Kolyma

Die Kolyma ist zum einen ein Synonym für Gold, zum anderen eines für die besonders grausamen Lager des sowjetischen Gulag. Bereits im zaristischen Russland war bekannt, dass die Region um den nordostsibirischen Fluss Kolyma, der der Region am nördlichen Polarkreis den Namen gibt, voller kostbarer Bodenschätze ist. Es bedurfte der Gnadenlosigkeit des zu allem entschlossenen Regimes Josef Stalins, um diese klimatisch feindliche Gegend im Permafrost zu erschließen und zu besiedeln und Gold, Wolfram, Zinn, Diamanten, Kobalt und Uran zu fördern. Mit dem Gold, so das Kalkül der Sowjetführung, sollte die Industrialisierung und militärische Aufrüstung des jungen sozialistischen Staates finanziert werden. 1932 wurden an der Kolyma gut 500 Kilogramm Gold abgebaut, 1934 bereits fünf Tonnen. 1936 waren es dann 30, im Jahr darauf schließlich 51 Tonnen. Ein Drittel des Goldes der Sowjetunion stammte seinerzeit aus den Minen der Kolyma. Die Erhöhung der Arbeitsnorm ab 1938 steigerte in dem Gebiet die jährliche Fördermenge auf rund 300 Tonnen Gold.

1931 nahm der dem Geheimdienst unterstehende Dalstroj, die Hauptbauverwaltung des Hohen Nordens, seine Arbeit zur Kolonialisierung der Kolyma auf. Stand die Katorga, die Zwangsarbeit und Verbannung, in den 1920er Jahren noch im Zeichen der pädagogisch motivierten ideologischen „Umschmiedung“ der Inhaftierten, wurden die Deportierten an der Kolyma als Sklaven vernutzt, deren Arbeitskraft bis zum eingepreisten Tod ausgepresst wurde. In den Jahren des Großen Terrors 1936/38 wurden Hunderttausende Häftlinge aus dem europäischen Teil der Sowjetunion über Wladiwostok an die Kolyma nach Magadan verschifft; es handelte sich dabei um eine wilde Mischung aus kleinen Kriminellen, Berufsverbrechern, Ingenieuren, Trotzkisten, Oppositionellen, entkulakisierten Bauern, Religiösen, Intellektuellen, Angehörigen ethnischer Minderheiten und unglücklichen Namenlosen, die von der Raserei der Verhaftungen erfasst wurden. 1951 war mit etwa 180.000 Gefangenen ein trauriger Höchststand erreicht.

Der russische Dichter Warlam Schalamow hat die Lager an der Kolyma überlebt und darüber geschrieben. Seine Texte zählen zu den Klassikern der Gulag-Literatur, auch wenn ihm zeitlebens die Anerkennung als Schriftsteller versagt blieb. Er wurde 1907 im nordrussischen Wologda als jüngstes Kind eines orthodoxen Priesters und einer Lehrerin geboren. Nach dem Abitur ging er nach Moskau und schrieb sich an der juristischen Fakultät der Universität ein, neben seinem Studium suchte er Kontakt zu politisch oppositionellen Kreisen und zu Künstlern und Literaten. 1929 wurde er wegen illegaler Verbreitung von „Lenins Testament“, in dem der todkranke Sowjetführer vor Josef Stalin warnte, zu drei Jahren Zwangsarbeit im Ural verurteilt. Nach seiner Rückkehr nach Moskau 1931 arbeitete er als Journalist und veröffentlichte erste Gedichte und Prosatexte.

1937 wurde er wegen „konterrevolutionärer trotzkistischer Tätigkeit“ erneut verhaftet und in ein Arbeitslager an der Kolyma mit ihrem schütteren Lärchenbewuchs deportiert. Hier wurde er zur Fron im Bergwerk, im Forst und im Straßenbau gezwungen, unterbrochen durch Aufenthalte im Krankenhaus. 1953 wurde er aus dem Lager entlassen, 1956 kehrte er nach Moskau zurück. Bis in die 1970er Jahre arbeitete er an seinen „Erzählungen aus Kolyma“, in denen er die Realität in den Lagern literarisch thematisierte. In der Sowjetunion kursierten erste Stücke im Samisdat, Ende der 1960er Jahre wurden einzelne Texte in französischen und deutschen Emigrantenzeitschriften publiziert. Schalamow bezog eine kleine Invalidenrente und litt an den Langzeitfolgen der Haft. Ende der 1970er Jahre zog er in ein Altenheim, 1982 starb er in einer Nervenheilanstalt. Seine „Erzählungen aus Kolyma“ erschienen in der UdSSR erst posthum während der Perestroika der späten 1980er Jahre, seit 2007 liegt der Zyklus erstmals komplett in deutscher Übersetzung vor.

Der Gulag im Allgemeinen und die Kolyma im Besonderen suchen in der organisierten Quälerei des Sisyphos ihresgleichen, hier lässt sich unter Laborbedingungen studieren, was Menschen einander antun, wenn ihre Verbrechen straffrei bleiben, weil die Führung es befiehlt. Im sibirischen Osten hat der Winter acht Monate, die Temperaturen fallen auf 50 Grad Kälte und darunter. Die Baracken sind nicht winddicht und schlecht geheizt, die Kleidung ist für den Dauerfrost ungeeignet. Die Umzäunung der Lager mit Stacheldraht erweist sich als unnötig, da ein Fluchtversuch in der tief verschneiten Taiga von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Die Auszehrung der Häftlinge mit ihren bindfadendünnen Muskeln erfolgt durch Schwerstarbeit über zwölf und mehr Stunden am Tag bei völlig unzureichender Ernährung, desolaten sanitären Anlagen, dauernden Schlägen der Wächter und mangelhafter medizinischer Versorgung. Eine Privatsphäre existiert nicht, die Verurteilten bestehlen einander, denunzieren für eine Prise Machorka und morden für einen wollenen Pullover. Hinzu kommen willkürliche Erschießungswellen, um im fernen Moskau angeordnete Quoten überführter „Volksfeinde“ zu erfüllen. Die Leichen können wegen der vereisten Böden nicht begraben werden, sie werden aufeinandergestapelt und mit Schnee überdeckt; die Schneeschmelze im Sommer treibt die konservierten Kadaver zurück unter die Nochlebenden.

Neben Erfrierungen an Ohren, Nasen, Zehen und Fingern sind typische Gefängniskrankheiten wie Pellagra oder Skorbut, ausgelöst durch chronische Vitamin- und Kalorienarmut, weit verbreitet; nach einer Saison werden die zum Skelett abgezehrten Sklaven von der Mine als „Grubenschlacke“ ausgeworfen. Als „Dochodjaga“ befinden sie sich näher am Tod als am Leben, ihr vor Hunger erschöpftes Hirn fasst keinen Gedanken mehr, sie existieren nicht anders als ein Stein. Die Insel Kolyma, durch Berge, Meer und Kälte isoliert, nimmt das Sterben der Häftlinge nicht nur billigend in Kauf, sie zielt unausgesprochen auf ihre Vernichtung durch Arbeit. Vor diesem Hintergrund leuchtet es ein, dass nach dem Ende des II. Weltkriegs, als im sibirischen Osten der Holocaust der Nazis bekannt wurde, von der Kolyma als „Auschwitz ohne Öfen“ gesprochen wurde. In dieser Hölle aus Eis, Fels und Schmerz nicht zermahlen zu werden, ist eine Frage des dunklen Zufalls. Warlam Schalamow hat nach neun Jahren Haft das Glück, einen Kurs als Arzthelfer zu belegen, der ihn vor dem Schacht bewahrt und ihn von einem Gespenst an der Schubkarre zu einem privilegierten Menschen macht, dessen Zukunft über den heutigen Tag hinausreicht.

Für Schalamow ist die Literatur über das Geschehen ein Mittel des Überlebens. Dazu muss er das Schreiben erst wieder mühsam erlernen, da die mehrfach erfrorenen Finger durch die jahrelange Umklammerung der Schaufel sich nicht mehr geradebiegen lassen zum Halten des Stiftes. Für ihn ist das Lager eine zutiefst sinnlose Erfahrung, die keinerlei Läuterung erträgt: „Ich bin überzeugt, daß das Lager – immer – eine negative Schule ist, auch nicht eine Stunde darf man darin verbringen – es ist eine Stunde der Zersetzung. Niemandem hat das Lager jemals etwas Positives gegeben und geben können. Auf alle – Häftlinge wie Freie – wirkt das Lager zersetzend.“ Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“ haben natürlich dokumentarischen Rang und verleugnen ihre autobiografische Quelle nicht; er will Zeugnis ablegen, unbestechlich und detailgetreu. Er will aber auch über das Protokoll und den Rapport hinaus erzählen, quasifiktiv: Deswegen wählt er Namen, komponiert Charaktere, setzt Kontexte. Er zielt nicht auf moralische Belehrung und stellt keine Auferstehung in Aussicht. Seine Prosa aus dem Inneren des Leidens ist trostlos präzise, nirgends wird eine Linderung durch Solidarität, Humanismus oder Ästhetik angedeutet. Schalamow gelingt das Unmögliche: Er vermittelt den „Anderen“ eine Ahnung vom Horror der Kolyma, nach ein paar Erzählungen muss die Leserin (m/w/d) das Buch aus der Hand legen und sich seelisch entgiften.

1996 wurde auf einer Anhöhe bei Magadan die betonierte „Maske der Trauer“ des Bildhauers Ernst Neiswestny (1925 – 2016) errichtet, die an das Kreischen der Gewalt der Kolyma erinnert. Die 15 Meter hohe Skulptur stellt ein stilisiertes menschliches Gesicht dar, aus dessen linkem Auge kleine Gesichter wie Tränen rinnen. Die von Schalamow festgehaltenen Zustände an der Kolyma decken sich prinzipiell mit den Befunden der Archive. Die Rekonstruktion des Grauens erfolgt in Russland weitgehend durch privat forschende Historiker und Menschenrechtsorganisationen wie etwa Memorial, die von der russischen Regierung regelmäßig der Spionage bezichtigt werden. Eine offizielle Kultur der Aufarbeitung und des Gedenkens in Russland fehlt bis heute, der politisch und strafrechtlich Verantwortliche für die Jahrzehnte des Tötens, Josef Stalin, ist stattdessen zu einer Figur nostalgischer Verklärung geworden. Nach der Auflösung des Dalstroj 1957 verfielen die Baracken, die Gruben, die Gerüste und die Schienen, sie wurden mittlerweile von der unwirtlichen Natur zerrieben – die in den 1930er Jahren angelegte zweitausend Kilometer lange „Straße der Knochen“ von Magadan entlang des Flusses tief ins Gebirge besteht noch. Heute erzählt nur noch der schneidende Wind über dem grenzenlosen Weiß der Taiga vom Unbeschreiblichen.

Walser

Aus dem Jura nach Berlin und wieder zurück. Aus kleinen Verhältnissen in die Boheme der Kunstwelt, nach dem Ende hoher Hoffnungen ein zurückgezogenes Leben als möblierter Herr, das letzte Lebensdrittel als Anstaltspatient zubringend. Der Schweizer Dichter Robert Walser (1878 – 1956) ist ein Wiedergänger des Taugenichts, der sich die Welt erwandert, mit offenen Augen für das Abseitige des Lebens, dabei träumend Beiträge zu einer Soziologie des Alltags liefernd.

Robert Walsers literarischer Stil ist heiter und verspielt, seine Texte sind voller schweizerischer Diminutive, der Satzbau ist schlicht, das Vokabular überschaubar. Nicht immer ist klar, ob er die Dinge, über die er schreibt, parodiert oder wörtlich meint. Für den Schweizer Autor Matthias Zschokke ist er eine „Missverständnisfalle“. Seine Texte lesen sich mitunter so meditativ wie Haikus, zwischen den Zeilen blitzt die Liebe zum Paradox. Dabei scheint er sich der Beachtung durch ein Publikum zu versperren: „Wer mich liest, und wie man mich liest, kümmert mich nicht. Schreiben bedeutet für mich eine Erholung, eine Art Schlafmittel.“

Robert Walser wurde 1878 in Biel (frz. Bienne) in der Nordwestschweiz als siebtes von acht Kindern geboren; das Progymnasium musste er trotz bester schulischer Leistungen verlassen, da die Familie sich seinen Schulbesuch nicht länger leisten konnte. 1892 begann er eine Ausbildung bei der Berner Kantonalbank, 1894 starb die an Depressionen leidende Mutter. 1895 zog Walser nach Basel und verdingte sich als Kommis im Kontor; am Stuttgarter Hoftheater scheiterte er im Vorsprechen beim Versuch, als Schauspieler angenommen zu werden.

Es folgten Nomadenjahre mit Stationen in Biel, Bern, München, Berlin, Zürich, Thun, Winterthur und Solothurn bei häufig wechselnden Arbeitgebern; neben seinem Brotberuf hing er der Sehnsucht nach, als freier Schriftsteller zu reüssieren. 1904 konnte er den Erzählband „Fritz Kochers Aufsätze“ bei Insel veröffentlichen, 1905 zog er nach Berlin, wo er zunächst bei seinem als Illustrator und Bühnenbildner anerkannten Bruder Karl lebte, der ihn in die Welt des Theaters und der Kunst einführte und ihn mit den Verlegern Samuel Fischer und Bruno Cassirer bekannt machte.

Sein Debüt an der Spree verlief vielversprechend. Er publizierte die Romane „Geschwister Tanner“ (1907), „Der Gehülfe“ (1908) und „Jakob von Gunten“ (1909), von der Kritik gelobt und von Kollegen wie Kurt Tucholsky und Hermann Hesse gepriesen. Dank der Protektion seines Bruders Karl war Robert Walser zeitweilig Sekretär der Künstlervereinigung Berliner Secession. Seine Romane und seine Feuilletons thematisierten das Leben im raschen Takt der großen Stadt, aus der Sicht der Angestellten, Dienstboten und Lakaien, dabei auf eigene berufliche Erfahrungen rekurrierend: „Vielleicht steckt ein ganz, ganz gemeiner Mensch in mir. Vielleicht aber besitze ich aristokratische Adern. Ich weiß es nicht. Aber das Eine weiß ich bestimmt: Ich werde eine reizende, kugelrunde Null im späteren Leben sein.“

1913 ging er in die Schweiz zurück und lebte zunächst bei seinem Vater, der im Jahr darauf verstarb. Walsers wohnte als Aftermieter in Mansarden und schrieb für Schweizer und deutsche Zeitungen. 1921 zog er nach Bern und nahm eine Stelle im Archiv an. Er veröffentlichte sporadisch, vernichtete etliche Entwürfe und schrieb für das Notizbuch. 1929, auf dem Höhepunkt einer finanziellen und seelischen Krise, wurde er in die Nervenheilklinik Waldau (wo schon sein Bruder Ernst 17 Jahre hospitalisiert war) eingewiesen, wo er als Patient mit attestierter Schizophrenie lebte, in der Anstaltsgärtnerei arbeitete und mit dem Schachspiel begann. 1933 wurde Walser gegen seinen Willen in die psychiatrische Klinik Herisau verlegt, hier versiegte sein Schreiben endgültig.

Walser fühlte sich im Winter besonders wohl und fing in zahllosen Texten den Zauber der dunklen Monate ein, dem Schauspiel des Schneefalls gab er eine märchenhafte Note: „Alle Farben, rot, grün, braun und blau, sind vom Weiß eingedeckt. Wohin man schaut, ist alles schneeweiß, wohin du blickst, ist alles schneeweiß. Und still ist es, warm ist es, weich ist es, sauber ist es. Sich im Schnee schmutzig zu machen, dürfte sicher ziemlich schwer, wenn nicht überhaupt unmöglich sein. Alle Tannenäste sind voll Schnee, beugen sich unter der dicken weißen Last tief zur Erde herab, versperren den Weg. Den Weg? Als wenn es noch einen Weg gäbe! Man geht so, und indem man geht, hofft man, daß man auf dem rechten Weg sei. Und still ist es. Das Schneien hat alles Geräusch, allen Lärm, alle Töne und Schälle eingeschneit. Man hört nur die Stille, die Lautlosigkeit, und die tönt wahrhaftig nicht laut.“

Walsers Leben endete mit seinem Tod im Schnee, den er in gespenstischer Ahnung fast 50 Jahre zuvor im Roman „Geschwister Tanner“ fantasiert hatte. Der Autor hinterlässt ein Werk, das er unter erbärmlichen wirtschaftlichen Bedingungen geschaffen hat und das weit über seinen Rang am Rande der Gesellschaft hinausweist. Es bleibt ein verschmitztes Rätsel, dass dieser Dichter, dem das Schreiben unabweisbar ein Lebensmittel war, so genügsam sich in sein Schicksal ergeben hat: „Lebe wohl. Wenn ich Blumen hätte, ich schüttete sie über dich aus. Für einen Dichter hat man nie Blumen genug.“ Wer weiß, vielleicht war es Robert Walser sogar recht, unerkannt und dabei sehend durch die Welt zu gehen. Einmal saß er gar inkognito bei einer Lesung aus seinen Büchern im Publikum, lebhaft applaudierend.

Gebet

Sei mit mir, wenn ich nach Dir rufe,
Und finde mich, wenn ich im Schatten taste.
Bleib hier, wenn sich die Wege teilen,
Trag mich, wenn meine Last zu schwer mir wird.

Verbann die Angst am Grund der Seele,
Komm mir entgegen, wenn ich mich verlaufe.
Sing hell, wenn Geister mich im Schlafe quälen,
Sei mir das Licht inmitten finstrer Kälte.

Ich hab nur Worte, um Dich zu beschenken,
Sie sind mein Glaube, wie mein Atem alle Stund.
Dein Wille ist mir Wärme und Gesetz,

Mein Herz schlägt klar in Deinem Takte.
Hab Dank für das Vertrauen, Dich zu bitten –
Du bist der Stift auf meinem weißen Blatt.

Gerleve

Die Fassade der Basilika ist aus grobem, beige-grauem Ibbenbürener Sandstein und verleiht dem Bau Festigkeit, das Interieur besticht durch Schlichtheit und Strenge. Der Boden ist aus cremefarbenem Marmor, die Wände und Säulen sind hell getüncht und reflektieren den Lichteinfall aus den Rosetten. In der Apsis hinter dem Altar auf spiegelndem Granit hängt eine mittelalterliche Kreuzigungsgruppe im unvollendeten Ostchor, im rechten Winkel zur Vierung sitzen die Mönche in schwarzen Kukullen beidseitig im braunen Gestühl. Wenn sie deklamieren, wird der magische Klang ihrer Stimmen bis unter die knapp 19 Meter hohe Decke getragen. Ihr Gotteslob auf Deutsch und auf Latein öffnet Geist und Seele, hier ist heiliger Boden zur Feier des Geheimnisses des Glaubens.

Die Benediktinerabtei Sankt Josef im westfälischen Gerleve ist trotz der katholischen Umgebung eine relative Neugründung. Ende des von der Säkularisierung leidgeprüften 19. Jahrhunderts stifteten die drei erbenlosen Geschwister Wermelt ein Grundstück auf einer Anhöhe zwischen Billerbeck und Coesfeld zur Errichtung eines Klosters. Nachdem einige Orden wegen der abgeschiedenen Lage abgewinkt hatten, griffen die Benediktiner schließlich zu. 1899 kamen die ersten Mönche, arbeiteten auf dem Wermeltschen Bauernhof und begannen mit dem Bau der Abtei sowie der angrenzenden Kirche, die bereits 1904 die ersten Gottesdienste sah, wenn sie auch erst 1950 geweiht wurde.

Die Baumberge, die Provence Westfalens, bilden einen sanften Hügelzug etwa 30 Kilometer westlich von Münster. Der liebliche Landstrich ist von tiefer Volksfrömmigkeit gezeichnet, zahlreiche Bildstöcke, Kruzifixe und Madonnenstatuen am Wegesrand und vor Bauernhöfen künden davon. Wanderungen und Radtouren in dieser Parklandschaft mit ihren Feldern, Hainen und Wiesen, aus denen einzelne Gehöfte herauswachsen, geraten zu Exerzitien der Bewegung. Der Mistgeruch im Freien steht dabei in lebhaftem Kontrast zum Weihrauchdunst rund um den Altar. Die Stille über der dünn besiedelten Erde wird im Viertelstundentakt durchbrochen, wenn die Glocken der Abteitürme an das Vergehen der Zeit erinnern.

„Man kann nicht gerade behaupten, das Leben im Kloster sei aufregend“, beschreibt der Gerlever Abt Laurentius Schlieker die Gottsuche der Mönche und ihrer Gäste. „Dennoch kann die scheinbar unbewegliche Umgebung eine Spannung auslösen, die bereit macht für das Neue: Man muss sich selbst ohne Ablenkung ertragen, um das Neue kommen lassen zu können. Aus der Konfrontation mit den bewährten Traditionen, aus dem inneren Kampf zwischen eigenem Impuls und dem Vorgegebenen kann sich in der Synthese eine Neuorientierung ergeben, für den Mönch in der Krise manchmal eine echte Überraschung.“ Das gilt auch für Laien, die zu Einkehr und Einzeit im Exerzitienhaus Quartier beziehen.

Zur Identität des Ordens zählt seit jeher der gregorianische Gesang, der während der täglichen Stundengebete und der Eucharistie gepflegt wird. Im Kloster leben professionelle Kirchenmusiker, die die Fratres in der Sanges- und Rezitationskunst unterweisen; die exzellente Akustik der Klosterkirche trägt den Klang auch ohne Verstärker. Das Ergebnis ist ein vollendeter Gesang aus vielen Kehlen, der wie eine einzige Stimme daherkommt und dabei die unterschiedlichen Sänger und Tonlagen unterscheiden lässt. Wenn die Litanei von der Orgel begleitet wird, lässt das Instrument die irdischen Töne schweben, die sich auf den Steinen ablagern.

In den 1910er Jahren wurde mit dem Bau eines Hotels neben der Abtei nach Plänen des Architekten Pater Ludger Rincklake OSB begonnen. Das Haus wurde aus für Westfalen typischen roten Klinkern errichtet, Sockel, Türen und Fenster sind im blassen Sandstein eingefasst. In den 1920er Jahren wurde das Gebäude zum Exerzitienhaus Ludgerirast umgewidmet, um die Gäste der Abtei angemessen unterbringen zu können. Sie finden bis heute Aufnahme in Klausen ohne Telefon, Internet und Fernseher, leiblichen Hunger und Durst stillen sie im Speisesaal mit klarem Wasser und frischen Gerichten aus regionalen Zutaten.

Das Gästehaus wurde, um der steigenden Nachfrage Rechnung zu tragen, Mitte der 1960er Jahre um einen Anbau vergrößert, in dessen Erdgeschoss eine vorbildlich bestückte Buch- und Devotionalienhandlung eingerichtet ist. In den 1980er Jahren erfuhr das Ensemble eine bis heute prägende Erweiterung. Der im nahen Dülmen ansässige Architekt Josef Paul Kleihues realisierte das Jugendgästehaus Sankt Benedikt und die Klostergaststätte sowie die Kapelle im Exerzitienhaus als Scharnier zwischen altem und neuem Gebäudeflügel.

Die gegenwärtig knapp 40 Gerlever Mönche geben gemäß der Regel des heiligen Benedikt von Nursia (480 – 560) der Gastfreundschaft einen hohen Stellenwert, ihnen sind Menschen aller Bekenntnisse und Weltanschauungen willkommen – man begegnet einander in einer Haltung wechselseitiger Billigung. In Ludgerirast werden rund ums Jahr spirituelle Angebote unterbreitet, von der Trauergruppe und dem Mutter/Tochter-Wochenende über die Bibelexegese und das rituelle Fasten bis zum Achtsamkeitsseminar für Führungskräfte und der Aquarellmalerei. Diese Bildungs- und Kulturarbeit trägt längst zum wirtschaftlichen Fundament des Klosters bei; die ursprünglich wichtige Landwirtschaft findet dagegen, weil unrentabel geworden, nur noch symbolisch statt.

Das Geschenk, das die Abtei Gerleve ihren Besuchern (m/w/d) über alle Feste im Jahreskreis hinweg macht, ist das Verblassen der Sorgen und das Vergessen der Fragen, mit denen beladen sie kommen. Die Lösungen aller Probleme beginnen mit dem Zuhören und der Kontemplation, Antworten lassen sich paradoxerweise im Schweigen finden. Dazu passt es, dass im Exerzitienhaus regelmäßig Sesshins abgehalten werden, angeleitet von einem Benediktiner – das absichtslose Staunen gehört zur spirituellen Erfahrung des katholischen Glaubens wie des Zen.

Aaseestadt

Die Luft ist kalt und klar, frisch wie auf dem Land, im Sommer betörend wie im Blumenbeet. Beim adventlichen Spaziergang durch das ruhige Quartier kommt die Flaneurin an etlichen weihnachtlich geschmückten Häusern vorbei. Sie kann sich treiben lassen entlang der vielen Hecken und Stauden, kaum ein Auto kreuzt ihren Weg und die wenigen Passanten grüßen freundlich. Die Aaseestadt im Südwesten Münsters ist ein Westfalen en miniature, der üppige Garten ist ein gutes halbes Jahrhundert alt.

Wie so viele deutsche Städte wurde die alte Hansestadt Münster im II. Weltkrieg schwer zerstört, rund 90 % der Innenstadt wurden durch Fliegerangriffe in Trümmer gelegt. In der Nachkriegszeit entschied sich der Rat der Stadt klugerweise für eine Rekonstruktion der historischen Patrizierhäuser mit den typischen Giebeln zwischen Überwasser und Lamberti; gleichzeitig galt es, rasch Unterkünfte für die Ausgebombten und Flüchtlinge zu schaffen. Am südwestlichen Stadtrand lag eine weitgehend unerschlossene Brache aus Feldern, Wiesen und Gehöften. Hier begann Mitte der 1950er Jahre das Keimen der später sogenannten Aaseestadt, einem grünen Viertel zwischen Koldering und Autobahnanschluss.

Heute ist das Areal durch die Flurbereinigung der 1970er Jahre und das anhaltende Wachstum der Domstadt (gegenwärtig 313.000 Einwohner (m/w/d)) längst Teil des Stadtganzen. Reihenhäuser aus dunkelrotem Klinker dominieren die Siedlung farblich und baulich, ergänzt um dreigeschossige Riegel mit Mietwohnungen, die umflossen werden von ausladenden Grünanlagen, in denen Kaninchen heimisch sind. Eingestreut erheben sich umgestaltete Bauernhäuser und zurückhaltende Stadtvillen. Das Quartier ist mit dem Fahrrad, dem bevorzugten Verkehrsmittel der Bevölkerung, in einer Viertelstunde vom Zentrum aus erreichbar.

Im Alltag liegt über dieser Kolonie der Bürgerlichkeit eine schläfrige Stimmung, die durch Lachen aus der Kita, Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes in den Baumkronen sowie das Rattern der Rasenmäher akustisch begleitet wird. Die Erstbewohner der Aaseestadt, die Anfang der 1960er Jahre ihre Eigenheime bezogen, sind im Pensions- resp. Pflegealter, wovon neben den Bugaboos der Enkelkinder die Rollatoren auf den Bürgersteigen künden. Im Zuge des Generationenwechsels werden die über 50 Jahre alten Häuser sukzessive entkernt und auf Barrierefreiheit geeicht, freigelegte Grundstücke werden unter dem Gebot der Nachverdichtung mit zusätzlichen Einheiten bestückt.

Die begehrte Adresse dient primär dem Wohnen, das vorgeschriebene Tempo 30 auf den Straßen wird umstandslos eingehalten. Wiewohl am Reißbrett entworfen und binnen weniger Jahre auf westfälischem Acker gezogen, hat sich die Siedlung zu einem organischen Ganzen entwickelt, das angesichts komplexer urbaner Konflikte um Arbeiten, Erholung, Konsum und Verkehr erstaunlich harmonisch wirkt. Der namensgebende Aasee, Anfang der 1970er Jahre künstlich auf das Doppelte seiner Fläche vergrößert und zwischenzeitlich mit Exponaten verschiedener Skulptur-Ausstellungen kulturell angereichert, ist fußläufig bequem zugänglich. An seinem nördlichen Ufer liegen das Freilichtmuseum Mühlenhof und der Allwetterzoo Münster.

Das Idyll der langsamer als andernorts vergehenden Zeit wird sprachlich gestört, die Straßen tragen die Namen von Widerstandskämpfern im III. Reich: Stauffenberg und Ossietzky, Klausener und Bonhoeffer, Scholl und Beck, Delp und Goerdeler. Die katholische Kirche Sankt Stephanus, im Dezember 1965 geweiht, ist dem ersten Märtyrer des Christentums (Apg 7,54-60) gewidmet und feiert am Zweiten Weihnachtstag ihr Patronatsfest. Der von außen abstrakt an ein Schiff gemahnende Bau fügt sich mit seinem Klinkermantel visuell gut ins Viertel ein, sein Inneres birgt eine kleine Sammlung kostbarer Ikonen. Der einen Steinwurf entfernt befindliche Aaseemarkt, ein Wohn- und Geschäftszentrum der 1970er Jahre, wurde in den letzten Jahren unter Belassung der Leihbücherei modernisiert; die drei Hochhäuser (Baujahr 1959) an der nahen Torminbrücke wirken wie Denkmäler einer zukunftsfrohen Epoche.

Am südlichen Rand der Aaseestadt liegt hinter Bäumen verborgen das Kloster Canisius, auf dessen weitläufigem Gelände mit den Jahren längst Wohngebäude entstanden sind; eine benachbarte Grundschule ist nach dem VI. Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker benannt. Bauliche Zugeständnisse an die Moderne in diesem Hort des Konservativen sind etwa Sonnenkollektoren auf den Spitzdächern, Wärmedämmungen an den Außenwänden und Carports neben den Tonnen zur Mülltrennung. Im Norden des Viertels schließlich zeigt eine regionale Versicherung mit ihrer Zentrale aus Glas, Stahl, Carbon und Licht architektonisch Flagge.

Neben den Traditionen des Handels, des Handwerks und der Landwirtschaft weiß sich die Provinzhauptstadt Münster auch der Verwaltung, der Wissenschaft und dem Klerus verpflichtet. Das alte Geld des westfälischen Adels residiert in Mauritz im Osten, die lokale Kreativbranche agiert in Lofts am gentrifizierten Hafen, das an der Promenade gelegene Kreuzviertel mit seinen Jugendstilfassaden ist eine Domäne der Praxen und Kanzleien, prekäre finanzielle und ethnische Verhältnisse finden sich in Coerde und Kinderhaus am Nordrand. Die gediegene Aaseestadt mit ihrer homogenen Sozialstruktur bei hoher Beamtendichte ist noch am ehesten repräsentativ für die ganze Westfalenmetropole. So geht Lebensqualität.

Charlotte

Charlottenburg ist kein richtiger Szenebezirk, nicht hip, nur in Maßen chic, vielmehr solide. Doch die seltenen Pflanzen wachsen gerade auf einer Wiese des Gewöhnlichen. Wer offenen Sinnes durch das Quartier zwischen Schloss und Amtsgericht streicht, trifft auf Menschen, die sich stur den Zurichtungen des Alltäglichen widersetzen. Womöglich schon ein Leben lang, wie eine Wiedergängerin der legendären Charlotte von Mahlsdorf.

Die erste Begegnung muss im Sommer gewesen sein. Ich verlasse eine Buchhandlung am Klausenerplatz und trete auf das Trottoir der schmalen Straße, von Platanen im vollen Wuchs beschattet; eine Gegend zum Spazieren und Radfahren. Ich wende mich Richtung Lietzensee, als eine hochgewachsene Frau mir entgegen kommt. Das kinnlange Haar dünn und friedhofsblond, die faltige Haut an den Unterarmen rosig, die 7/8-Hose mit den ausgestellten Beinen und der hohen Taille betont die schlanke Figur und die Fesseln einer Ballerina. An den Füßen Riemchenpumps mit halbhohem Absatz, in der Linken eine schlichte Handtasche schlenkernd.

Alte einsame Frauen wohnen durchaus im Kiez, aber keine geht so aufrecht mit gestrecktem Rücken ihrer Wege. Die dunkle Bluse mit durchbrochener Spitze vor dem Dekolleté sieht nach Flohmarkt aus, der leichte Bolero mit Ärmeln bis zum Ellbogen ist vom häufigen Waschen verblasst. Als wir einander stumm passieren, sehe ich unvermittelt, dass ihre Brust ganz flach ist, der Schädel androgen gelichtet, die Hüften knabenhaft schmal im Verhältnis zu den Schultern. Ihr herber Dunst wirkt maskulin, mit Alterssüße versetzt.

Ich widerstehe dem Impuls, ihr hinterher zu sehen. Mir leuchtet ein, dass ihre straffe Haltung sowohl eine des Stolzes als auch der Verteidigung ist. Ich bin berührt und fühle mich über eine unsichtbare Grenze geschoben, des Geschlechtes wie der Zeit. In einer coolen Bar in Kreuzkölln oder Schöneberg hätte mich eine solche Erscheinung nicht überrascht, aber hier im noch nicht gentrifizierten, klein- bis gutbürgerlichen Herzen Charlottenburgs am helllichten Tag? Noch dazu im hohen Rentenalter?

Heute ist es ja in akademischen Kreisen Konsens, der geschlechtlichen Vielfalt schriftlich Rechnung zu tragen mit dem Gender-Sternchen (etwa in „Freund*innen“), das auf ein Spektrum zwischen den Polen Mann und Frau verweist. Aber die Dame in Braun, Beige und Schwarz, als die ich sie fraglos erlebe, hatte ihre Blüte Jahrzehnte vor der Etablierung ambitionierter Programme wie Diversity Management oder Queer Proceeding; als Trans* avant la lettre hat sie Räume vermessen, in denen sich Generationen später allerlei Geschlechter bewegen.

Mir fällt spontan Charlotte von Mahlsdorf (1928 – 2002, offiziell Lothar Berfelde) ein, die als Hausfrau in Kittelschürzen und Seidenstrümpfen lebte, starke Männer liebte, freiberuflich als Konservatorin arbeitete und in der DDR privat ein Museum mit Möbeln und Haushaltsgegenständen der Gründerzeit in einem ehemaligen Gutshaus am Berliner Stadtrand betrieb. Als sie Anfang der 1990er Jahre die Autobiografie „Ich bin meine eigene Frau“ veröffentlichte, kam sie zu spätem Ruhm, an dem auch die jahrelange erzwungene Tätigkeit als IM für das MfS nichts änderte. Charlottes Leben wurde verfilmt, ihr wurde das Bundesverdienstkreuz verliehen. Auf Lothar passte, so fand ich stets, die viel zitierte Formel der weiblichen Seele in einem männlichen Körper.

Ich habe keine Ahnung, wie Lottchens Cousine vom Lietzensee sich geschlechtlich identifiziert. Sicher aber wird sie ihre bitteren Erfahrungen mit einer Gesellschaft gemacht haben, die Abweichungen von der Norm der Heterosexualität bis 1969, als der § 175 StGB vom Deutschen Bundestag entschärft wurde und männliche Homosexualität unter Erwachsenen nicht länger als strafbar galt, gnadenlos kriminalisierte und bis in die Gegenwart bestenfalls als Partygag beim CSD durchgehen lässt. In diesem Sinn kommt sie mir wie eine Überlebende vor, solitär und resilient.

Und dann sehe ich sie unvermutet im Winter wieder, als mir die elfenhafte Gestalt einer Garçonne mit der schlohweißen Tonsur an der Bushaltestelle auffällt. Ich kreuze im Windschatten ihres glockigen, mit Pelz verbrämten Mantels die Straße, ein Hauch von Kölnisch Wasser zieht hinter ihr. Ich muss mich anstrengen, mit ihr Schritt zu halten; sie wird in ihrem Leben manches richtig gemacht haben, um diesen elastischen Lauf über die Jahre sich zu bewahren. Sie folgt dem Ufer des Lietzensees, das den Blick auf die hellgraue Kirche Sankt Canisius auf der anderen Seite des Sees freigibt.

Was soll dieses Stalking? Was erwarte ich, außer dass ich ihr ein Kompliment für was auch immer machen möchte? Als die nächste rote Ampel sie zum Stehenbleiben nötigt, spreche ich sie lächelnd an: „Bitte entschuldigen Sie, ich finde Sie sehr schön.“ Ihre Antwort aus einem sich verhärtenden Gesicht kommt sofort: „Was soll das, lassen Sie mich in Frieden!“ Sie wendet abrupt den Kopf ab und beschämt mich wie eine beim Rauchen ertappte Göre. Sie kann mich, eine Schwester im Geiste, doch nicht ernstlich als Bedrohung empfinden?! Doch sie steht für sich, und ich bleibe mit meiner Aufdringlichkeit allein.

Laufen

Wer stets auf ideale Bedingungen wartet, wird es niemals zu etwas bringen. Im Mai läuft es sich wie von selbst, im Dezember fällt es sichtlich schwerer, die Laufschuhe zu schnüren. Dabei ist das Laufen im Wald gerade im Winter von verborgenem Reiz.

Nach einer Kanne Grünen Tees und einigen Bissen Obst zum Frühstück ziehe ich meine Laufkleidung an und schlüpfe in meine gelbgrünen Asics. Als ich auf mein Rad steige und in Richtung Wald losfahre, trifft mich der Wind im Gesicht wie ein Schnitt, die dichte Wolkendecke lässt die Sonne nur erahnen. Es dauert nicht lange, und mein Körper findet seinen Rhythmus, die kleinen Kraftwerke in den Muskeln springen an und produzieren wärmende Energie. Als ich nach zwanzig Minuten mein Rad am Waldesrand abstelle, sind Waden, Schenkel, Rumpf und Schultern gut durchblutet und trotzen den Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt.

Auf den ersten fünfhundert Metern der Strecke wirke ich ein wenig eckig, mit den Schritten kommt peu à peu ein flüssiges Muster in meine Bewegungen. Mein Atem dampft vor meinen Augen, meine langen Haare wippen auf und ab im Pferdeschwanz, meine Arme sind rechtwinklig gebeugt und schwingen asynchron zu den Beinen. Ich komme rund ums Jahr in den Wald und laufe eine ausgedehnte Runde, die ich je nach Lust, Form und Zeit in der Länge und im Verlauf variieren kann.

Dabei ändert der Wald im Wandel der Jahreszeiten sein Gesicht. Im Frühling explodiert er förmlich, wenn die Blätter knospen, die Gräser duften, tausend Versionen von Grün die Bäume kleiden und die Vögel ihr Konzert zur Saisoneröffnung geben. Zum dunklen Jahresende kommt mir der Wald nackt und geschrumpft vor, die Stämme stehen weit auseinander und ragen wie dürre Rippen gen Himmel, alle Farben sind gewichen, ein schmutziges Graubeige bleibt zurück. Das Geräusch meiner Schuhe klingt laut wie ein Klatschen, weil es durch kein Blattwerk in den Zweigen gedämmt wird.

Ich passiere eine sommers beliebte Badestelle am See, meine Anatomie arbeitet verlässlich, meine Bronchien schmerzen nicht länger mehr vor Kälte. Der Wald ist eine Hohe Schule der Kinästhesie, da die Beschaffenheit des Bodens sich stetig ändert. Mal sind es geschotterte Wirtschaftswege, die an den Rändern abfallen, dann haben Gravelbikes mit ihren profilierten Reifen den Humus fast abgetragen, sodass der Sand der Mark hindurch scheint. Dann reihen sich Steigungen an Senken, ich wechsle unwillkürlich auf den Vorfuß, um mich besser abdrücken zu können.

Schließlich gelange ich auf weiche Erde, die von vertrockneten Nadeln bedeckt ist und meine Knie elastisch federn lässt. All das vollzieht sich vom Kopf ungesteuert, es ist mein Leib, der auf das unebene Terrain intelligent reagiert und den passenden Schritt findet. Dieser fein entwickelte Laufsinn lässt mich das Beugen und Strecken der Gelenke ebenso klar erleben wie die monotone Stützarbeit der Bauch- und Lendenmuskeln sowie den Sauerstoffaustausch über die Lungen.

Ich habe die Phase erreicht, wo mein Hirn von Endorphinen geflutet wird. Ich gerate in eine Stimmung des reinen Geschehenlassens, die keinen Ehrgeiz und Willen mehr kennt. Nicht nur die Stille des Vormittags ist eine andere ohne die Vögel, auch die Entfernungen im Raum und damit das Verstreichen der Zeit nehme ich im Winter anders wahr. Die Reduzierung der Sinnesreize schärft meine Aufmerksamkeit für den Körper, mit jeder Faser spüre ich den aufrechten Gang, der dem Menschen so genehm ist, anders als das geklappte Sitzen am Schreibtisch, das echsenhafte Kleben am Fels oder die horizontale Streckung im Wasser.

Eine Brache öffnet sich vor mir, die mir noch größer vorkommt als im Sommerlicht, weil die blättrige Einhegung fehlt. Und genau in diesem Moment kommt mir ein Läufer entgegen, den ich insgeheim für die Effizienz und Leichtigkeit seines Stils bewundere. Er bewegt sich mit der Eleganz einer Gazelle, sein Kniehub ist ökonomisch vorbildlich, unter den Sohlen scheint er Sprungfedern zu haben, als sei er der Wiedergänger Paavo Nurmis. Ein stummer Gruß, und schon ist er wieder weg.

Längst habe ich vergessen, dass es diesig ist und kalt, in mir glimmt ein Feuer, das mich ruhig weiterlaufen lässt. Der letzte Abschnitt der Strecke erheischt meine besondere Aufmerksamkeit; automatisch nehme ich etwas Tempo heraus, ist der Weg doch schmal und stark überwurzelt, immer wieder sammelt sich Wasser in größeren Pfützen. Das faulende Laub am Boden ist zu einer rutschigen Decke geworden, die Steine und Löcher tückisch verdeckt; ich tänzle und springe mehr, als dass ich laufe, dabei mit geöffneten Armen die Balance haltend.

Unterm Strich eine dankbare Technikübung, dürfen meine Zehen, Ballen, Sprunggelenke, Achillessehen, Kreuzbänder und Menisken auf schnell wechselnde Untergründe reagieren. Die ganze kinetische Kette ist auch am Schlusssprint über den Parkplatz am Waldrand beteiligt, die Schrittlänge weitet sich, die Bizeps holen Schwung, die Hüfte ist leicht gebeugt, der Puls schnellt hoch. Ich begrüße mein Rad mit einem Klopfen des Sattels, ziehe meine Handschuhe und Windstopperjacke wieder an und fahre gleich los, um nicht auszukühlen. Beim Tritt in die Pedale, der einer Massage der Knie gleichkommt, blinkt nur ein Gedanke: Ich laufe, weil es geht.

Urban

Das 21. Jahrhundert wird zum Zeitalter der Städte werden. Die Vereinten Nationen schätzen, dass im Jahr 2050 rund 9 Milliarden Menschen die Erde besiedeln werden, davon werden etwa 75 % in urbanen Ballungen leben. Im Jahr 2007 lag der Anteil der Stadtbevölkerung global bei 50 %, im Jahr 1900 betrug er erst zehn Prozent. Der Siegeszug der Stadt als Lebensort und Daseinsform erzwingt, dass so verschiedene Aktivitäten wie Wohnen, Arbeiten, Sport, Kultur, Handel, Erziehung, medizinische Versorgung, Tourismus und Verkehr auf begrenztem Raum organisiert werden müssen.

„Urban“ heißt wörtlich zur Stadt gehörend, städtisch; im übertragenden Sinn meint es weltläufig, gewandt (vom Lateinischen urbs = Stadt respektive urbanus = fein, gebildet). Ihm gegenüber steht der Begriff des „Ruralen“, des Ländlichen. Historisch gesehen vollzogen sich die Paradigmenwechsel gesellschaftlicher Entwicklung im urbanen Kontext: In der Antike stand die Polis für die Muße der Elite, im Mittelalter forcierte Urbanität die Emanzipation des aufstrebenden Bürgertums, das 19. Jahrhundert sah die normierte industrielle Produktion, in der fragmentierten Großstadt der Gegenwart lauten die Stichworte Integration und Differenz.

Mit seinem Buch „Städte für Menschen“ (Original 2010, deutsche Fassung 2015) zieht der dänische Architekt und Stadtplaner Jan Gehl (* 1936) eine Bilanz seines 50 Jahre währenden Schaffens in der Stadtentwicklung von Kopenhagen über Vancouver bis Melbourne. Er ist davon überzeugt, „dass urbane Strukturen und Stadtplanung das Verhalten der Menschen beeinflussen und die Art bestimmen, wie Städte funktionieren“. Sein Schlüsselbegriff bei der Planung resp. Neugestaltung ganzer Quartiere lautet Menschliches Maß, das im Zuge der Errichtung der autogerechten Stadt seit den 1950er Jahren verloren gegangen sei. Für sein Engagement erhielt Jan Gehl jüngst den Julius Posener Preis 2018.

Gehls Ansatz als Architekt und Stadtplaner ist ein anthropologischer. Der bebaute Stadtraum mit seinen Häusern, Straßen und Plätzen ist ein Ort für Begegnungen unter Menschen, die eine weitgehend konstante Körperlänge, ein eingeschränktes Gesichtsfeld und ein gattungsgemäßes Tempo beim Gehen behalten. An diesen Parametern habe sich urbanes Gestalten zu orientieren. Beim Gehen mit etwa 5 km/h registrieren Menschen Details um sich herum, sie erkennen Gesichter und Gesten, sie hören und riechen ihre Umgebung, ihr Hirn hat Zeit zum Verarbeiten der Informationen. Das gilt auch für das Radfahren mit 20 km/h, keinesfalls aber mehr für das Autofahren mit 50 km/h und schneller.

Die ideale Stadt nimmt sich die sinnlichen Eindrücke der Fußgänger und Radfahrer zur Referenz. Tatsächlich aber ist in vielen Metropolen der Erde das Auto mit seinem ungebremsten Flächenhunger nach Fahrbahnen, Parkplätzen, Tankstellen und Werkstätten die Dominante, der sich andere Mobilitätsformen zu unterwerfen haben. Eine Katastrophe ist für Gehl Brasilia, das aus der Vogelperspektive wie ein Adler mit Kopf und Schwingen durchaus ästhetisch daherkomme, zwischen dessen gewaltigen Blöcken mit ihren gigantischen Abständen sich aber kaum ein Mensch freiwillig aufhalte. Weitere Negativmuster liefern Los Angeles und Dubai, deren Straßen sich lediglich für den Autoverkehr eignen.

Vorbilder menschengerechter Strukturen zeigen hingegen Siena und Venedig. Die Piazza del Campo in der Toskana misst 135 mal 90 Meter, eine Fläche, die das menschliche Auge gerade noch sicher erfasst. Bänke, Sockel, Nischen und Poller bieten den Menschen die Möglichkeit zum Sitzen oder Anlehnen und stiften neben Komfort auch Sicherheit – in der Folge ist der Platz stets belebt. Venedig, ebenfalls vor gut 700 Jahren angelegt, ist komplett für den Fußverkehr gebaut, die kurzen Wege führen über eine einzige Bühne mit zahlreichen Brücken und Plätzen. Hier wird das Gehen nicht dauernd durch rote Ampeln und lästiges Warten an windigen Kreuzungen unterbrochen.

Laut Gehl ist es elementar, dass eine umsichtige Stadtplanung den Menschen Einladungen zum Laufen und zum Radfahren ausspricht, dabei Kinder und Senioren mit ihren Ansprüchen mitbedenkend; eine Priorisierung des ÖPNV geht damit einher. Das erheischt zum einen eine passende Infrastruktur mit breiten Trottoirs und ebenen Radwegen, die regelmäßig gewartet, abends gut beleuchtet und im Winter vom Schnee geräumt werden, zum anderen eine visuell reizvolle Gestaltung der Fassaden der Erdgeschosse. Geschäftszeilen mit bis zu 20 Türen auf 100 Meter, farblich und ornamental rhythmisiert, werden viel häufiger aufgesucht als eine monoton abweisende Gebäudefront ohne Fenster: „Der Kampf um Qualität findet im Kleinen statt.“

Eine Stadt auf Augenhöhe, für deren Design Gehl zwölf Qualitätskriterien sowie Best-Practise-Beispiele vornehmlich aus Skandinavien benennt, ist lebendig, sicher, nachhaltig und gesund. Sie nimmt die Bedürfnisse ihrer Bewohner (m/w/d) ernst und macht ihnen Offerten zum Schauen, zum Verweilen und zur Interaktion. Dazu muss die Privilegierung des Autoverkehrs mit seinen monströsen Betonschneisen durch dicht besiedelte Wohnviertel aufgehoben werden. Eine drastische Reduzierung der PKW verbessert die Luftqualität, mindert den Lärm, schafft Platz für Bäume und verringert die Unfälle. Das gilt für die alten Städte Europas ebenso wie für die wuchernden Agglomerationen Asiens und Afrikas.

Im Diskurs der Architektur stehen oft die Leuchtturmprojekte berühmter Büros im Mittelpunkt, ohne den Fragen nachzugehen, wie sich ein Museum, ein Stadion oder ein Hotel in die städtische Umgebung einfügen, was sie zum Funktionieren einer Stadt beitragen und wie sie mit den Menschen kommunizieren. Jan Gehl plädiert dafür, bei der Stadtplanung vom humanen Bios auszugehen, hin zum sorgfältig studierten Verhalten im Raum zu kommen und erst dann mit den Überlegungen zum Bauen anzusetzen. Unter dieser Prämisse hat die Stadt gute Chancen, Treiber sozialer, kultureller, ökonomischer und technischer Entwicklungen zu bleiben, wie seit den Anfängen im sumerischen Ur im Zweistromland (Gen 11,31) vor 6.000 Jahren.

Kerze

Die senkrechte Flamme, milde zitternd, ist wenige Zentimeter hoch. Der blaue Streifen am unteren Ende geht abrupt in ein leuchtendes Weiß über, nach oben hin verjüngt sie sich zuspitzend. Der brennende Docht ist die Nabelschnur zum Kerzenkörper aus Bienenwachs, der das gezähmte Feuer nährt und sich dabei langsam selbst verzehrt. Brennt die Kerze lang genug, wird ihre Oberfläche rund um den Docht flüssig, im schmelzenden Wachs spiegelt sich der Flammenschein. Materie wird in Licht und Wärme transformiert.

Es ist unmöglich, den Blick nicht zu einer brennenden Kerze zu wenden, stehe sie nun in einer Kirche, auf der Fensterbank oder im heimischen Wohnzimmer. Ist sie die einzige Lichtquelle, hebt sie die Gegenstände ihrer näheren Umgebung aus dem Dämmer und spendet dem Raum Wärme und Behaglichkeit. Flackert die Flamme im Luftzug, fangen die Schatten, die sie werfen lässt, an zu tanzen. Hat sich das Auge an das schummrige Licht gewöhnt, nimmt es die Schlieren und Schattierungen im Stumpen wahr, der von innen heraus zu leuchten scheint.

Katholische Christen (m/w/d) empfangen zum Sakrament der Taufe eine Kerze und beten für ihre Verstorbenen, dass ihnen das ewige Licht leuchten möge. Im November stellen sie Kerzen in die Laternen auf den Gräbern und begrüßen im Schimmer des Advents das Kommen ihres Erlösers. Zur Feier des Geheimnisses ihres Glaubens entzünden sie zum Fest der Auferstehung die Osterkerze. Der Schöpfungsbericht der Genesis nimmt seinen Anfang mit der Scheidung von Tag und Nacht (Gen 1,3-5); das Evangelium feiert die Magie des Hellen poetisch: „Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Joh 1,5)

Ein stärkeres Symbol des Lebens, seines Werdens und Vergehens ist kaum vorstellbar. Die Kerze als das Maß der Zeit, die dem Menschen bleibt, ohne dass er um ihre exakte Dauer wüsste. Das Schauen einer Kerze beim gleichmäßigen Brennen und Leuchten stiftet Konzentration wie Besinnlichkeit, sie ist eine Brücke zum Reich der Seele. Die Hitze ihrer Flamme verstärkt den Geruch des goldgelben Wachses. Erlischt sie schließlich zuckend, nachdem sie ihren Brennstoff komplett verbraucht hat, gibt sie im Sterben eine züngelnde Rauchsäule ab. Der Duft der Kerze hängt Stunden später noch im Raum.

Handwerk

Die genaue Bedeutung eines Begriffes ergibt sich seiner scheinbaren Klarheit zum Trotz oft erst aus der Präzisierung im Kontext. Das „Handwerk“ steht im Mittelhochdeutschen für ein Gewerbe, das in einer Zunft oder einer Gilde organisiert ist, vornehmlich zum Zwecke der Marktabschottung. Bis ins 18. Jahrhundert wird es als Synonym für das Gewerk benutzt, das die Teilhabe an einem Bergwerk meint. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts werden beide Begriffe auch auf andere Branchen ausgedehnt.

Vom Handwerk ist in der Gegenwart die Handarbeit deutlich zu scheiden, obwohl beide Termini im Mittelalter gleichlautend verwendet wurden. Während jenes für das Tischlern, das Malern, das Backen oder das Schmieden gilt, zielt diese auf das Stricken, das Sticken oder das Häkeln. Hier verläuft die Differenz entlang des Berufs zum Zeitvertreib: Das Werk klingt männlich wichtig, die Arbeit weiblich schmückend. Das Œuvre wird eindeutig höher geschätzt als die Arbeit – so wird etwa vom Werk eines Künstlers in Bezug auf sein gesamtes Schaffen gesprochen.

Das Handwerk wird im digitalen Zeitalter mit seiner paradoxen Sehnsucht nach dem Ursprünglichen als Ausdruck einer Tradition gefasst, die einen Wert an sich vermittelt, was sich an den Redewendungen rund um den Terminus ablesen lässt: Jemandem ins Handwerk pfuschen respektive das Handwerk legen oder auch sein Handwerk verstehen. Weiter gehören zum Handwerk das Klappern und der goldene Boden. Dem fertigen Produkt der tätigen Hände haftet etwas Ehrliches, Unvermitteltes an, das per se Anerkennung verdient.

Gleichwohl steht das Handwerk in der Hierarchie der Professionen in Konkurrenz zur akademischen Kopfarbeit, erst recht, seit der kleine Manufaktur-Betrieb durch eine anonyme Industrie ersetzt worden ist. Im Vergleich zu dieser gilt es als anstrengend, schmutzig und monoton. Wenn etwa von kreativen Berufen die Rede ist, sind jene abstrakten Tätigkeiten gemeint, die durch Denken, Überlegen und Sprechen gekennzeichnet sind. Dessen ungeachtet ist der Erbauer (m/w/d) einer Geige ebenso schöpferisch tätig wie der Komponist und der Interpret einer Sonate – das Instrument bleibt, das Musikstück ist volatil.