Toronto

In der Woche nach Ostern wird Toronto zum Mittelpunkt der Schachwelt. In der kanadischen Metropole am Lake Ontario findet das nächste Kandidatenturnier der FIDE zur Ermittlung des Herausforderers des Weltmeisters statt. Dabei handelt es sich um eine Premiere im Kosmos der 64 Felder: Im sogenannten Open streiten acht Kandidaten darum, den amtierenden Titelträger Ding Liren aus China in einem Match um die Krone herauszufordern. In der parallel abgehaltenen Women’s Section spielen acht Kandidatinnen um das Recht, die aktuelle Championesse Ju Wenjun, auch aus China, am Brett zu stellen, ebenfalls doppelrundig über 14 Partien.

Für das Open sind, in der Reihenfolge ihrer Elozahl vom März 2024, Fabiano Caruana (USA, 2804), Hikaru Nakamura (USA, 2789), Alireza Firouzja (Frankreich, 2760), Ian Nepomniachtchi (Russland, 2758), Dommaraju Gukesh (Indien, 2747), Rameshbabu Praggnanandhaa (Indien, 2747), Santosh Gujrathi Vidit (Indien, 2747) und Nijat Abasov (Aserbaidschan, 2632) qualifiziert. Dieses Feld ist so ausgeglichen besetzt, dass es schwerfällt, genau einen Favoriten auf den Sieg zu benennen. Fabiano Caruana und Ian Nepomniachtchi haben bereits ein Kandidatenturnier gewonnen und den darauf folgenden WM-Kampf verloren; sie verfügen über Routine, Können und Stabilität, um ein solch anstrengendes Turnier erneut zu gewinnen. Hikaru Nakamura ist zu sehr zum Schach-Entertainer auf YouTube und Twitch geworden, als dass er weiterhin ein seriöser Wettbewerber wäre. Bei Alireza Firouzja ist es ungewiss, wie entschlossen er noch am Brett agiert; sein zwischenzeitlich begonnenes Studium des Modedesigns in Paris legt es nahe, dass er noch andere berufliche Interessen verfolgt.

Dommaraju Gukesh und Rameshbabu Praggnanandhaa stehen im doppelten Sinne für die Zukunft. Zum einen sind die beiden Großmeister selbst für heutige Verhältnisse mit 17 und 18 Jahren sehr jung, wohl zu jung, um ein solch hartes Turnier wie das bevorstehende zu gewinnen; zum anderen stehen sie für den Vormarsch Indiens als Schachgroßmacht. Nachdem Visvanathan Anand an in den 1990er Jahren als erster Großmeister aus dem Geburtsland des Schachs die Weltspitze stürmte, setzte in Indien ein großer Schachboom mit zahlreichen Trainingsschulen schon für Kinder ein, deren Früchte nun geerntet werden. Santosh Gujrathi Vidit und Nijat Abasov dürften höchstwahrscheinlich nur als Mitspieler dieses Turniers in Erinnerung bleiben; letzterer ist ohnehin lediglich als Nachrücker dabei, nachdem der Sieger des World Cups des letzten Jahres, der Exweltmeister Magnus Carlsen erklärte, seinen Platz in Toronto nicht annehmen zu wollen.

Im Frauenturnier sind, ebenfalls in der Reihenfolge ihrer Wertung des laufenden Monats, Aleksandra Goryachkina (FIDE, 2553), Lei Tingjie (China, 2550), Humpy Koneru (Indien, 2546), Kateryna Lagno (Russland, 2542), Tan Zhongyi (China, 2521), Anna Muzychuk (Ukraine, 2520), Vaishali Rameshbabu (Indien, 2481) und Nurgyul Salimova (Bulgarien, 2426) dabei. Analog zu den Männern ist auch hier mit einem offenen und aufregenden Turnierverlauf zu rechnen, eine eindeutige Anwärterin auf den Gewinn drängt sich nicht zwingend auf. Aleksandra Goryachkina, Lei Tingjie und Tan Zhongyi haben jeweils bereits ein Match um die Weltmeisterschaft gespielt und weisen entsprechende Erfahrung, Klasse und Willensstärke auf. Aleksandra Goryachkina holte im letzten Herbst bei der russischen Meisterschaft der Männer 50 Prozent der möglichen Punkte, eine exzellente Ausbeute angesichts des hochkarätigen Teilnehmerfeldes. Sollte sie diese Form aktualisieren, könnte sie in Kanada am Ende ganz vorn landen.

Anna Muzychuk war bereits Weltmeisterin im Schnellschach und im Blitz, gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Mariya gehört sie seit über zehn Jahren zur Weltspitze. Gleiches gilt für Humpy Koneru, die nach einer Familienpause wieder nach oben gekommen ist. Auch Kateryna Lagno kann wiederholte Erfolgen bei internationalen Turnieren und Olympiaden vorweisen; die im ukrainischen Lwiw geborene naturalisierte Russin erreichte 2018 das Finale der WM, das sie knapp verlor. Schwerer einzuschätzen sind hingegen die Chancen von Vaishali Rameshbabu (die Schwester von Praggnanandhaa aus der Open Section) und Nurgyul Salimova; jung wie sie sind, können sie unbeschwert aufspielen, vielleicht gelingt ihnen eine Überraschung. Der Spielplan Jede gegen Jede bringt es unvermeidlich mit sich, dass die Ukrainerin Anna Muzychuk auf die Russin Kateryna Lagno trifft; vermutlich werden sich die beiden vornehmlich als Sportlerinnen begegnen und Politik und Krieg beiseite lassen.

Dass es in Toronto zu zwei parallelen Turnieren mit dem höchsten Einsatz der Qualifikation für das WM-Finale kommt, ist sicher als Aufwertung des Frauenschachs zu verstehen, die sich der Weltschachverband FIDE im einhundertsten Jahr seines Bestehens auf die Fahnen geschrieben hat. Männer und Frauen spielen zwar zur selben Zeit in der Großen Halle in Toronto, erfahren aber in wesentlichen Punkten eine unterschiedliche Behandlung. Von den insgesamt garantierten € 750.000,- Preisgeld gehen € 500.000,- an die Männer, den Frauen verbleiben noch € 250.000,-. Weiter auffällig sind die unterschiedlichen Zeitressourcen: Den Männern stehen für die ersten 40 Züge 120 Minuten zur Verfügung, die Frauen müssen für die gleiche Distanz mit 90 Minuten auskommen. Dabei spielen alle klassisches Schach, nach den gleichen Regeln, aus der Grundstellung mit 16 weißen und 16 schwarzen Steine heraus.

Wie bei den Männern zeigt auch die Besetzung des Frauenturniers, dass die Jahrzehnte währende Dominanz (Sowjet-)Russlands im Schach Geschichte ist; die bestimmenden Schachnationen sind hier wie da mittlerweile China und Indien. Und dass mit Toronto erstmals eine Stadt auf dem nordamerikanischen Kontinent Schauplatz gleich zweier Kandidat(inne)enturniere wird, verdankt sie dem Hauptsponsor Mark Scheinberg. Der israelisch-kanadische Unternehmer, der mit einer Plattform für Online-Poker zu großem Reichtum gekommen ist, hat ein Haus im Stadtteil Richmond Hill, er lebt wohl aus steuerlichen Gründen auf der Isle of Man, dem Austragungsort eines renommierten Turniers nach Schweizer System. Die FIDE hat mit der Familie Scheinberg einen Vertrag bis 2026 über die Ausrichtung und Finanzierung eines großen Schachturniers pro Jahr geschlossen.

Am 4. April beginnen die Turniere mit der ersten Partie; sollte es nach 14 Runden einen Gleichstand an der Spitze geben, wird es ein Stechen im Schnellschach um den alleinigen Triumph geben. Rundenbeginn ist jeweils 14:30 Uhr lokaler Zeit, das entspricht 00:00 Uhr in Mumbai, 04:30 Uhr in Schanghai und 19:30 Uhr in Hamburg. Die Partien werden auf den einschlägigen Schachseiten übertragen und von ausgewiesenen Großmeistern kommentiert, die Schachfans weltweit dürfen sich auf einen spannenden und unterhaltsamen April freuen. Diese Freude wird auch nicht getrübt durch den Umstand, dass die jeweilige Nummer Eins der Weltrangliste an der Weltmeisterschaft gar nicht mehr teilnimmt: Der Norweger Magnus Carlsen hat schlicht keine Lust mehr auf die kräftezehrende Vorbereitung auf ein Titelmatch, er hat seinen WM-Titels im Frühjahr 2023 nicht verteidigt und firmiert nun als Champion a. D., als der er weiter Turniere spielt und meist gewinnt. Die Chinesin Hou Yifan, die in ihrer aktiven Zeit vermehrt an Männerturnieren teilnahm, hat sich bereits vor Jahren vom professionellen Schach zurückgezogen und lehrt nun als Professorin am Institut für Sporterziehung an der Universität Shenzhen.

Untergrund

Die Bundesrepublik wurde vor einer Woche von ihrer Vergangenheit eingeholt, in Gestalt einer Untoten. Mit der Verhaftung Daniela Klettes Ende Februar in einer Wohnung in Berlin-Kreuzberg wurde der vergessene Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) auf Wiedervorlage gesetzt. Anfang der 1990er Jahre soll Klette in den Untergrund gegangen sein, der Polizei fehlte seitdem jede Spur zu ihrem Aufenthalt und ihrem Milieu. Dass die Gesuchte seit gut zwanzig Jahren in Kreuzberg ein unbehelligtes Leben zwischen Nachhilfe für Nachbarskinder, Fahrradtouren und Tanzstunden im Capoeira-Verein führte, sorgt allseits für Augenreiben und Unverständnis. Die jäh hergestellte Öffentlichkeit wird dazu führen, dass ihre beiden Komplizen, die ebenfalls in Berlin vermutet werden, bald gefasst werden dürften.

Daniela Klette wurde 1958 in Karlsruhe geboren. Die Ermittler gehen derzeit davon aus, dass sie sich 1989 der Roten Armee Fraktion (RAF) anschloss; sie wird gemeinhin zur dritten Generation der Terrorgruppe gerechnet. Klette wird beschuldigt, von den 1990er bis in die 2010er Jahre an mehreren Überfällen auf Banken, Geldtransporter und Supermärkte mitgewirkt zu haben. Vermutlich sollte das dabei erbeutete Geld nicht zur Vorbereitung und Durchführung weiterer Attentate verwendet werden, sondern zur Finanzierung des Lebens im Untergrund. Ob Klette an der Tötung des Sprechers des Vorstands der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, 1989 und des Vorsitzenden der Treuhand-Anstalt, Detlev Karsten Rohwedder, 1991 beteiligt war, ist bis heute offen. 1993 kam ein RAF-Kader bei einem SEK-Einsatz in Bad Kleinen ums Leben, eine andere Führungsfigur der Gruppe wurde dabei verhaftet. 1998 löste sich die RAF mit einem öffentlichen Schreiben auf, zu ihrem unrühmlichen Erbe zählen 35 zum Teil bis heute nicht aufgeklärte Morde, die Rasterfahndung und die linke „tageszeitung“.

Die RAF ging aus der studentisch bewegten großstädtischen Linken hervor, als ihre Geburtsstunde gilt die Befreiung des inhaftierten Kaufhausbrandstifters Andreas Baader 1970 während eines begleiteten Freigangs. Die Terrorgruppe, in Lagern der PLO in Jordanien an Schusswaffen ausgebildet, suchte die gewaltsame Konfrontation mit dem Staat, den sie als nationalistisch-kapitalistisch, gar faschistisch bezeichnete, mit dem Ziel seiner revolutionären Überwindung. Seinen Höhepunkt erreichte der Schrecken im Jahr 1977, als der Generalbundesanwalt, der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank und der Chef der Vereinigung der Arbeitgeberverbände ermordet wurden. Im kolportierten Slogan dieses Jahres „Buback, Ponto, Schleyer – der Nächste ist ein Bayer“ mischten sich Bewunderung für die Täter und Freude über deren Morde. Eine Handvoll Terroristen, in dezentralen Kommandos operierend, forderte die Staatsmacht heraus, ohne jemals Wohlwollen für ihre Blutspur in der Bevölkerung über die genuin linksextreme Szene hinaus zu erreichen.

Gegenstand der Ermittlungen bleibt, ob Daniela Klette, die mit ihren zwei langjährigen Komplizen Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg über Fahndungsplakate des Bundeskriminalamtes (BKA) gesucht wurde, während ihrer Zeit im Untergrund aktive Unterstützung durch Sympathisanten erfahren hat. Dem Vernehmen nach hat sie einen gefälschten Pass mit einem italienischen Namen benutzt und in einer Wohnung gelebt, deren Hauptmieterin sie nicht war. Klette wählte im Untergrund offenbar demonstrative Sichtbarkeit als Tarnung. Sie erteilte Mathematik-Nachhilfe, führte ihren Hund spazieren und engagierte sich in einem Capoeira-Verein, mit dem sie auch am Karneval der Kulturen teilnahm. Dass sie dabei fotografiert wurde, schien sie nicht zu stören; offenbar glaubte sie an die Überzeugungskraft ihrer Legende. Diese hinderte sie aber nicht daran, in ihrer Wohnung Waffen und Munition aufzubewahren, wohl für weitere Überfälle zur Sicherstellung ihrer Terrorrente.

Während ein professionelles Team von Fahndern drei Jahrzehnte vergeblich nach Klette und ihren Genossen suchte, ging es am Ende mit Hilfe moderner Technik ganz schnell. Die Behörden setzten für ihre Fahndungsaufrufe eine Software ein, die Gesichter künstlich altern lassen kann, um zu illustrieren, wie die Gesuchten mittlerweile aussehen könnten. Dabei gibt es bereits frei zugängliche Bilderkennungsprogramme auf der Basis Künstlicher Intelligenz, mit denen Personen im gewaltigen Archiv des Internets aufgespürt werden können. Genau das hat eine kleine Redaktion getan, die im Herbst 2023 einen verqueren Hinweis auf die Untergetauchte bekam. Die Journalisten gaben ein digitalisiertes Foto Klettes aus den späten 1980er Jahren in die Suchmaschine ein und bekamen Bilder einer älteren Frau geliefert, die Anfang des 21. Jahrhunderts mit anderen Frauen zusammen auf den Straßen der Hauptstadt tanzte und diese Bilder auch noch selbst auf Facebook hochlud; die Ähnlichkeit zur Gesuchten über weiße Haare und Augenfältchen war frappierend. Warum private Rechercheure diese Software nutzen, die Polizei mit ihrem Apparat aber nicht, wird in der laufenden Diskussion thematisiert werden müssen.

Daniela Klette mag ein beschauliches postterroristisches Leben im alternativen Kreuzberg geführt haben, ohne weiter straffällig geworden zu sein – für die ihr zur Last gelegten Taten wird sie sich vor Gericht verantworten müssen. Ihre Verhaftung gibt der Bundesrepublik Deutschland die Gelegenheit, diesen Teil ihrer Vergangenheit endgültig vergehen zu lassen. Heutige Linksextreme zielen nicht mehr mit der Kalaschnikow auf hohe Wirtschaftsführer und werfen keine Handgranaten auf leitende Beamte, stattdessen hacken sie die Webseiten global tätiger Konzerne, verbreiten gefälschte Informationen in sozialen Netzwerken, hetzen gegen Israel und prügeln rechte Politiker sowie Aktivisten ins Koma. Allemal eine Diskursstörung, eingebettet in einen studentischen Lebensstil. Sollten sich diese Prototerroristen dereinst in den Ruhestand verabschieden, werden sie kaum auf den Raub von Bargeld setzen können. Vielmehr werden sie vorher in Bitcoin investieren.

Bodentruppen

Vor fast auf den Tag genau zwei Jahren marschierten russische Truppen in die Ukraine ein. Offizielles Ziel dieser „militärischen Spezialoperation“ war die „Entnazifizierung“ des 1991 selbstständig gewordenen Landes, wie die Russische Föderation hervorgegangen aus der Konkursmasse des sowjetischen Sozialismus. Wider alle Erwartungen musste Kiew nicht schon nach einer Woche kapitulieren, der Kampf um das Land, die Freiheit und die Unabhängigkeit geht jetzt ins dritte Jahr. Dass die Ukraine überhaupt so lange durchhalten konnte, liegt in erster Linie an den Finanzhilfen und Waffenlieferungen europäischer Staaten und vor allem der USA. Auf einer Konferenz in Paris sprach der französische Staatspräsident unlängst die Drohung Richtung Russland aus, „westliche“ Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden.

Diesen absurden Vorschlag des Populisten im Elysée fand lediglich sein ukrainischer Kollege gut, alle westlichen Staats- und Regierungschefs wandten sich unisono dagegen. Aus gutem Grund, müsste Russland doch die Anwesenheit ausländischer Truppen in der Ukraine, in welcher Mission auch immer, als Aufforderung verstehen, sein komplettes Waffenarsenal gegen Europa einzusetzen, auch das atomare, gegebenenfalls um den Preis des eigenen Untergangs. Der Wiedergänger Bonapartes wiederholte die ad nauseam verwendete Formel, „man werde alles Notwendige tun“, damit Russland diesen Krieg verliere und die Ukraine in gewinne. Nach Auffassung des Illusionisten aus Amiens gehören dazu eben auch alliierte Bodentruppen – nach und neben den Panzern, Haubitzen, Drohnen, Generatoren und zig Millionen Schuss Munition, die seit zwei Jahren permanent an den Dnjepr geliefert werden. Von diplomatischen Bemühungen zu Verhandlungen über einen Frieden, notfalls auch unter Abtretung an der Küste gelegener Gebiete, sprach er nicht.

Ausgerechnet die Atommacht Frankreich mit ihrer kolonialen Vergangenheit, die bisher lauthals Hilfen angekündigt, aber kaum geleistet hat, lehnt sich gegen jeden Konsens aus dem Fenster mit ihrer halsbrecherischen Volte. Das kleine Estland, das über eine Grenze zu Russland und eine starke russischsprachige Minderheit verfügt, hat, bezogen auf das jeweilige Bruttoinlandsprodukt, etwa dreißigmal so viel an Rüstungsgütern an die Ukraine geliefert wie Frankreich. Vermutlich gehen dem französischen Präsidenten im wöchentlichen Schaulaufen der großen Strategen die Pferde durch; er, der sich weiß Gott mit einer Aura der Eitelkeit umgibt, will sich besonders hervortun im internationalen Konzert der Politik, auch wenn es nur lärmend und knallig ist. Er sollte lieber nachsehen, wozu die internationalen militärischen Einsätze im Irak, in Afghanistan und in Mali, jeweils mit einem UN-Mandat abgesichert, geführt haben. Zu einer stabilen Befriedung der Region jedenfalls nicht.

Seit Februar 2022 werden die führenden Repräsentanten der NATO und der EU nicht müde zu betonen, dass sie eine Kriegsbeteiligung vermeiden wollen. Zynisch gesagt, besteht diese Gefahr überhaupt nicht, weil nach der Diktion des russischen Präsidenten gar kein „Krieg“ in der Ukraine erklärt wurde, sondern dort nur eine „militärische Spezialoperation“ stattfindet. Wer in Russland von diesem Vokabular abweicht, spielt mit dem Leben. Allerdings sind Länder wie Deutschland, Großbritannien, die Niederlande, Polen und erst recht die USA de facto längst Kriegspartei: Sie beherbergen mehrere Millionen ukrainischer Flüchtlinge und versorgen sie mit medizinischer Behandlung, Geld, Sprachkursen und Arbeitserlaubnissen; sie beteiligen sich an den – bisher weitgehend wirkungslosen – Sanktionen gegen Russland, die im Falle Deutschlands zu einer überhasteten und teuren Umstellung von Gas und Öl auf andere Energieträger geführt haben; sie schicken kontinuierlich diverses Kriegsgerät, manches auf Kredit, vieles als Geschenk; sie isolieren Russland diplomatisch auf internationaler Bühne und schmieden eifrig Pläne für einen Wiederaufbau des geschundenen Landes.

Bis heute verfängt das Motiv des ukrainischen Präsidenten, die eigene Armee kämpfe stellvertretend gegen Russland für die Freiheit, die Sicherheit und die Zukunft ganz Europas. An dieser selbstgefälligen Darstellung sind durchaus Zweifel angebracht. Die Ukraine kämpft um das eigene Überleben – für diesen Verteidigungskampf gegen den russischen Aggressor hat sie jedes Recht und verdient jedes Mitgefühl. Aber einen ganzen Kontinent in Mithaftung zu nehmen, hat schon Chuzpe und ist nur aus der Verzweiflung über eine bevorstehende territoriale Auslöschung des Landes zu verstehen. Man muss der imperialen Logik des Kremls, nach der eine eigene ukrainische Nation mit einem Recht auf einen eigenen Staat eine Fiktion sei und es sich bei den Ukrainern bloß um „kleine Russen“ handele, nicht folgen; genauso wenig muss man die Erzählung Kiews, es sei Teil der „westlichen Wertegemeinschaft“, wörtlich nehmen. Man denke nur an den Herbst 2022, als der damalige Botschafter des Landes in Deutschland sich darin gefiel, den Bundeskanzler vulgär zu beschimpfen und im selben Atemzug von ihm Geld und Waffen zu verlangen. Von Demut oder gar Dankbarkeit keine Spur.

Die Ukraine ist ausweislich mehrerer ökonomischer Indizes das Land mit der höchsten Korruption Europas, ohne die Milliarden aus den europäischen Hauptstädten zur Aufrechterhaltung seiner Lohn- und Rentenzahlungen wäre sie überdies längst bankrott. Zudem darf man die Frage stellen, warum die ehemalige Sowjetrepublik, anders etwa als die baltischen Staaten, auch 33 Jahre nach dem Ende der UdSSR noch immer nicht fit genug ist für den europäischen Wirtschaftsraum EU und das transatlantische Verteidigungsbündnis NATO. Offensichtlich befindet sich die Wirtschaft des Landes in der Hand einiger Oligarchen, wie ihre russischen Brüder bei der Privatisierung der riesigen Kombinate in den 1990er Jahren zu märchenhaftem Reichtum gekommen. Der Haushalt des Landes wird weitgehend gestützt durch Exporte landwirtschaftlicher Produkte, daran ändern auch gut ausgebildete IT-Fachkräfte nichts.

Man darf die Unterstützung der Ukraine durch NATO und EU als kostspielige Gefälligkeit verstehen; ob deren Führungsleute wirklich glauben, nach einem möglichen Ende der Ukraine als Staat stünden Länder wie Estland, Lettland und Polen auf der Liste des russischen Caesaren, muss offen bleiben. Eine Beistandspflicht besteht keineswegs: Die Ukraine ist nicht Mitglied der NATO, die einen Angriff auf eines ihrer Länder laut Vertrag als einen solchen auf die ganze Gemeinschaft wertet und entsprechend zu beantworten beabsichtigt. Diese potentielle Abschreckung ist vermutlich die beste Lebensversicherung gegen Hasardeure und Revisionisten, wie sie in Moskau das Sagen haben. Warum sich aber NATO und EU das ukrainische Fass ohne Boden freiwillig in die Küche geholt haben, ist bisher nicht überzeugend dargelegt worden. Die Weltbank beziffert die Kosten für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur vorsichtig mit rund 480 Milliarden Euro.

Vor diesem Hintergrund muten die Bodentruppenphantasien des Jupiters von der Seine wie ein schlechter Witz an – sie wären der Einstieg in eine neue Phase des Krieges mit völlig offenem Ausgang. Seit Wochen machen Aussagen ukrainischer Generäle die Runde, nach denen dem Land die Soldaten ausgehen. Auf Telegram kursieren Geschichten über besonders brutale Rekrutierungen der Armee, mit den Zahlen zu Gefallenen und Verwundeten geht die Führung sehr diskret um – kürzlich war die Rede von 31.000 toten Soldaten und 10.000 toten Zivilisten. Es zählte zu des ukrainischen Präsidenten ersten Dekreten im Februar 2022, dass Männer im wehrfähigen Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht mehr verlassen dürfen, da sie als Reservisten gebraucht würden. Von diesen leben Zeitungsberichten zufolge etwa 650.000 in Westeuropa, davon rund 200.000 in Deutschland. Diesen Deserteuren fallen alle möglichen Gründe ein, warum gerade sie nicht im Donbass an der Front stehen können; die Bestechung von Ärzten, Offizieren, Grenzern und Beamten öffnet ihnen den Weg in die Cafés von Kopenhagen, Wien, Mailand und Prag. Bevor jetzt französische, britische, niederländische oder deutsche Soldaten für einen Krieg, der nicht der ihre ist, mobilisiert werden, sollten jene Fahnenflüchtigen das tun, was ihre Regierung von ihnen erwartet und wozu sie der halbe Kontinent ertüchtigt: Die Freiheit und die Existenz ihres Landes im Schützengraben verteidigen.

Alexej

Die Nachricht kann gar niemand überraschen
Doch als sie kommt lässt sie den Atem stehn
Die helle Kerze Russlands ist erloschen
Ihr Rauch verdunkelt ganz Sibirien

Der Mörder trägt des Reiches höchsten Titel
Die Krönungsmesse peinlich inszeniert
Auf Nervengift fiel seine Wahl der Mittel
Der Gulag lebt weil Tote er gebiert

Verurteilt dank verdorbener Gesetze
Der Kampf galt jahrelang der Korruption
Der Republik fehlt allerort die Stütze
Als Wiedergänger die Sowjetunion

Doch hat nicht jeder Angst sein Glück zerbricht
Die Weltgeschichte wird sein Weltgericht

Potsdam

Nach dem dramaturgisch aufgezogenen Bericht der Aktivistengruppe Correctiv Mitte Januar über ein „Geheimtreffen“ in Potsdam, auf dem die Anwesenden über einen Masterplan zu „Deportationen“ von Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland gesprochen haben sollen, steht die Republik Kopf. Der Deutsche Bundestag hat in einer Aktuellen Stunde über das Treffen von Potsdam debattiert, Grüne und Linke forderten ein Verbot der AfD, ebenso zahlreiche Demonstranten im ganzen Land. Den Vogel abzuschießen blieb jedoch der Bundesinnenministerin vorbehalten. Sie fühle sich durch das Treffen von Potsdam an die Wannseekonferenz erinnert, wie sie in einem Interview bekannte.

Dieser Vergleich der Bundesinnenministerin, die qua Position oberste Dienstherrin unter anderem des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und damit politisch verantwortlich für die innere Sicherheit des Landes ist, offenbart ihre Hilflosigkeit im Umgang mit einer Partei, die angesichts bevorstehender Wahlen zum EU-Parlament und drei Landtagen in den Umfragen stabil in nie gekannten Höhen steht. Noch schlimmer ist die damit ausgelebte Ahnungslosigkeit zu historischen Fakten und Kontexten, allen rituellen Beschwörungen des ewigen Erinnerns an die Verbrechen des III. Reiches zum Trotz. Die Ministerin setzt zwei wesentlich unterschiedliche Treffen auf eine Stufe und bagatellisiert damit eine in der Geschichte einmalige Verabredung zum millionenfachen Mord an den europäischen Juden.

Am 20. Januar 1942 trafen sich in einer Villa am Wannsee im waldigen Südwesten Berlins 15 Spitzenvertreter des NS-Regimes zu einer vertraulichen Besprechung mit existentiellen Folgen. Die Teilnehmer im Range von Staatssekretären kamen aus der SS, der Reichskanzlei, der Partei und einigen Ministerien. Zum Zeitpunkt der Besprechung führte das III. Reich seit etwa zweieinviertel Jahren Krieg: Seine Armeen hatten im September 1939 Polen überfallen und zu zwei Dritteln besetzt, hatten Norwegen, Dänemark, die Niederlande und Belgien überrannt und hatten Frankreich im Juni 1940 in einem Blitzkrieg besiegt. Gleichzeitig führte es eine Luft- und Seeschlacht gegen England, hatte im Juni 1941 die Sowjetunion angegriffen und im Dezember 1941 den USA den Krieg erklärt. Im Rahmen dieses Weltkrieges hatten deutsche Truppen, SS- und Polizeikräfte bereits etwa eine halbe Million Juden vor allem im besetzen Osteuropa ermordet, die meisten davon erschossen.

Das Treffen am Wannsee, dessen Ablauf sich aus dem erhaltenen Protokoll und den Aussagen des teilnehmenden Obersturmbannführers Adolf Eichmann bei seinem Prozess in Jerusalem 1961 recht genau rekonstruieren lässt, diente primär der Organisation des angelaufenen Massenmordes an den europäischen Juden im industriellen Maßstab. Die diesbezüglich um die Federführung ringende SS begriff die geplante Vernichtung der über ganz Europa verstreuten elf Millionen Juden, die neben den militärischen Anstrengungen möglichst ressourcenschonend, schnell und unbemerkt vonstatten gehen sollte, vor allem als logistische Herausforderung. Reklamiert wurde eine Bündelung der Kräfte unter ihrem allseits akzeptierten Kommando. Am Wannsee wurde keineswegs die Ermordung der europäischen Juden beschlossen, vielmehr die Organisation und Durchführung dieser „Endlösung der Judenfrage“. Die aus der Exekutive kommenden Teilnehmer erzielten ausweislich des Protokolls in diesem zentralen Punkt Einigkeit. Gute drei Jahre später, zum Ende des II. Weltkriegs, waren in den Todeslagern der Nationalsozialisten insgesamt rund sechs Millionen Juden getötet worden.

Im November 2023 trafen sich nach Darstellung der Correctiv-Aktivisten Geschäftsleute, Mandatsträger der CDU und der AfD sowie Autoren und Sympathisanten aus dem rechten Spektrum zu einer privaten Begegnung in einem Hotel an einem der zahlreichen Seen rund um Potsdam. Mitglieder der Rechercheplattform hatten sich unter falschem Namen im Hotel eingemietet, sie führten Richtmikrofone und versteckte Kameras mit sich, um den Ablauf des Treffens zu dokumentieren und um die Teilnehmer zu identifizieren. Ihr Befund: Die Teilnehmer, etwa zwei Dutzend, sprachen über die sogenannte „Remigration“ von Millionen Menschen aus Deutschland. Unter „Remigration“, so Correctiv, sei nichts anderes als „Deportation“ zu verstehen. Die Rechercheplattform nahm es für sich in Anspruch, ein „Geheimtreffen“ mit seinen unter Umständen strafbaren, zumindest illegitimen Inhalten aufgedeckt zu haben. Die professionellen Medien in Deutschland, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk bis zum linken Boulevard von der „Süddeutschen“ über den „Spiegel“ bis zur „Zeit“, nahmen diese Erzählung unisono für bare Münze und wähnten die Demokratie in tödlicher Gefahr.

Die Bundesinnenministerin nun schlug dem Fass den Boden aus, als sie sich zum halsbrecherischen Vergleich mit der Wannseekonferenz verstieg. Hier ein offizieller Termin mächtiger Vertreter der Regierung, dort ein informelles Treffen Interessierter zum Austausch von Ideen; hier eine verbindliche Entscheidung zur Konzeption des industriellen Massenmordes, dort gegebenenfalls die Diskussion eines seit langem in der Fachliteratur verwendeten Begriffs; hier eine als „Geheime Reichssache“ eingestufte Konferenz, dort ein privates Treffen im politischen Vorfeld; hier eine folgenreiche Verabredung leitender Repräsentanten eines Unrechtsregimes, dort eine private Begegnung unter Annahme des grundgesetzlich garantierten Rechts auf die Freiheit der Kommunikation; hier ein Land, das den halben Kontinent mit Krieg überzieht, dort ein Land, das durch die anhaltende Einwanderung in die Sozialsysteme destabilisiert wird. Wer hier Parallelen zieht, tut dies entweder aus entsetzlichem geschichtlichem Unwissen oder in bösartiger Absicht.

Niemand hat öffentlich das Vorgehen der Correctiv-Aktivisten mit ihren geheimdienstlichen Methoden hinterfragt. Niemand hat mögliche Redner des Treffens von Potsdam nach ihrer Version des kolportierten Geschehens gefragt, außer einigen Bloggern aus Österreich und der Schweiz. Und alle selbsternannten Experten setzen das Konzept der „Remigration“ kurzerhand mit „Vertreibung“ gleich, ohne die sozialwissenschaftlichen Debatten zu kennen, die in im Buchhandel erhältlichen Publikationen abgebildet werden. Dass „Remigration“ die rechtsstaatliche Ausweisung abgelehnter Asylbewerber und integrationsunwilliger krimineller Migranten meint, wird geflissentlich übersehen. Wenn sich nun die Bundesinnenministerin die Correctiv-Lesart des Vorgangs ungeprüft zu eigen macht, setzt sie sich dem Verdacht aus, aus schierer Sorge um die eigene Existenz den politischen Gegner zu diffamieren, weil sie ihm argumentativ nicht länger Paroli zu bieten weiß.

Klausur

  Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. – Apg 4,32

Kerstin hat die Weihnachtstage und den Jahreswechsel nicht bloß überstanden, sondern voller Innigkeit erlebt. Wie in den Jahren zuvor hatte sie im Gästehaus einer Benediktinerabtei im westlichen Münsterland Quartier bezogen, unweit der Grenze zu den Niederlanden. An diesem Ort, den heilig zu nennen sie sich nicht scheut, hat sie schon mehrfach die dunkelsten Tage im Jahreskreis begangen, das Verweilen zu dieser emotional belasteten Zeit ist ihr eine kostbare Routine geworden. Und so gern sie zum Loslassen des von Korruption und Stress geprägten beruflichen Alltags hierhin kommt, dauerhaft leben in der Klausur möchte sie nicht.

Der Benediktinerorden ist der älteste der großen katholischen Orden, es gibt ihn in einer Männer- und in einer Frauenversion. Seine Gründung geht zurück auf den heiligen Benedikt von Nursia (circa 480 bis etwa 547), der um das Jahr 529 mit einigen Mönchen das Kloster auf dem Monte Cassino gründete. In der abgeschlossenen Gemeinschaft widmeten sich die Mönche primär dem Gebet, um Gott nahe zu kommen; ihren Lebensunterhalt erwirtschafteten die Mönche durch Landwirtschaft und Handel, letzteren in bescheidenem Umfang. Bevor im Mittelalter die ersten Universitäten gegründet wurden, waren die Klöster, speziell die benediktinischen, mit ihren Bibliotheken Zentren hoher Gelehrsamkeit, die das theologische, philosophische, pharmazeutische und ästhetische Wissen ihrer Zeit aufbewahrten. Für das Leben in der Kontemplation legten die Mönche und Nonnen ihre Profess ab, mit der sie Armut, Keuschheit und Gehorsam versprachen.

Bis heute liegt dem Leben in der Klausur die sogenannte Regel des heiligen Benedikt zugrunde. Dieses Brevier fasst die verbindlichen Regeln der klösterlichen Gemeinschaft zusammen, von der Kleidung, der Gebetsordnung und der Beschaffenheit der Mahlzeiten bis hin zur Arbeitsteilung und zu Strafen im Falle einer Verfehlung. Das Leben im Kloster mutet dabei kommunistisch an, kennen die Mönche doch keinerlei Privateigentum. Im Kapitel 33 der Regel heißt es: „Keiner maße sich an, ohne Erlaubnis des Abtes etwas zu geben oder anzunehmen. Keiner habe etwas als Eigentum, überhaupt nichts, kein Buch, keine Schreibtafel, keinen Griffel – gar nichts. Den Brüdern ist es ja nicht einmal erlaubt, nach eigener Entscheidung über ihren Leib und ihren Willen zu verfügen. Alles Notwendige dürfen sie aber vom Vater des Klosters erwarten, doch ist es nicht gestattet, etwas zu haben, was der Abt nicht gegeben oder erlaubt hat.“

Diese drastische Absage an das private Eigentum, zu Papier gebracht vor annähernd 1500 Jahren, hat auch heute noch Bestand, und das keineswegs metaphorisch. So kam Kerstin eine ergreifende Geschichte aus ihrer Gastabtei zu Ohren: Dort hatte ein Mönch, der von einer schweren Erkrankung genesen war, für sich das Fotografieren als kreative und heilsame Beschäftigung entdeckt. Seine Mutter, die den Genesungsprozess ihres Sohnes unterstützen wollte, schenkte ihm eine Kamera. Dieses Gerät jedoch durfte der Mönch nicht einfach annehmen, er musste den Abt des Klosters darüber informieren und diesen um die Annahme der Gabe bitten. Der Abt erteilte seinem Mitbruder schließlich sein Plazet. Ein anderer Mönch, der während einer dienstlichen Reise mit dem Auto einen Strafzettel wegen falschen Parkens kassierte, grämte sich ob dieses Vergehens furchtbar, weil er mit der Geldbuße das Budget des Klosters belastete.

Zu einem solch einengenden Verzicht wäre Kerstin nicht bereit, so sehr sie auch die gelebte Gemeinschaft des Klosters als stützend und sorgend auffasst. Sie ist zu sehr Individuum, als dass sie ganz in einer höheren Gruppe aufzugehen bereit wäre. Und die vorgeschriebene Uniform, bei den Frauen mit einem Schleier, der die Stirn und das Haar bedeckt, wäre ihr nicht nur unpraktisch, sondern auch ein dauernder Quell des körperlichen Unwohlseins – sie trägt auch im Winter keine Mütze, so sehr will sie rund um den Kopf keinerlei Textil haben, so praktisch oder schmückend es auch sei. Sie versteht, dass die Mönche und Nonnen im Kloster sich dem Dienste Gottes verschreiben und dabei ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellen. Eine Berufung in diese Richtung, mit den Konsequenzen der Entsagung materieller und ideeller Art, ist bisher nicht an sie ergangen. Sie bemüht sich durch Gebete und richtiges Verhalten um den Glauben, ohne dass dieser ihr Leben vollends bestimmte.

Im Speisesaal des Gästehauses hat Kerstin ihr Milieu gefunden. Die Gäste, über die Feiertage gut 40 an der Zahl, sind zu 80 Prozent weiblich, die meisten sind jenseits der 70, fast alle kommen aus der näheren ländlichen Umgebung. Über Weihnachten kommen sie hierher, um nicht allein daheim vor der Krippe zu sitzen, hier finden sie ihre emotionale Gemeinschaft auf Zeit. Etliche der Gesichter kennt Kerstin von früheren Besuchen, auch sie wird von mehreren Frauen als eine der ihren begrüßt. Eine Atmosphäre vollständiger Billigung liegt über den Tischen und dem üppigen Buffet, jede ist willkommen, die typische weibliche Lästerei hält sich merklich in Grenzen. Besonders wohltuend im Kontrast zum Alltag ist das Fehlen der Handys neben den Tellern; hier macht niemand Fotos vom Salat, keine greift dauernd zum Telefon, um die letzten Nachrichten auf X, TikTok und Telegram zu verfolgen und zu kommentieren. Dabei stellt das Haus seinen Gästen seit ein paar Jahren ein kostenloses WLAN zur Verfügung, die Router sind gut sichtbar auf den Fluren angebracht.

Kerstin verbringt die Zeit zwischen den Jahren kontemplativ. Sie liest den neuen Roman von Karl Ove Knausgard, macht lange Spaziergänge in der waldigen Umgebung, geht jeden Abend in die Vesper und singt Weihnachtslieder mit den anderen Gästen; die Stunden dazwischen vergehen pflanzenhaft, indem sie einfach Wurzeln in die Luft schlägt und sich vom Wind streicheln lässt. Das größte Geschenk, das ihr die Abtei macht, ist das Verschwinden all der Fragen und Zweifel, die ihren Alltag dominieren – hier wird sie ohne großes Zutun von einer Bedürfnislosigkeit erfasst, die im Zen wohl Satori genannt wird. Kerstin wünscht sich, diese Unmittelbarkeit mit zurück in die große Stadt zu nehmen, wo zu Jahresbeginn die berufliche Fron wieder ruft. Sie wird die Möglichkeiten prüfen, sich als Oblatin dem Kloster besonders zu verbinden. Aber um diese Form der Unterstützung zu schaffen, muss sie erst hier in die Nähe ziehen. Damit ist eines ihrer großen Vorhaben für die kommende Zeit benannt.

Dating

  Eine Frau ist zu allem bereit, wenn der Mann ihr das Gefühl gibt, sie wirklich zu wollen. – Lars Gustafsson

Immerhin, Kerstin hatte es versucht. Sie hatte sich auf einer Webseite angemeldet, um dort Männer für ein Treffen und langfristig für eine Beziehung kennen zu lernen. Ein Vorgehen, das für die jungen Leute gang und gäbe war und für die meisten normgeborenen ohnehin. Für Transfrauen, so Kerstins Befürchtung, war auch das Online-Dating mit den gewohnten Beleidigungen, Aggressionen und Gefahren verbunden; daher entschied sie sich für eine Seite speziell für Transfrauen. Doch auch die entpuppte sich als Rose voller Dornen, sodass sie nach einem halben Jahr entnervt ihr Konto kündigte, weiterhin unbemannt.

Voller Elan und etwas aufgeregt, hatte sich Kerstin im Mai auf der Seite angemeldet – corriger la fortune. Die Seite warb damit, von einem echten Transpaar – sie trans, er cis – betrieben zu werden und sich um echte Kontakte zwischen Männern und Transfrauen zu bemühen, abseits der Gewalt und der Demütigungen der Welt der Fetische und der Pornographie. Alle Profile seien, so die Macher, rigoros geprüft; hochgeladene Fotos müssten bestimmten Regeln entsprechen; jeder Versuch, Geld zu erheischen, werde mit dem sofortigen Bannen bestraft. Das klang nicht schlecht, hinzu kam, dass die volle Nutzung der Seite für Transfrauen gratis war, während Männer pro Monat 39,- US Dollar zahlen mussten. Mit dieser Politik wollte man Spinner, Hasardeure und Kriminelle fernhalten.

Kerstin füllte den Fragebogen zu ihrem Profil vollständig und wahrheitsgemäß aus, beschrieb sich und ihre Vorlieben und Wünsche konkret und ausführlich im Freitext. Lange haderte sie mit der Auswahl eines Bildes, einfach weil sie sich auf Fotos durchweg verabscheute und diese vermied, wo immer es ging. Schließlich entschied sie sich für ein Portrait knapp bis zur mückenstichgroßen Brust, das vor Jahren ein Profi gemacht hatte: frontal, leicht gedreht im Profil zur Schokoladenseite, die langen Haare offen, auf den geschlossenen Lippen ein feines Lächeln, Augen und Mund dezent geschminkt. Seriös und hinnehmbar, so kam sie sich vor neutralem Hintergrund vor. Auch wenn es sich um eine arrangierte Situation im Studio handelte, empfand sie den Ausdruck nicht als gestellt. Im Fragebogen stufte sie ihr Aussehen als „durchschnittlich“ ein.

Es dauerte nicht lange und erste Nachrichten landeten in ihrem Postfach. Die Politik der Seite sah vor, dass die Nutzer selbst aktiv werden mussten. Ihnen wurden keine algorithmengenerierten Vorschläge gemacht, die laut den gemachten Angaben zum Alter, zum Wohnort, zum Beruf, zu Ess- und Trinkgewohnheiten oder den erotischen Wünschen sowie der Reisebereitschaft passen könnten; vielmehr mussten die Nutzer in den Profilen der anderen stöbern und suchen, ob er oder sie ein geeigneter Kontakt sein könnte. Immerhin konnte man die Datei der Männer nach verschiedenen Kriterien selektieren und somit den Kreis der potentiell infrage Kommenden sinnvoll eingrenzen. Das war ein nützliches Element, waren doch nach Angaben der Betreiber, die ihren Firmensitz in Thailand hatten, rund 125.000 Menschen auf der Seite registriert. Dabei konnten die Frauen nur die Männer sehen und vice versa.

Früh schwante Kerstin, dass die Internationalität der Seite auch ihr größtes Manko war. Sie hatte den Eindruck, dass die Männer buchstäblich auf der ganzen Welt verteilt saßen, von Skandinavien, den Niederlanden und Frankreich über die USA und Kanada bis nach Südafrika, Indien, Japan und Australien. Selbst aus Pakistan und den VAR waren Interessenten zugeschaltet, das Gros allerdings kam aus Westeuropa und Nordamerika, also jenen Weltgegenden mit einer halbwegs liberalen Gesetzgebung hinsichtlich Transidentität. Die Frauen hingegen, so schrieben es ihr mehrere Männer unabhängig voneinander, lebten fast ausschließlich in Südostasien, in Thailand, Malaysia, Indonesien und auf den Philippinen. Sie träumten, so die Einschätzung, durchweg davon, von einem reichen Mann als Braut in den Westen geholt zu werden, inklusive Finanzierung des Visums, des Fluges und der Wohnung.

Kerstin genoss die Chats mit den unbekannten Kavalieren. Manche gaben sich gepflegt, vor allem jene ihres Alters; andere, die ihre Söhne hätten sein können, fragten sie unverblümt nach ihren Phantasien im Bett. Ausnahmslos alle priesen sie ob ihrer Schönheit und überschütteten sie mit Komplimenten für ihr Aussehen, das sie nur von einem Foto kannten. Sie wunderte sich, weil sie ein derartiges Charmieren im Alltag überhaupt nicht gewohnt war. Und dann dämmerte es ihr: Natürlich sahen die Männer nicht ihren realen Körper mit seiner Giraffenlänge in Relation zu anderen, sie sahen nur ein Gesicht, das sich zur Projektion all ihrer Wünsche bestens eignete. Sie hörten ihre tiefe Stimme nicht, sahen ihre senkrechte Silhouette ohne Busen, Taille und Hüften ebenso wenig wie ihre großen Hände und ihre riesigen Füße. Das, was Kerstin in ihrem Profil über sich geschrieben hatte, lasen sie erst gar nicht. Nach ihrem Beruf wurde sie ebenso wenig gefragt wie nach ihren sportlichen Aktivitäten, ihren Lieblingsbüchern oder ihrem Geschmack in Fragen der Architektur. Die Männer suchten keine unabhängige, starke, intellektuelle Transfrau, sondern ein Häschen für Bett und Küche.

Sie schrieb mit Männern aus Dänemark, Schweden, Großbritannien, den Niederlanden, Mexiko, Kanada, Australien und Frankreich. Sie schulte ihr Englisch und Französisch und ließ sich von den Galanen den Hof machen. Zu ihrer Verblüffung gab es kaum Männer aus Deutschland auf der Plattform, geschweige denn aus ihrer Stadt. So tauchte bei allem Spaß am Schreiben die Frage auf, wie denn nun ein reales Treffen zum Kennenlernen zu bewerkstelligen sei. Es war einleuchtend, dass sie nicht mal eben tausende von Kilometern über den Atlantik würde fliegen können, nur um ihre Internetbekanntschaft in einem Café zu einem Mokka zu treffen. Umgekehrt erwartete sie ein solches Investment auch nicht von ihren Gesprächspartnern. Und so verliefen die Plaudereien eine nach der anderen im Sande, was mit den Wochen und Monaten immer betrüblicher wurde.

Die Männer wollten es nicht glauben, dass sie mit ihrem femininen Aussehen immer noch allein war. Was stimmte mit den Kerlen in ihrem Lande nicht, fragte sie ein Mann aus Amsterdam offenherzig. Ein Mann aus Mailand behauptete gar, sie spiele hier nur rum, sie wolle gar keinen Partner, anders sei ihr Alleinsein nicht zu erklären. Kerstins Zweifel an der Richtigkeit dieses Ortes für ihre Zwecke wuchsen. Die Seite kam ihr immer mehr vor wie eine Mischung aus Social Media Plattform und Messengerdienst: Als ginge es nur um das Austauschen von Nachrichten zum Bedienen erotischer Phantasien, nicht aber um das Anbahnen einer Begegnung im Restaurant oder im Theater. Anders konnte sie es nicht begreifen, dass Schwiegermutterträume in ihren makellosen 30ern mit ihr hin und her texteten. Bei vielen rutschte sie ohnehin durch das Beuteraster: Diese suchten eine dominante Transfrau mit ihrer genitalen Erstausstattung und nicht eine passive wie Kerstin mit einer chirurgisch geformten Vagina.

Als sie diesen jungen Männern im Vorgriff auf eine denkbare gemeinsame Zukunft die Frage nach einem möglichen Kinderwunsch, den sie ihnen niemals würde erfüllen können, stellte, gaben diese nur ausweichende Antworten. Vielleicht, jetzt noch nicht, werde man dann sehen, habe man noch nicht drüber nachgedacht, Spaß haben sei wichtiger. Sie wollten von ihr wissen, zu wie vielen Orgasmen sie mit ihrer Pussy imstande sei, wie sie es mit BDSM halte, ob sie gern Kleider und Röcke trüge etc. Ein Mann aus Stockholm verblüffte sie mit seiner Offenheit: Er schätzte Transfrauen höher als geborene Frauen. Jene seien meist schöner als diese, sähen jünger und gepflegter aus, zelebrierten ihre Weiblichkeit, würden nicht regelmäßig einmal im Monat unter den blutigen Tagen leiden und könnten Männer nicht mit unerwünschten Kindern erpressen. Au weia, entfuhr es Kerstin, auch das war eine Form der Fetischisierung. Als Frau fühlte sie sich nicht gesehen.

Ihr Rubikon bezüglich einer Partnerschaft lag in der Sichtbarkeit. Sie bestand darauf, als mögliche Freundin dem Kreis ihres Partners vorgestellt zu werden. Ein Leben als heiß begehrte, aber strikt verheimlichte Geliebte im Dunkel war für sie inakzeptabel. Sie wollte keineswegs die sozialen Ängste und Zweifel eines Partners zu ihren eigenen machen. Sie kommunizierte die Erwartung, nach einer gewissen Zeit den Freunden, Kollegen und soweit vorhanden der Familie ihres Freundes vorgestellt zu werden. Sie wollte von ihm in die Oper begleitet werden und seinen Stolz auf sie am ganzen Körper spüren. Stürmisch wurde ihr entgegnet, dass man sie begehren und wie eine Trophäe präsentieren würde, so attraktiv und geil wie sie war. Aber da sich Kerstin nicht in einem Film oder einem Roman bewegte, sondern in der verdorbenen Welt, blieb es bei diesen wohlfeilen Beteuerungen.

Ein einziges Mal kam es dann tatsächlich zu einer Begegnung mit einem Mann. Er hatte ihr Alter, lächelte einladend, war in Bayern geboren und hatte als Entwicklungshelfer, Coach und Handwerker auf allen Kontinenten gearbeitet. Nun hatte er im Süden Schwedens einen Flecken Land im Wald gekauft, um dort eine Werkstatt zu bauen und um sich dort niederzulassen. Er war gerade im Land und konnte ein Treffen mit Kerstin einrichten. Sie aßen in einem indischen Restaurant und unterhielten sich angeregt, ohne dass der Funke richtig übersprang. Er hatte ihr eine langstielige gelbrote Rose mitgebracht, die noch Tage später ihre Kommode zierte. Dann fuhr er abrupt nach München, ohne ihr davon zu berichten. Ihre Verstimmung, als er sich Wochen später wieder meldete, konnte er nicht verstehen. Nein, dachte Kerstin, wenn es schon zu Beginn mit einem Mann an der Kommunikation hakt, wird es nichts. Außerdem war er ihr ohnehin zu klein.

Nach einem halben Jahr schließlich war sie bedient. Das Flirten mit den Männern auf der Seite kam ihr wie ein Videospiel vor, ohne Vorlauf und ohne Folgen. Sie schlief abends mit der Vorstellung ein, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie einen Partner fände. Die Realität am nächsten Tag unterschied sich indes in nichts von jener letzter Woche. Was auch immer sie unternahm, sie blieb allein; andere Frauen brauchten sich nur einmal mit den Fingern durch die Haare zu fahren, schon stand ihr neuer Bewunderer mit den Eheringen an ihrer Seite. Nach der Kündigung ihres Kontos nach einem halben Jahr kam es ihr so vor, dass eine virtuelle Pubertät ihr Ende gefunden hätte und sie bruchlos ins Stadium der alten Jungfer gewechselt wäre. Die Erfahrungen auf dieser Seite wollte sie nicht nutzen, um ein anderes Datingportal mit regionalem Bezug zu probieren: Dort wäre sie als Transfrau sowieso nicht zugelassen. So setzte sich ihr Parialeben, das sie im Alltag zur Genüge kannte, auch im digitalen Raum fort. Wer spricht von Lieben, Überstehen ist alles.