ist Boris Wassiljewitsch Spasski nach langer schwerer Krankheit gestorben, das Schach verliert einen Solitär.

Jüdin

Wie wäre es die Religion zu wählen
Wie Kleider Speisen Partner Hochfrisur
Als Teil des Korpus ausgesuchter Seelen
Die Bat Mizwa als nachgeholte Kür

Wir heißen Zoe Rahel Judit Lea
Wir lesen Ijob Psalmen Hohelied
Der gute Gott erzürnt und straft wie früher
Der Zionismus garantiert Gebiet

Der Glaube an das Wort den Witz das Wandern
Daheim in Weltstadt Wüste Jeschiwa
Das Schicksal anzunehmen statt zu ändern
Von ultraorthodox bis säkular

Mehr Leben lebt in einem deiner schönen Augen
Theologisch erledigt bleib treu deinen Wegen

WW II

Vae victis! – Keltischer Heerführer an die besiegten Römer im Jahr 387 v. Chr.

Der markante Kubus ist problemlos vom alten Stadtzentrum Danzigs aus zu sehen. Wie eine massige Skulptur steht der rund 40 Meter hohe, teils spiegelnd verglaste, teils in leuchtendem Rot verkleidete Bau in einem Winkel von 56° auf einem ehemaligen Busbahnhof inmitten des Hafengeländes. In der näheren Umgebung stehen neu erbaute Wohnriegel, deren Fassaden frischen Wohlstand verkünden, ansonsten bleibt der Kubus ein Solitär. Er wurde 2017 als Museum des II. Weltkriegs eröffnet, das nach den Worten seines Gründungsdirektors kein Militärmuseum sein soll, sondern die Leiden und den Alltag der Zivilbevölkerung während des II. Weltkriegs in den Vordergrund rücken will. Die Ausstellungsfläche umfasst rund 5.000 m² und liegt in einer Tiefe von 14 Metern.

Um dieses Museum, das das erste seiner Art in Polen ist, hat es eine erbitterte Kontroverse gegeben. Den Anstoß zu seiner Errichtung gab 2008 die seinerzeitige Regierung unter Ministerpräsident Donald Tusk, einem gebürtigen Danziger und studierten Historiker. Das Architekturbüro Kwadrat aus dem benachbarten Gdynia gewann den Wettbewerb, mit dem Bau wurde 2012 begonnen, parallel dazu wurden rund 36.000 Artefakte als mögliche Exponate des zu eröffnenden Museums gesammelt. Die seit 2015 in Polen regierende PiS-Partei suspendierte die erste Museumsleitung und griff ins Ausstellungskonzept ein, der Katalog zur Dauerausstellung war für mehrere Jahre nicht erhältlich. Diese Übergriffigkeit der Regierung war möglich, weil das Museum administrativ und finanziell dem Kultusministerium untersteht. Nachdem Donald Tusk Ende 2023 erneut polnischer Premier wurde, wurden die Mitglieder der ersten Museumsleitung rehabilitiert und wieder ins Amt gesetzt.

Anhand der Konzeption der Ausstellung wird einmal mehr deutlich, dass die Geschichtswissenschaft keine objektive Wissenschaft ist, vielmehr den jeweiligen Standpunkt der Forscher – und damit verbunden ihren blinden Fleck – nicht verleugnen kann. Es beginnt bei der Auswahl der jeweiligen Quellen, setzt sich fort bei deren Gewichtung, Analyse sowie Interpretation und findet das vorläufige Ende beim wertenden Rahmen der präsentierten Erzählung. Notwendig fallen dabei Dinge, Personen, Aspekte, Zusammenhänge unter den Tisch, die es bräuchte, um das ganze Bild zu zeichnen, während andere Positionen und Auslegungen zu kurz kommen. Um einen wünschenswerten Abstand in der Totalen zu erreichen, müsste der Historiker wohl diese Erde verlassen und einen Beobachtungsposten auf dem Mond oder zumindest auf einem Satelliten beziehen, dann bekäme er das Notwendige und Unverzichtbare lange genug in den Blick. Und neben einem Teleskop bräuchte er zudem noch ein Mikroskop.

Unvollständig ist bereits die Aufbereitung der Vorgeschichte des II. Weltkriegs, die in den Versailler Verträgen zum Ende des I. Weltkriegs wurzelt. Gleich vier Imperien – Habsburg, Hohenzollern, Osman, Romanov – gehen in den Gräben von Sedan und Verdun unter, die teilweise an deren Stelle tretenden parlamentarischen Demokratien stehen auf wackligem Fundament. Es sind die sich etablierenden autoritären Regime in Italien, der Sowjetunion und Deutschland in den 1920er und frühen 30er Jahren, die die Nachkriegsordnung Europas unter Druck setzen. Die Ausstellung zeigt anhand propagandistischer Plakate den Personenkult um den Sowjetdiktator Josef Stalin, der sein Land mit roher Gewalt vom rückständigen Agrarstaat in Richtung Industriemacht peitscht. Die berühmten Filme Leni Riefenstahls illustrieren die Funktion Adolf Hitlers als Führer Deutschlands, der vom ersten Tag an in der Reichskanzlei auf den kommenden Krieg hin arbeitet; die einschlägigen Szenen aus „Olympia“ und „Triumph des Willens“ werden dabei erwartungsgemäß mit Richard Wagners „Walkürenritt“ unterlegt.

Das Oberthema der Ausstellung des Museums des II. Weltkriegs ist die Rolle Polens als erstem Opfer des Krieges, genauer der Invasion der Wehrmacht und der Roten Armee im September 1939, und zugleich als hartnäckigem Widerständler, der sich nach der bedingungslosen Kapitulation des III. Reiches im Mai 1945 auf der Seite der Sieger wiederzufinden meint. Diese heldische wie patriotische Lesart des wohl schlimmsten Krieges in der Geschichte der Menschheit ist nicht frei von Chuzpe, zumal die Ausstellung die eigentlichen Gründe für die Niederlage des III. Reiches nach sechs Jahren des Mordens nicht benennt: Da wäre zum einen die heillose Überdehnung militärischer, finanzieller, logistischer, industrieller und mentaler Ressourcen, die mit dem wahnsinnigen Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 einherging; zum anderen das noch im Sommer 1941 durch den Kongress auf den Weg gebrachte Lend-Lease-Programm, mit dem die USA noch vor dem offiziellen Kriegseintritt im Dezember 1941 zur entscheidenden Rüstungsschmiede der Alliierten wurden und diese großzügig mit Waffen aller Art und lebenswichtigen Industriegütern ausstatteten.

Als Sündenfall erscheint der Hitler/Stalin-Pakt vom August 1939, mit dem sich die beiden Diktaturen in Moskau auf eine friedliche Lösung möglicher Konflikte verständigen – und in einem geheimen Zusatzprotokoll ihre Interessenssphären in Osteuropa markieren. Das Baltikum, zu dem auch Finnland gezählt wird, geht ebenso wie Bessarabien und das östliche Polen an die Sowjetunion, der größere westliche Teil Polens wird dem III. Reich zugeschlagen. Im September 1939 dauert es gerade drei Wochen, bis das 1918 wieder souverän gewordene Polen zum vierten Mal geteilt wird und erneut von der politischen Landkarte verschwindet. Die Ausstellung zweifelt die Schuld des III. Reiches am II. Weltkrieg nicht an, nobilitiert die Sowjetunion aber zum Ko-Aggressor; nachvollziehbar angesichts der Massaker der Roten Armee auf polnischem Boden und des Behaltens der estnischen, lettischen, litauischen und polnischen Gebiete als Beute des Hitler/Stalin-Paktes sowie der sowjetischen Fremdbestimmung bis 1989.

Insgesamt spricht die Ausstellung eher das Gefühl und weniger den Verstand an, sie unternimmt nichts, um das Grauen des Krieges auf Abstand zu halten. Unter den Exponaten befinden sich Flaggen und Uniformen, Maschinengewehre und Panzer, Briefe und Fotos anonymer Soldaten, Filmschnipsel aus Wochenschauen und Portraits Verhafteter, Feuerzeuge und Schmuck, Münzen und Geschirr, Lebensmittelmarken und eine Enigma-Verschlüsselungsmaschine. Rührend ein Paar Absatzschuhe, das eine junge Braut während ihrer Hochzeit inmitten des Krieges trug; ebenso eine aus Textilresten genähte Gesichtsmaske, um sich vor dem schneidenden Wind in der sibirischen Verbannung zu schützen. Die erfolgten Deportationen polnischer Bürger durch die Sowjets hinter den Ural werden als Teil einer Strategie während der Kriegshandlungen inszeniert; dabei wurden bereits seit den frühen 1920er Jahren und bis spät in die 1940er Jahre alle möglichen Nationalitäten, die in die Fänge des kommunistischen Regimes Moskaus gerieten, in die Eiswüsten des Hohen Nordens verschleppt.

Der Holocaust, die im industriellen Maßstab betriebene Verfolgung, Verhaftung und Vernichtung der europäischen Juden, wird im Danziger Museum nicht ausgespart, bekommt aber den Rang des Beiläufigen – eine solche Rahmung wäre in einem deutschen, amerikanischen oder israelischen Museum vergleichbaren Zuschnitts undenkbar. Dabei war die Behauptung der Überlegenheit der arischen Rasse gegenüber allen anderen bei gleichzeitiger Entmenschlichung der jüdischen Rasse das Kernelement der nationalsozialistischen Ideologie, die einer der Gründe für den II. Weltkrieg werden sollte. Der Aufstand im Warschauer Ghetto im April 1943 wird lobend erwähnt, gerät aber praktisch zur Hinführung auf den Warschauer Aufstand im August 1944. Das Massaker an den 33.000 Juden von Kiew in der Schlucht von Babin Jar im September 1941, noch bevor die Fabriken in den Vernichtungslagern angelaufen waren, wird hingegen mit einem raren Farbfoto der Exekutionen illustriert, was den Grusel nur verstärkt.

Ambivalent auch die Darstellung der letzten Kriegsmonate samt der Weichenstellungen für die Zeit nach der Kapitulation. Die alliierten Flächenbombardements auf Städte wie Dresden oder Hamburg, die keinen militärischen Zielen dienten, sondern primär die Zivilbevölkerung treffen sollten, werden schlicht ignoriert. Dafür werden die zahllosen Vergewaltigungen und Tötungen deutscher Mädchen und Frauen im Sommer 1945 genannt – wohl, weil sie von sowjetischen Soldaten als mutmaßliche Racheakte verübt wurden. Die Westverschiebung Polens Richtung Oder und Neiße wird nüchtern protokolliert; dass rund 14 Millionen Deutsche aus Ostpreußen, Pommern, dem Wartheland und Schlesien zuerst enteignet und dann nach Westen vertrieben wurden unter Zurücklassung all ihres Besitzes, wird mit keiner Zeile geschrieben. Natürlich wird das Nürnberger Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher 1946 zitiert, während die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki (August 1945) als lässliche Sünden der USA abgehandelt werden, um den japanischen Imperialismus endgültig auf die Knie zu zwingen.

Der II. Weltkrieg spielt für die polnische nationale Identität eine bedeutende Rolle, immerhin begann er im September 1939 mit dem Beschuss eines Munitionsdepots auf der Westerplatte im Danziger Hafen und dem zeitgleichen Überfall auf den Sender Gleiwitz. Das Gedenken an den II. Weltkrieg erfährt dabei auch eine politische Instrumentalisierung, wie man an den grotesken Forderungen nach deutschen Reparationen in Höhe von 1,6 Billionen Euro während des Wahlkampfes 2023 ablesen konnte, an allen gültigen völkerrechtlichen Verträgen vorbei. Durch die Konferenzen von Jalta (Februar 1945) und Potsdam (Juli 1945) wurde die Nachkriegsordnung Europas auf Jahrzehnte festgelegt, deren Signum die Ausdehnung des sowjetischen Machtbereiches auf die Länder Osteuropas inklusive Polens war. Die Abschüttelung des kommunistischen Jochs begann im August 1980 ebenfalls in Danzig, mit den Streiks auf der Leninwerft und der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc. Diese Geschichte wird im nahe gelegenen, sehenswerten European Solidarity Centre rekonstruiert – mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Implosion der UdSSR 1991 endete der II. Weltkrieg nun wirklich. Endlich.

ePA

Die Einführung einer elektronischen Patientenakte (ePA) für die rund 70 Mio. gesetzlich Versicherten in Deutschland wurde bereits vor 20 Jahren diskutiert, doch dauerten Planung und Aufsetzung bis heute. Seit Mitte Januar 2025 laufen in ausgewählten Regionen Pilotprojekte, ab Frühjahr 2025 soll sie dann flächendeckend verbindlich werden. Dabei hat sich die Bundesregierung für die sogenannte Widerspruchslösung entschieden: Wer nicht aktiv widerspricht, bekommt eine ePA, angelegt von der jeweiligen Krankenkasse. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die ePA die Versorgung der Bevölkerung mit medizinischen Leistungen verbessern wird, dass es keine Doppeluntersuchungen mehr geben wird, dass die digitalen Daten im Gesundheitswesen besser genutzt werden können, für die Behandlung der Patienten und für die Forschung.

In der ePA sollen alle Dokumente in der Krankheits- beziehungsweise Behandlungsgeschichte eines Menschen digital abgelegt werden: Arztbesuche in Praxis und Klinik, Untersuchungen, Laborbefunde, Röntgenbilder, MRT, chronische Erkrankungen, Therapien, Medikationen, Impfungen. Perspektivisch können auch selbst erhobene digitale Daten wie Pulsfrequenz, Blutzuckermessung, Schlafdauer etc. vom Patienten eingepflegt werden. Idealerweise sollen auch ältere Dokumente über erfolgte Behandlungen Schritt für Schritt digitalisiert und in die ePA hochgeladen werden. Der Patient soll diese digitale Datensammlung über eine App verwalten und bestimmen können, wer auf welche Daten Zugriff haben kann.

Diese digitale Behandlungsgeschichte soll für alle Akteure im Gesundheitswesen – niedergelassene wie stationäre Medizinier, Apotheker, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten – unabhängig vom Standort abrufbar sein. Nicht jeder Patient weiß noch, wann die letzte Vorsorgeuntersuchung stattfand und welches Ergebnis sie brachte – die ePA dokumentiert diese. Im Notfall, wenn der Patient keine Auskunft über etwaige Allergien geben kann, findet sich in der ePA darauf ein Hinweis. Mit anderen Worten: Sämtliche Gesundheitsdaten eines Patienten, die aus Abrechnungsgründen zentral bei den Krankenkassen liegen, stehen potentiell nun auch den Leistungserbringern in der laufenden Behandlung zur Verfügung. Geöffnet werden kann diese über die Gesundheitskarte der Versicherten; Leistungserbringer müssen sich vorab legitimieren, was über die jeweiligen IT-Systeme der Praxen, Kliniken und Apotheken geschieht.

Aus Sicht der Leistungserbringer ist es sicher ein Vorteil, in der Vergangenheit bereits erfolgte Untersuchungen, Befunde, Therapien und Medikationen auf einen Blick präsentiert zu bekommen – vorausgesetzt, die Daten sind in einem austauschbaren gängigen Format abgespeichert und lassen sich auf herkömmlichen Rechnern öffnen, lesen und gegebenenfalls kommentieren. Im Notfall kann es lebensrettende Zeit sparen, über die Medikation eines Patienten sofort im Bild zu sein und etwaige Unverträglichen zu vermeiden. Für den Patienten ist es bestimmt von Vorteil, zu einem Arztbesuch nicht diverse unhandliche Röntgenbilder mitzubringen; auch muss man nicht alle Medikamente und ihre Dosierung im Kopf haben. Nicht zuletzt sind Arztberichte in einer medizinischen Fachsprache verfasst, die von vielen Patienten nicht voll verstanden wird und die dementsprechend nicht immer korrekt dargestellt werden – hier wäre die ePA eine klare Hilfe.

Als Nachteil muss die verpflichtende Anlage einer ePA gelten – eine sogenannte Zustimmungslösung, nach der eine ePA nur auf ausdrücklichen Wunsch der gesetzlich Versicherten angelegt wird (wie es bei den privat Versicherten im Übrigen der Fall ist), wurde bewusst nicht gewählt. Als weiteres Risiko kommt die weiter oben als Vorteil beschriebene Konzentration aller relevanten Daten in einem großen Ordner daher: Wer hier einmal den Einblick bekommt, hat die ganze Krankheits- und Gesundheitsgeschichte im Griff. Wenn Kriminelle diese sensiblen Daten in die Hand bekommen, können sie damit gewaltigen Schaden anrichten. So wurden 2020 in Finnland von Erpressern erbeutete digitale Daten aus Psychotherapiesitzungen für alle einsehbar ins Netz gestellt; einige Patienten, deren psychische Leiden auf diese Weise offenbar wurden, nahmen sich in der Folge das Leben.

Theoretisch können nur Berechtigte aus den Heilberufen auf die individuelle ePA zugreifen – weiße Hacks des Chaos Computer Clubs (CCC) haben allerdings mehrfach gezeigt, wie vergleichsweise einfach es ist, einen Heilberufeausweis digital zu simulieren und dergestalt unberechtigt Zugang zum System zu erlangen. Das BM Gesundheit kommuniziert darüber hinaus, dass jeder Patient über eine Mobiltelefon-App festlegen kann, welcher Arzt welche Behandlung, Diagnose und Medikation sehen kann. So muss der Zahnarzt nicht wissen, dass der Patient mit Parodontose vor zwei Jahren in einer Suchtklinik untergebracht war. Auch geht es den Orthopäden nicht zwingend etwas an, dass ein Patient mit Gonarthrose HIV-positiv ist. Die Apothekerin braucht außerdem nicht zu wissen, dass eine Diabetikerin vor Monaten eine Abtreibung hatte. Und was hätte eine HNO-Ärztin davon, zu wissen, dass ihre Patientin mit Sinusitis zusätzlich nach einer F64.0-Diagnose behandelt wird?

Allerdings sieht die Praxis der Zugriffssteuerung der ePA nach Expertensicht anders aus: Der Sprecher der Kritis AG moniert, dass die Einstellungen in der App es bisher nur erlauben, die Daten der ePA pauschal für alle Leistungserbringer freizuschalten oder für keine. Hier ist dringend Abhilfe zu schaffen; es muss für jeden Patienten möglich sein, selektiv zu bestimmen, welcher Arzt welche Daten sehen kann. Außerdem ist bislang noch nichts bekannt über eine Demoversion der ePA, wo interessierte oder verunsicherte Patienten erfahren können, wie genau die Verwaltung ihrer Daten auf dem Mobiltelefon funktioniert. Hier sollten die zuständigen Krankenkassen, die für die Anlage einer ePA zuständig sind und zu diesem Zweck Rechenzentren von Dienstleistern wie IBM nutzen, ihre Patienten besser informieren und aufklären.

Ein weiterer Aspekt der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist die geplante sekundäre Nutzung der Daten zu Forschungszwecken. Der Bundesgesundheitsminister hat nebenbei mitgeteilt, dass Digitalkonzerne wie Alphabet, Meta und Open AI bereits ein großes Interesse an den – pseudonymisierten – Daten der ePA zeigten, um hiermit ihre KI-Sprachmodelle spezifisch zu trainieren. Der sich abzeichnende Trend, dass kommerzielle Unternehmen, deren Geschäftsmodell der Verkauf von Werbeplätzen im digitalen Raum ist, Zugriff auf den originären Datenschatz zur Gesundheit bekommen können und diesen mit ihren bereits vorhandenen Datenvolumina verknüpfen, sollte ausgesprochen kritisch gesehen werden. Hier sollte der Kreis derjenigen, die mit diesen sensiblen Daten sekundär arbeiten, streng begrenzt werden; auch sollten Kriterien ihres Wertes und gegebenenfalls ihrer Bezahlung definiert werden.

Offen bleibt abschließend, inwieweit die ePA vor einer Beschlagnahmung durch die Strafverfolgungsbehörden geschützt ist. Nach § 97 der Strafprozessordnung (StPO) ist die Beschlagnahmung medizinischer Daten, die der Arzt in seiner Praxis oder in einer Klinik über einen Patienten erhebt, analysiert und speichert, verboten; gleiches gilt für die kompilierten medizinischen Daten eines Patienten auf den Servern der Krankenkassen. Die ePA, zu deren Verwalter der Patient mit seinem mobilen Telefon werden soll, taucht in der StPO hingegen nicht auf. Schon werden von konservativer Seite Stimmen laut, dass die Polizei zur besseren Prävention von Attentaten einen Zugriff brauche auf die medizinischen Daten psychisch auffälliger Personen. Solange diese vorauseilende Polizeiarbeit unter Aushebelung der ärztlichen Schweigepflicht nicht kategorisch ausgeschlossen werden kann, sollte jeder Mensch bei Verstand der Anlage einer ePA widersprechen. Bis heute haben das rund fünf Prozent der gesetzlich Versicherten getan.

Patin

Das erste, was Kerstin an der Grundschule im grünen Westend auffiel, war der Lärm. Sie kam während der großen Pause zu ihrem ersten Termin, auf dem weiten Schulhof tobten unzählige Kinder und schrien dabei in einer Lautstärke, die ihnen nichts anzuhaben schien, die Kerstin aber wie eine Ohrfeige traf. Im hohen Treppenhaus, von dem die Gänge zu den Klassen und zum Verwaltungstrakt abgingen, tönten die schrillen Stimmen etwas gedämpft, sie waren aber noch als Hintergrundkreischen zu vernehmen. Zwei Kinder stürmten lachend die Stufen hinunter und rannten beinahe in Kerstin hinein; einen Augenblick vorher sprangen sie leicht zur Seite auf die nächste Stufe, behender, als es Artisten im Zirkus je könnten.

Im Sekretariat wurde sie freundlich empfangen und bekam gar eine Tasse Kaffee angeboten. Nach der Pause sollte sie mit der Klassenlehrerin in eine Klasse gehen, wo es für etliche Kinder einen besonderen Förderbedarf gab. Hinter dieser pädagogisch verschleiernden Formel verbarg sich der Umstand, dass jene Kinder nicht imstande waren, einem altersgemäßen curriculumsgestützten Unterricht im Sinne einer Wissensvermittlung zu folgen. Sie saßen in der Klasse und konnten das, was die Lehrerin an der Tafel erklärte, partout nicht verstehen. Sie vergrößerten dergestalt ihre Lücken, konnten keine Aufgaben lösen, beteiligten sich nicht an den Unterrichtsgesprächen und saßen still an ihrem Platz oder aber riefen unvermittelt in die Klasse hinein, dabei die anderen störend. Diese Kinder mit besonderem Förderbedarf sollten Lesen, Rechnen und Schreiben lernen, was sie in ihrem Alter eigentlich längst können müssten, aus verschiedenen Gründen aber nicht konnten.

Vor zwei Monaten war Kerstin bei einer Informationsveranstaltung in einem Bürogebäude in der Innenstadt gewesen, angeleitet von einer älteren Dame mit friedhofsblondem Pagenschnitt, die sie als ehemalige Schulsenatorin erkannte. Es ging um das Anwerben sogenannter Lesepaten durch den Senat, die die hauptamtlichen Lehrkräfte ehrenamtlich unterstützen sollten. Zu heterogen die Klassen bereits in der Grundschule, als dass ein Unterricht nach Lehrplan mit allen Kindern möglich wäre, so der einleitende Befund. Manche Kinder bräuchten mehr Zeit, Ruhe und Aufmerksamkeit, um die elementaren Fertigkeiten zu erlernen, zu üben und zu verinnerlichen; vorher sei an einen weiteren Wissenserwerb nicht zu denken. Dies sollten nun die neuen Lesepaten leisten, die parallel zum eigentlichen Stundenplan mit den ausgewählten Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen üben sollten.

Kerstin konnte die erforderlichen drei bis vier Stunden pro Woche an Zeit aufbringen, um diese pädagogische Aufgabe zu leisten. Sie bekundete ihr grundsätzliches Interesse an dieser ehrenamtlichen Arbeit und stimmte zu, dass die Schulverwaltung ein erweitertes Führungszeugnis für sie beantragte. Das „erweitert“ deutete darauf hin, dass sie mit besonders schutzbedürftigen Kindern und Jugendlichen arbeiten sollte; hier schaute die Polizei beim Ausstellen eines Führungszeugnisses besonders streng hin. Konkrete pädagogische Erfahrungen oder gar eine einschlägige Ausbildung seien nicht erforderlich, so hieß es während der Informationsveranstaltung, entscheidend seien Geduld, Aufmerksamkeit und natürlich Freude am Umgang mit Kindern. Kerstin konnte all das aufweisen und sah sich gut gerüstet für ihre bevorstehende Arbeit als Lesepatin. Als solche sollte sie nun ehrenamtlich das ausgleichen, was den hauptamtlichen Lehrkräften im Regelunterricht versagt blieb – ein bemerkenswertes Eingeständnis einer in Teilen gescheiterten Schulpolitik.

Die Kinder im Grundschulalter hatten für diese Zusammenhänge natürlich noch keine Begriffe. Kerstin stand mit der Klassenlehrerin vor einer Klasse von vielleicht dreißig Schülern, für ihr Gefühl zu viele für eine Lehrkraft. Die Kinder redeten laut durcheinander, liefen zwischen den Tischen und Stühlen umher und waren kaum zu bändigen. Schließlich stellte die Klassenlehrerin die neue Patin vor und nannte den Namen eines Schülers, der in der heutigen Stunde separat mit ihr Rechnen üben sollte. Kerstin war vorab über den Jungen informiert worden, ein Flüchtlingskind aus dem Kaukasus mit unklarer, aber sicherlich unvollständiger Schullaufbahn, mit ordentlichen Deutschkenntnissen, aber in Mathematik mindestens zwei Klassen hinter dem Stoff zurück. Außerdem war er bereits zwölf Jahre alt und damit runde zwei Jahre älter als seine Mitschüler. Kerstin stellte sich lächelnd vor und ging mit dem Jungen in einen leerstehenden Unterrichtsraum, wo ihr privates Kolloquium, wie sie es insgeheim nannte, beginnen konnte. Sein Name war Shakyar.

In ihrer eigenen Schulzeit gehörte Mathematik keineswegs zu ihren bevorzugten Fächern, ihre Leistungen waren seinerzeit durchwachsen, ihr Herz gehörte definitiv den sprachlichen Fächern. Allerdings konnte sie die Aufgabe, den Jungen in der schriftlichen Addition dreistelliger Zahlen zu unterweisen, locker bewältigen. Sie schrieb die Zahl 366 an die Tafel und darunter die Zahl 403, sodann forderte sie Shakyar auf, die Regeln der schriftlichen Addition zu erklären und im konkreten Fall anzuwenden. Kerstin legte das Kreidestück auf das Pult und sah dem Jungen erwartungsvoll ins Gesicht. Als er mit der Antwort zögerte, fragte sie nach, ob er die Grundrechenarten bereits durchgenommen und verstanden hätte. Shakyar blieb stumm und nuschelte dann etwas, was Kerstin nicht verstand. Gut, entgegnete sie, dann lösen wir die Aufgabe gemeinsam. Wir zählen die beiden Ziffern ganz rechts zusammen, was ergeben 3 und 6? Shakyar sagte, ohne lange zu überlegen, 9. Ja, genau, lobte Kerstin und schrieb die 9 unter den Strich unter den beiden Zahlen. Und weiter, fragte sie, wieviel sind 0 und 6? Shakyar lächelte und meinte, 6 natürlich. Eben, lächelte Kerstin und schrieb die Zahl an ihre Stelle. Bleiben noch 4 und 3, ermunterte sie den Jungen – 7, war seine selbstbewusste Antwort. Also ist die Summe der beiden Zahlen 769, schloss Kerstin für ihn.

Kerstin schrieb die nächste Aufgabe an die Tafel: 704 + 68 + 599, eine Stufe schwieriger. Beiläufig erwähnte sie, dass die Ziffern, mit denen sie gerade rechneten, ursprünglich aus dem Arabischen stammten. Shakyars Augen leuchteten, das ganze Gesicht wurde wach und er fragte, ob das auch stimme. Bei der Lösung der Rechenaufgabe an der Tafel tat er sich zwar schwer, fand aber mit Kerstins Hilfe die Lösung, die er auf Kerstins Bitte in sein Schulheft eintrug, während sie die Ziffern groß an die Tafel schrieb. Sie freute sich über seinen Erfolg, über seine Lernbereitschaft und seinen Fleiß, allerdings war ihr klar, dass er in der Mathematik weit hinter dem Stoff seiner Altersklasse zurücklag; längst sollte er Brüche addieren und multiplizieren können, von der Lösung von Textaufgaben nicht zu reden. Und da sollten ein paar Nachhilfestunden parallel zum eigentlichen Unterricht das Versäumte nachholen helfen?

Nach der kurzen Pause ging sie mit Cara, einem achtjährigen Mädchen, in die Bibliothek der Schule. Die Kleine konnte, so die Vorabinformation, grundsätzlich lesen und das Gelesene verstehen, allerdings fehlte es ihr an Übung, vor allem bei der Aussprache. Kerstin fragte Cara, ob sie denn ein Lieblingsbuch oder eine Lieblingsfigur hätte; auf das schüchterne Kopfschütteln fragte sie weiter, ob sie vielleicht etwas über Bienen und Honig lesen wollte. Zögerlich stimmte das Mädchen zu und schlug das bebilderte Buch auf, das Kerstin vor ihr auf das Pult gelegt hatte. Der Text war in Großdruck versehen, maximal drei bis vier Sätze pro Seite, dazu Illustrationen zum Geschriebenen. Kerstin las den ersten Satz langsam und deutlich vor und ermunterte Cara, ihn zu wiederholen. Das Mädchen schien die einzelnen Silben der Wörter zu erkennen, artikulierte sie aber nicht als eine Sinneinheit, sondern reihte sie monoton aneinander. Am Ende eines erkämpften Satzes sagte Kerstin, das sei doch schon sehr gut gewesen, ob sie es nun mit dem zweiten Satz des Textes versuchen wolle.

Immerhin saß das Mädchen ruhig auf seinem Stühlchen, Kerstin kauerte daneben. Caras Mund formte die Buchstaben korrekt, allerdings nicht immer die Betonung und den Rhythmus des kurzen Satzes in seiner elementaren Grammatik treffend. Es schien Kerstin, dass sie mit jedem neuen Wort das Lesen lernen würde. Schließlich ging die Lesepatin daran, selbst den Satz vorzulesen, auf dass Cara ihn wiederhole. Das Mädchen nickte unsicher, ließ sich aber auf den Vorschlag ein. Es war nicht die fehlende Kenntnis der Aussprache einzelner Buchstaben und Silben, die es ihm so schwer machte, die Übersetzungsleistung des Geschriebenen ins Gesprochene schien solch ein Hindernis zu sein. Als Kerstin die Kleine aufforderte, das gerade Gelesene in eigenen Worten zu wiederholen, las sie einfach den Satz erneut ab, monoton wie gehabt. Schließlich rundete Kerstin diese Stunde ab mit der Übung, einfach die Bilder im Text zu beschreiben, also Personen und Objekte, Farben und Formen zu benennen. Als der Gong ertönte, hatte Kerstin den Eindruck, Cara sei erleichtert über das Ende der Stunde.

Auf dem Nachhauseweg dachte Kerstin über die eigene Kindheit und Schulzeit nach. Zu Hause waren Zeitungen und Bücher zugänglich, ihre Mutter las ihr und der kleineren Schwester regelmäßig vor, aus Bilderbüchern, Schulheften, kindgerechten Geschichten und später aus der Bibel. Sie war ohne große Schwierigkeiten durch die Schulzeit gekommen, hatte früh Freude am Lernen entwickelt und wurde obendrein vom Vater, einem Lehrer, zu schulischer Disziplin angehalten. Was sie nun an der Grundschule erlebte, hatte mit ihren eigenen Erfahrungen nicht viel gemein. Sie hatte den unbestimmten Eindruck, dass unter den Kindern bereits zwischen sechs und zehn Jahren eine heimliche Selektion stattfand über ihre Chancen im späteren Leben. Wer bereits in der Grundschule gravierende Defizite im Stoff offenbarte, würde diese in den folgenden Jahren nur erweitern. Natürlich war es ehrenwert, als Lesepatin die Kleinen zu unterstützen und an ihren Schwächen zu arbeiten. Ob das allerdings die grundlegende Misere der Bildungsspaltung in frühen Jahren aufheben könnte?

Taufe

Doch Johannes gab ihnen allen zur Antwort: Ich taufe euch mit Wasser. Es kommt aber einer, der stärker ist als ich, und ich bin es nicht wert, ihm die Riemen der Sandalen zu lösen. Er wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. – Lk, 3,16

Die Weihnachtszeit ist vorbei, im sakralen wie im profanen Sinne. Auf den Bürgersteigen und den Radwegen liegen Tannenbäume im Weg, ohne Kugeln, Kerzen und Lametta bedauernswert nackt. In den Fenstern leuchten noch vereinzelt Herrnhuter Sterne tapfer gegen das Januargrau an, vor den Schulen frieren die Schülerinnen beim Rauchen und Vapen in ihren Parkas im Schlafsackdesign. In den Büros sitzen Sachbearbeiter und Referentinnen im fahlen Licht ihrer Monitore, letzte Lebkuchen auf Papptellern vor sich, die Geschichten von Heiligabend und Silvester mehrfach einander erzählt.

Im katholischen Verständnis endet die Weihnachtszeit mit dem Fest der Taufe des Herrn, das wiederum auf den Sonntag nach Epiphanie fällt. Im Weihnachtskreis stellt die Taufe Jesu im Jordan einen logischen Bruch der Erzählung dar, wird dort doch ein erwachsener, bereits lokal berühmter Mann inmitten einer Menge anderer Bewerber und Wartender getauft, nachdem in den Wochen zuvor an Weihnachten und auch an Epiphanie ein Säugling in der Krippe dargestellt und angebetet wird. Der Prophet Johannes der Täufer ist ob Jesu Ansinnen, sich von ihm taufen zu lassen, irritiert, tut dann aber das, was höhererseits von ihm erwartet wird. Gleichwohl ist der Täufer wach genug, den Christus zu erkennen und zu benennen; seinem Wunsche gehorcht er, um das Wort der Schrift zu erfüllen.

Das deutsche Wort der Taufe stammt aus dem Gotischen, wo es so viel wie tief bedeutet. Damit harmoniert das griechische baptizein, was ein- beziehungsweise untertauchen meint; der französische Vor- und Beiname Baptiste ist dementsprechend der Getaufte. Beim Reinigungsritual des Taufens quer durch die Religionen und die Zeiten werden die Körper mit Wasser besprengt oder gleich ganz eingetaucht; beim christlichen Brauch der Taufe wird dem Säugling, dem viel zu früh geborenen Menschen in seiner jahrelangen Hilflosigkeit, etwas Wasser auf den Kopf gegossen. Auch diese kurze Begegnung mit dem Lebenselement reicht meist aus, um das Kind schreien und weinen zu lassen, nicht wissend, was da mit ihm passiert. Die Taufe wird öffentlich vollzogen im Rahmen einer festlichen Feier, die Gemeinde, in die der Täufling integriert werden soll, bezeugt ihre Spendung.

Die Taufe im christlichen Sinn kann als ein Schwellenritual verstanden werden, mit dem der kleine Mensch in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen wird. Diese Initiation vollzieht sich ohne Verständnis und Einverständnis des Täuflings, der passives Objekt des Vollzugs bleibt. Dieses Geschehenlassenmüssen lässt sich auch bei anderen sozialen Gelegenheiten beobachten, die als Ritus eines Übergangs vollzogen werden – sei es die Reife des Mädchens zur Frau, das Prügeln des Rekruten zum Soldaten, die Weihe des Kandidaten zum Priester. Stets steht der oder die zu Taufende einer homogenen Gemeinschaft gegenüber, deren Teil er oder sie werden wird, eben durch den Vollzug einer Handlung, die es zu erdulden gilt, sei sie mitunter auch absurd, schmerzhaft oder entwürdigend. Im Wort der Feuertaufe schwingt das Verwegene einer bestandenen Mutprobe mit.

In der Taufe vollzieht sich stets die Aktualisierung einer Tradition. Lange vor dem Täufling wurden andere getauft, womöglich wird er selbst dereinst die eigenen Kinder taufen lassen, also deren Aufnahme in die Gemeinschaft befördern. Das integrierende Kollektiv wird dabei als identitätsfestigend und beschenkend für das Individuum betrachtet. Wird die Taufe im Kleinkindalter gespendet, ist damit in der Regel die Vergabe eines Namens verbunden, den der werdende Mensch sein Leben lang tragen wird. Auch diese Bezeichnung geschieht dem Kinde, den Namen suchen die Eltern aus, im Glauben, dass er dem Jungen oder dem Mädchen Führung und Halt im Leben sein werde. Diese Namensgabe vollzieht sich auch mutatis mutandis beim Eintritt in einen katholischen Orden. Mit der Aufnahme einher gehen das Ablegen des alten bürgerlichen Namens und das Annehmen eines neuen klerikalen Namens. Auch dieser wird dem beziehungsweise der Erwachsenen gegeben, die Entscheidung darüber trifft der Abt beziehungsweise die Äbtissin.

Zudem kennt die katholische Kirche auch die Taufe Erwachsener, gerade in den gottlosen östlichen Landesteilen kommt sie dann und wann vor. Diese nachholende selbstbestimmte Aufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen macht aus den Katechumen Christen mit gleichen Rechten und Pflichten wie jene, die als Kinder aufgenommen wurden. Die schiere Dauer der Mitgliedschaft in der Gemeinschaft ist also kein qualitatives Kriterium. Die Taufe zählt zu jenen Sakramenten, die nur einmal im Leben gespendet werden. Zwar ist es denkbar, später im Erwachsenenalter der Kirche den Rücken zu kehren und zivilrechtlich auszutreten, ein Enttaufen allerdings ist nicht möglich. Die Taufe ist so unwiederholbar wie unauslöschlich, das lässt sich als Schicksal wie als Gnade begreifen.

Goat

Die Frage, wer der größte Schachspieler (seltener die größte Schachspielerin) aller Zeiten sei, gehört zum beliebten Zeitvertreib unter Kiebitzen und Patzern. Die Suche nach dem Goat („greatest of all times“) treibt in jeder Sportart ihre Blüten, auch wenn die Kriterien zum Bestimmen der Spielstärke über die verschiedenen Epochen hinweg nicht immer klar definiert sind. Dessen ungeachtet hat der 1924 gegründete Weltschachverband FIDE auf seinem Kongress parallel zur Olympiade im September 2024 den langjährigen Weltmeister Magnus Carlsen zum besten Spieler der vergangenen 100 Jahre gekürt – eine Ehrung, die der Norweger dankbar annahm, nicht ohne zu betonen, dass in seinen Augen Garri Kasparow diese Auszeichnung eher verdient hätte.

Magnus Carlsen als Goat zu bezeichnen, ist durchaus nachvollziehbar. Er steht seit Juli 2011 unangefochten an der Spitze der Weltrangliste, er hat zudem mit 2881 Elopunkten den höchsten jemals gemessenen Wert erzielt. Den Titel des Schachweltmeisters hatte er von 2013 bis 2023 inne, bevor er ihn aus freien Stücken niederlegte, weil er keine Motivation mehr verspürte, sich monatelang auf ein WM-Match vorzubereiten. Zudem hat er alle wichtigen Turniere im Jahreszyklus mehrfach gewonnen, lediglich der Titel eines Olympiasiegers wird ihm vorenthalten bleiben, weil sein Heimatland als Team nicht konkurrenzfähig ist. Der Norweger, der mittlerweile die Lust an Turnieren im klassischen Format verloren hat, ist überdies mehrfacher Weltmeister im Schach mit verkürzter Bedenkzeit.

So trat er Ende Dezember in New York bei den Schnellschach- und Blitzweltmeisterschaften als Favorit an, provozierte dort aber gleich zweifach einen Eklat. Im Schnellschach saß er bei einer Partie in Jeans im Brett, was gegen die vorab kommunizierte Kleiderordnung für FIDE-Turniere verstieß. Carlsen wurde zunächst vom Schiedsrichter mit einer Strafe von 200 USD belegt und ermahnt, sich für die nächste Runde angemessen umzuziehen. Als er sich weigerte, wurde er für diese Runde keinem Gegner zugewiesen und strich einen Verlustpunkt ein. Daraufhin ließ er über Social Media wissen, dass er das Turnier abbrechen und stante pede an einen Ort mit besserem Wetter reisen werde. Nachdem er im Folgenden von der FIDE bekniet wurde, doch bitte an der Blitz-WM teilzunehmen, ließ er sich dazu herbei – und trug in allen Partien Jeans jenes Herstellers, der ihn vor über zehn Jahren als Testimonial eingesetzt hatte.

Im Finale, das er nach überzeugenden Leistungen erreicht hatte, spielte er dann gegen seinen alten Rivalen Ian Nepomniachtchi aus Russland. Nach den vier angesetzten Partien stand es unentschieden, sodass nach dem Reglement eine Verlängerung bis zum Sieg erforderlich wurde. Nachdem die beiden Spieler dreimal en suite remisierten, schlug Carlsen seinem Opponenten vor laufender Kamera vor, doch die Auseinandersetzung kurzerhand zu beenden und sich den Titel zu teilen. Der verblüffte Schiedsrichter diskutierte mit den beiden Spielern und akzeptierte schließlich deren Arrangement. Carlsen meinte anschließend lapidar, beide seien müde und die gefundene Lösung sei für sie angenehm, auch wenn es nicht allen gefalle. Einmal mehr führte Carlsen damit aus, dass Regeln etwas für Verlierer seien, nicht aber für Majestäten.

Magnus Carlsen ist nicht der erste Champion der Schachgeschichte, der mit bizarrem Verhalten am und neben dem Brett von sich reden macht. Unvergessen sind Bobby Fischers beleidigende Eskapaden gegen Kollegen, Sponsoren, Journalisten und Ausrichter, auch Garri Kasparow brüskierte mehrfach Offizielle und Veranstalter. In jüngster Zeit tat sich Wladimir Kramnik mit obskuren Bezichtigungen Anderer wegen angeblichen Online-Betrugs hervor, ohne hierfür Belege vorzuweisen. Und Anatoli Karpow sitzt seit über zehn Jahren als Abgeordneter der Partei Einiges Russland in der Duma und steht nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine auf der Sanktionsliste der EU.

Die zitierten Verhaltensweisen schmälern keineswegs die Leistungen der Genannten am Schachbrett, allerdings tauchen sie ihren Charakter in ein schales Licht. Die Frage nach dem Goat ist kaum objektiv zu beantworten, zu unterschiedlich sind die Bedingungen des Schachs in verschiedenen Jahrzehnten. So war Emanuel Lasker nur deswegen 27 Jahre Schachweltmeister, weil er sich zehn Jahre lang vollends vom Turnierschach zurückzog und außerdem nur Herausforderer akzeptierte, die sportlich klar schwächer als er waren. Mikhail Botwinnik erstritt sich 1948 von der FIDE das Recht auf mehrfache Revanche-Matches, die ihn länger auf dem Thron verweilen ließen, als es seiner nachlassenden Spielstärke angemessen gewesen wäre. Und Mikhail Tal wäre deutlich länger als ein kurzes Jahr Weltmeister geblieben, hätte er Anfang der 1960er Jahre eine angemessene medizinische Behandlung für sein Nierenleiden erhalten, dessen starke Schmerzen er mit Alkohol, Nikotin und Morphium zu betäuben versuchte, auf Kosten seiner Konzentrationsfähigkeit.

Magnus Carlsens Beitrag zum modernen Schach ist unbestritten, seine Endspielkunst kann nicht überschätzt werden, zumal er seine Karriere erst nach Abschaffung der Hängepartien Ende der 1990er Jahre begann, sodass er die besten Züge im abschließenden Partiestadium am Brett finden musste und nicht in einer nächtlichen Analyse mit Hilfe seiner Sekundanten. Heute wirkt der Vierunddreißigjährige wie ein Teilzeitprivatier, der aus einer Laune heraus Vorstellungen gibt. Sein Auftreten am Brett offenbart eine gewisse soziale Unreife, wie sie häufig bei Inselbegabungen festzustellen ist. Von Schachspielerinnen ist ein solch exaltierter Habitus nicht überliefert: Judit Polgar, die einzige Spielerin, die jemals unter den ersten Zehn der Weltrangliste stand, wurde von der FIDE in Budapest ebenfalls als Goat ausgezeichnet, ohne jemals als Zicke aufgefallen zu sein.

Leere

Wie klingt das Klatschen mit einer Hand? – Koan im Zen-Buddhismus

Nach dem Aufenthalt über Weihnachten und den Jahreswechsel im Kloster fällt es Kerstin nicht leicht, wieder Tritt im Alltag zu fassen. Durch die vielen Feiertage ist ihr unbewusstes Wissen über den jeweiligen Wochentag etwas ins Rutschen geraten, durch die weitgehende Abstinenz an Zeitungen, Messengerdiensten und Social Media ist sie nicht à jour über das politische und gesellschaftliche Geschehen im Lande. In der sanften Natur der Baumberge schweift der Blick ungehemmt über die Felder, ohne von hässlichen Funktionsbauten beleidigt zu werden. Den akustischen Hintergrund dieses Settings bilden der Wind, der Regen, gelegentliches Vogelgeschrei und das Glockengeläut der Abteikirche.

Das Zimmer im Gästehaus neben der Abtei ist einfach, klein und praktisch, wie es von einer Klause erwartet werden darf: Telefon, Kühlschrank und Fernseher fehlen, dafür wurde nachträglich eine Nasszelle mit Dusche eingebaut. Anders als in den modernen Hotels, in denen die Klimaanlage das ganze Jahr über brummt, lässt sich das Fenster weit öffnen. Zum Entsperren der Tür kommt ein richtiger Schlüssel zum Einsatz und keine Chipkarte, die gleichzeitig die lokale Stromversorgung aktiviert; in der Lampe auf dem Nachttisch steckt noch eine längst von der EU verbotene Glühbirne. Über dem Bett hängt ein schlichtes Kreuz, im kleinen Regal über dem Schreibtisch stehen die Bibel und die Regel des heiligen Benedikt. Einzige Konzession an die Moderne ist seit einem Jahr ein überraschend stabiles WLAN, das Kerstin bei ihren vorigen Besuchen nicht vermisst hat. Das tragbare Telefon hat aber nur zufällig Empfang.

In seinem berühmten, noch heute regelmäßig zitierten Aufsatz von 1903 über „Die Großstädte und das Geistesleben“ vertritt der Soziologe Georg Simmel die These, das vorherrschende Gefühl in der Seele des Großstädters sei die Blasiertheit. Damit ist eine eingeübte Haltung der Reizfilterung gemeint, die angesichts der Dichte, des Tempos, der Anonymität und der Hektik der Großstadt unabdingbar sei, um von den zahllosen Eindrücken auf engem Raum nicht übermannt zu werden. Der Mensch, der in der Großstadt lebt, reagiert auf Neues mit einer Haltung des „Das kenne ich schon, das überrascht mich nicht“. Dieses defensive Abwinken gegenüber den Verlockungen und Bedrohungen des städtischen Lebens mit seinen Theatern, Restaurants, Geschäften, Moden, Palästen und Wohnwaben sowie Menschen aus allen Ecken der Welt und einem aggressiven Verkehr imprägniert nach Simmel Geist, Körper und Seele, um an ihnen nicht Schaden zu nehmen.

Hiervon ist in den Baumbergen nichts zu spüren. Hier liegt kein Dauerdröhnen des motorisierten Verkehrs in der Luft, ab und an ist das Kommen und Wegfahren eines einzelnen Autos zu vernehmen, miteinander redende Menschen sind noch in sechzig Metern Entfernung zu verstehen. Während in der Metropole die Lichtverschmutzung das steinerne Meer der Häuser ununterbrochen grell erblendet, lassen sich auf dem Land des Nachts die Sterne erkennen und zu verschiedenen Konstellationen zusammenfügen, sofern die trübe Wolkendecke mal für länger aufreißt. Die Luft ist klar und zugleich landwirtschaftlich würzig, sie ist kein Gemisch aus Diesel, Frittenfett, Briketts und lautem Parfum. Als Kerstin beim Spaziergang über die Felder ein unbekanntes Paar entgegenkommt, wundert sie sich über dessen offenen Gruß – ist es schon weit gediehen mit ihrer sozialen Deformiertheit, dass die unvermuteten Worte der Freundlichkeit sie irritieren?

Auf einer kleinen Anhöhe mit Blick auf das tiefer gelegene Dorf bleibt sie stehen und schaut ohne Wollen ins fahle Graugrün des ausklingenden Dezembers. Mit ihren Händen formt sie einen imaginären Rahmen, durch den sie das Dorf, den mächtigen Dom, die umliegenden Gehöfte, die Haine und die weidenden Kühe betrachtet. Unwillkürlich fühlt sie sich in ein niederländisches Landschaftsgemälde aus dem goldenen 17. Jahrhundert versetzt – hier wie da fehlen Fabrikschlote, asphaltierte Straßen, Hochspannungsleitungen und Windräder. Fast wundert sie sich, dass aus dem Bauernhaus keine Magd hinaustritt, wie sie auf den Gemälden Jan Vermeers so oft in emsiger und dabei wortloser Geschäftigkeit zu sehen ist. Dafür erinnern die Giebel der Fachwerkhäuser an die nahen Niederlande. Schweigen ist der Verzicht des Menschen auf den Hinweis seiner Anwesenheit, Stille meint seine Abwesenheit.

Im Speisesaal des Gästehauses wird Kerstin herzlich umarmt von Frauen, die sie von vorherigen Besuchen kennt und die wie sie die emotional belastenden Festtage in ausgewählter Gemeinschaft verbringen möchten. Beim Essen fühlt es sich so an, als sei die Erde nicht einmal rund ums Jahr gelaufen, als sei die letzte gemeinsame Mahlzeit erst am Vormittag gewesen. Viele Gäste kennt Kerstin vom Sehen, manche durch direkte Gespräche; auch die bislang unbekannten Gesichter sind ihr nach wenigen Mahlzeiten beinahe vertraut. Ein wenig kommt sich Kerstin vor wie auf dem Zauberberg in den Bündner Alpen, wo der Tag durch die fünf übergewaltigen Mahlzeiten strukturiert wird, zu denen die Tuberkulosepatienten zusammenkommen und zunächst gepflegte Konversation machen, alsbald in Tratsch abgleiten und es auch an maskierter Minne und Werbung nicht fehlen lassen. Hier ist das Essen an einem Buffet arrangiert, das keine Wünsche offen lässt; lediglich ihren feinen japanischen Grüntee vermisst sie, Teebeutel sind dafür nur ein halber Ersatz.

Während die Gäste auf dem Berghof bei Davos die meiste Zeit in den Liegekuren auf den Balkonlogen verbringen, ist das bestimmende Ereignis im Kloster das Gebet in der Abteikirche. Die Mönche kommen fünfmal am Tag zu festen Zeit zum gregorianischen Gesang zusammen, für dessen Pflege und Vervollkommnung die Benediktiner weithin berühmt sind. Die Vesper, das Abendlob, ist für Kerstin der Höhepunkt eines Tages. Die Mönche psalmodieren auf Latein, sie werden von der Orgel begleitet, die ihre Stimmen stützt und unter das Dach der Kirche hebt. Kerstin schließt die Augen und folgt dem meditativen Gesang der Mönche, ihre Sinne erholen sich peu à peu und nehmen auf, ohne gleich ein Urteil folgen zu lassen. Als die Mönche nach dem abschließenden Pater Noster in einer Prozession den Chor verlassen und zurück in ihre Klausur gehen, denkt Kerstin, dass jeder Opernregisseur den Aufbau einer katholischen Messe studieren sollte. Die traditionelle Liturgie weiß genau, wie sich mit Licht, Gesang, Instrumentalbegleitung, festlichen Gewändern, Gesten, Schrittfolgen, Pausen, sakralen Symbolen und Farben ein optimales Raumgefühl erzeugen lässt. Die Dramaturgie schließt das mitfeiernde Publikum ausdrücklich in die Gemeinschaft des Glaubens ein.

Den kurzen Rückweg von der Kirche zum Gästehaus geht sie an der Seite einer älteren Tischnachbarin, die sich unsicher fühlt, den Weg im Dunkeln allein zu gehen. Vor dem Speisesaal kreuzen sie den Weg einiger Gäste, die sich zu einem mehrtägigen Zen-Kurs in völligem Schweigen, angeleitet von einem Benediktiner, zusammengefunden haben. Als Kerstin erstmals einer Frau aus dieser Gruppe im grandiosen geschwungenen Treppenhaus begegnet, wundert sie sich, dass diese ihren Gruß nicht erwidert; später versteht sie, dass hinter diesem Verhalten keine Unhöflichkeit steht, sondern schlicht das vereinbarte Schweigen für die Dauer des Aufenthaltes. Die Zen-Kontemplation und das gesungene Gebet der Benediktiner passen für Kerstin exzellent zusammen: Beide sind gekennzeichnet von der Ausrichtung auf ein Ziel, von der Ernsthaftigkeit des Übens, von der steten Wiederholung der Praktiken. Beide lassen nach Möglichkeit alle Störfaktoren beiseite und wollen sich im Schauen und Staunen dem Unbegreiflichen öffnen.

Nach einigen Tagen stellt sich bei Kerstin ein angenehmes Gefühl der Leere ein. Die heilsame Wirkung des Aufenthaltes zeigt sich für sie in der Abwesenheit des Grübelns, im Verschwinden der Fragen, im Abschwächen des Verhaftetseins in der Vergangenheit, auch im verbesserten Schlaf. Sie ist angekommen im Moment, den sie verstreichen lässt, im Vertrauen, dass der kommende ebenso wohltuend sein wird. Die Zeit ist nichts, was mit möglichst Vielem gefüllt werden müsste, um sie nach der Logik der Ökonomie effektiv zu nutzen – sie ist ein Geschenk, sie geschieht und vollzieht sich, dabei kaum merkliche Spuren an den Körpern der Menschen wie an den Steinen der Abtei hinterlassend. Dieses Gefühl ist an einen Ort gebunden, der das Heilige zulässt. Niemand legt im Speisesaal ihr Telefon auf den Tisch, hantiert auf Telegram herum und fotografiert das Müsli. Billigung und Absichtslosigkeit greifen um sich, schichten sich solide auf, auch wenn sie flüchtig sein mögen. Im Zen wird dieser Zustand Satori genannt, die katholische Entsprechung heißt für Kerstin Gottvertrauen.