Gernhardt

Schon die Titel seiner Bücher lassen aufhorchen: Die Blusen des Böhmen, Im Glück und anderswo, In Zungen reden oder Reim und Zeit. Hier wird munter aus der Tradition zitiert und diese zugleich verballhornt. Die Texte spielen mit den Erwartungen der Leserschaft und durchkreuzen sie behende – dieses Motiv zieht sich durch das dichterische Schaffen Robert Gernhardts, einem nie so ganz ernstgenommenen Autor, der gern das zweifelhafte Label des Humoristen trug.

Robert Gernhardt wurde 1937 in Tallinn geboren. Der Sohn eines Richters und einer Chemikerin wuchs in Göttingen auf und studierte Malerei und Germanistik in Stuttgart und Berlin; er begann in den frühen 1960er Jahren als Karikaturist der Zeitschrift Pardon. Anschließend arbeitete er als freier Schriftsteller, Redakteur und Zeichner in Frankfurt am Main und in der Toscana, wo er 1972 ein Haus gekauft hatte. Zusammen mit seiner Frau Almut illustrierte er Kinderbücher, für die Filme des Komikers Otto Waalkes verfasste er Drehbücher. 1980 zählte er zu den Mitbegründern des Satire-Magazins Titanic, sein Werk wurde mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. Robert Gernhardt starb 2006 in Frankfurt am Main an Krebs, wo er mit seiner Frau begraben liegt.

Unverwechselbar ist seine Lyrik, die sich formal virtuos an Metrik, Reim und Versmaß orientiert, inhaltlich zwischen Parodie, Komik, Tiefsinn und Kulturkritik changiert. Seine Oden kommen in den ersten Strophen oft leise und harmlos daher, um zum Ende hin unversehens ins Gallige zu kippen, wie in Zurück zur Unnatur: „Zurück aus dem Wald / wo Blätter verkümmern / Kronen sich lichten / Äste verdorren / Rinden aufplatzen / Stämme hinstürzen – / Beute des Sturms / Opfer des Fortschritts / Geiseln des Wandels / Treibgut der Zeit. // Zurück in der Stadt / wo strahlende Wände / den Himmel verstellen / und ihn verdoppeln – / Türme aus Glas / Spiegel des Wechsels / Stelen aus Licht / Monumente der Dauer: // Wer möchte leben / ohne den Trost der Hochhäuser!“

Dass Lyrik eine besonders verdichtete und gefühlige Gattung sei, wird Robert Gernhardt umstandslos unterschreiben; dass sie zuerst für Wohlbehagen und Erbaulichkeit zuständig sei, beiläufig dementieren. In seinen Stimmenimitationen von Gott bis Jandl nimmt er sich forsch etwa Platon, Dante, Goethe, Wilhelm Busch und Thomas Mann vor, schreibt deren literarischen Klang veralbernd weiter und macht sich über ihre Themen durch Übertreibung lustig. Vor seinem anarchischen Beifall ist auch das Neue Testament nicht sicher: „Paulus schrieb an die Apatchen: / Ihr sollt nicht nach der Predigt klatschen. // Paulus schrieb an die Komantschen: / Erst kommt die Taufe, / dann das Plantschen. // Paulus schrieb den Irokesen: / Euch schreib ich nichts, lernt erst mal lesen.“

Gernhardts Zeilen nehmen die Beflissenheit des Kulturbetriebs, der Habitus über die laufenden Regalmeter Buch definiert, liebevoll aufs Korn, weiß sich der Dichter doch als Teil des skizzierten Milieus der Literaten, Rezensenten, Bohemians und Impressarios (m/w/d). Bei allem Geplänkel wird Robert Gernhardt nie ekelhaft, er schreibt und zeichnet immer auch ideell für Kinder und Jugendliche. Wer seine Gedichte laut liest, um das Vergnügen an ihnen zu steigern, wird vermutlich vor lauter Lachen nicht in einem Rutsch bis zur Pointe kommen. Es dürfte dieses Element der Närrischen gewesen sein, das Gernhardt trotz seines dichterischen Könnens nie zu einem Kandidaten für den Büchner-Preis hat werden lassen.

Doch wer Gernhardt ob seines Witzes für zu leicht befindet, hat ihn entweder nicht zu Ende gelesen oder nur zur Hälfte verstanden. Der erklärte Genießer sprachlicher wie kulinarischer Freuden entlarvt die Pose des hohen Ernstes, die im Feuilleton als Gütesiegel des wahren Werkes geführt wird; auch Poeten haben Verdauung und Verstopfung, auch alternde Künstler begehren attraktive Frauen, auch Possenreißer sehnen sich nach Mäzenen. Bei aller Bildung und beruflichem Erfolg unterläuft ihm nicht der Fehler, sich für einen moralisch besseren Menschen zu halten, der sein Publikum insgeheim verachtet – er spottet lieber öffentlich.

Und melancholische Töne findet Gernhardt in seinem Krebsfahrerlied anlässlich seiner Chemotherapie: „Durch die Auen, / durch die Triften / reise ich, mich zu vergiften. // Winde säuseln, / Strahlen blitzen, / bald werd ich am Gifttropf sitzen. // Hügel locken, / Berge blauen, / schon kann ich das Gifthaus schauen. // Durch die Flure, / durch die Weiten / sieht man mich zum Giftraum schreiten, // Um dort über / viele Stunden / an dem Gifte zu gesunden. // Oder auch nicht.“ Auch im Sterben bleibt er sich treu, der Meister des Trivialen, der Schmuck und Alltag so unnachahmlich mischt. Ob er nun die Engel im Deklamieren unterweist? Oder doch die Teufel im scharfen Strich? Zum Glück bleiben seine Gedichte hier.

Hirte

Der Hirt und die Herde gehören dialektisch zusammen. Der Hirt kümmert sich um die Herde, um jedes Mitglied und gleichzeitig um den Gesamtbestand. Verweist die Herde eher auf das Tierreich mit Schafen, Rindern und Antilopen, finden sich die Menschen in der Reihe, in der Gruppe und im Stamm wieder. Diesen wie jenen nimmt sich der Hirte an, er bietet Schutz vor Feinden und weist den richtigen Weg.

Seit jeher ist der Hirte eine eingängige Metapher für Gott. Im Psalm 23 heißt es: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. (…) Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht.“ (Ps 23,1-4) Dieser viel zitierte Vers des Alten Testamentes ist ein Loblied des Vertrauens auf Gott und sein Wirken in der Welt.

In der wissenschaftlich entzauberten Moderne tut der Mensch sich schwer damit, sich bereitwillig als Teil einer Herde zu begreifen. Vielmehr sieht er sich eitel als rational kalkulierendes Individuum, das nüchtern seinen Interessen folgt und geeignete Mittel zum Erreichen seiner Ziele einsetzt. Die Herde, also die amorphe Masse, gilt als übel beleumdet, als Haufen unmündiger Viecher, die vor Einfalt und Schwäche der Führung bedürfen und sich des eigenen Denkens begeben.

Dabei wird gern übersehen, wie das Trachten im Sog der Vielen das Leben auch im aufgeklärten 21. Jahrhundert prägt: Von Tausenden gepriesene Produkte im Online-Shop wirken umso attraktiver, in ihrer Gier lassen die Menschen dubiose Manager ihr Geld irgendwo anlegen und verspielen, hemmungslose Allesversprecher gehen in der Politik erfolgreich auf Stimmenjagd. Nicht einfach, das Bild des Hirten abseits vom Blender und Verführer zu rehabilitieren.

Das Evangelium nimmt die Figur des 23. Psalms auf und präzisiert: „Ich bin der gute Hirt. Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe. Der bezahlte Knecht aber, der nicht Hirt ist und dem die Schafe nicht gehören, läßt die Schafe im Stich und flieht, wenn er den Wolf kommen sieht; und der Wolf reißt sie und jagt sie auseinander.“ (Joh 10,11-12) Die Hingabe des guten Hirten, des Messias geht so weit, dass er sich um eines verirrten, von der Herde getrennten Schafes willen auf die Suche macht und die anderen 99 derweil warten lässt. Jedes Element ist kostbar und einzigartig.

Dieses Doppelbild des Hirten und der Herde illustriert den Kern des christlichen Glaubens. Der Mensch bedarf der Fürsorge, aber nicht durch seinesgleichen, sondern durch Jesus. Es ist eine Gnade, auf Christus vertrauen zu dürfen, ein Geschenk, sich seines Waltens überlassen zu können. Zur himmlischen Herde zu gehören bedeutet nicht, seinem Verstand zu misstrauen, sondern zu akzeptieren, dass es Dinge gibt, die das irdische Streben übersteigen. Der Hirt wird es richten, weil es sein persönliches Anliegen ist, dass es den Schafen, die er allesamt beim Namen kennt, gut geht. Welche Religion könnte mehr verheißen?

Nurmi

Finnland ist ein sportverrücktes Land. Bezogen auf die Einwohnerzahl, zählt es zu den führenden Ländern weltweit, besonders in den Wintersportarten. In den 1920er Jahren dominierten finnische Läufer die noch jungen Mittel- und Langstrecken. Unter den ob ihres enormen Tempos „Flying Fins“ genannten Läufern ragte Paavo Nurmi (1897 – 1973) heraus, der bei den Olympischen Spielen von Antwerpen 1920, Paris 1924 und Amsterdam 1928 neun Gold- und drei Silbermedaillen gewann und reihenweise Weltrekorde aufstellte. Diese sportlichen Erfolge aus der Kindheit der neuzeitlichen Olympiade stehen bis heute singulär in der Leichtathletik.

Paavo Nurmi wurde 1897 im westfinnischen Turku, der ehemaligen Residenzstadt während der schwedischen Herrschaft des Landes, geboren. Sein Vater, ein armer Kleinbauer, starb früh, sodass Paavo als Jugendlicher mit körperlich harter Arbeit zum Familieneinkommen beitragen musste. Seine karge Freizeit nutzte der sportlich talentierte Junge zum Laufen, das nur geringe finanzielle Investitionen erheischte; früh stellten sich regionale und nationale Erfolge ein. Scheinbar nach Belieben beherrschte er die 5.000 und die 10.000 Meter ebenso wie den Hindernis- und den Geländeparcours, manchmal mehrere Rennen pro Tag laufend. Rare Filmaufnahmen aus den 1920er Jahren zeigen Nurmi im Ziel locker und entspannt, während seine geschlagenen Gegner teilweise kollabierten.

Paavo Nurmi wurde zur Identifikationsfigur des erst 1917 von Russland unabhängig gewordenen Finnlands. Seinen sportlichen Ruhm nutzte er unter anderem zur Werbung für ein leistungssteigerndes Medikament. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) sah hierin sowie in großzügigen Reisekostenzuschüssen und Antrittsgeldern zu Wettkämpfen eine Verletzung des Amateurstatus und sperrte Nurmi noch vor den Olympischen Spielen in Los Angeles 1932 lebenslang. Dessen ungeachtet trug er zur Eröffnung der Olympischen Spiele 1952 in der finnischen Hauptstadt Helsinki die olympische Fackel ins Stadion, zur Rührung seiner Landsleute und der Sportfans weltweit. Der Sportheros Finnlands starb 1973 und wurde in seiner Heimatstadt Turku beigesetzt.

Als an ein systematisches Lauftraining noch nicht zu denken war, absolvierte Nurmi stoisch diszipliniert seine Übungseinheiten. Er überlegte sich im Vorfeld, wie schnell er die anvisierte Strecke im Turnier laufen wollte, und errechnete den dafür notwendigen Kilometerschnitt. Den kontrollierte er im Training mit einer Stoppuhr, was zu dieser Zeit niemand von der Konkurrenz machte. Im Ergebnis lief Nurmi die Wettkämpfe nicht gegen seine Wettbewerber, sondern gegen die Zeit. Er variierte während des Trainings auf federndem Waldboden das Tempo, baute Wiederholungen und Intervalle ein, feilte an der optimalen Schrittlänge, steigerte klug das Pensum und sparte Energie, indem er den Oberkörper ruhig hielt. So paarten sich Ökonomie und Eleganz.

Die deutsche Bildhauerin und Grafikerin Reneé Sintenis schuf 1926 ihre Bronzeskulptur „Der Läufer Nurmi“. Die Künstlerin, selbst sport- und geschwindigkeitsbegeistert und in jener Zeit auf dem Gipfel ihrer Karriere, muss sich als Gleichgesinnte des Finnen erlebt haben. Die gut 40 cm hohe Plastik, eine überaus gelungene Studie der Kinästhesie, vermittelt den Eindruck purer Schnelligkeit kombiniert mit Ausdauer. Der dargestellte Körper scheint die Schwerkraft hinter sich zu lassen, er transformiert Materie in Energie.

Die rechte Ferse setzt raumgreifend weit vor dem Körperschwerpunkt auf, gleichermaßen springend wie schreitend, das Knie ist fast gestreckt. Der linke Fuß befindet sich auf Höhe des Beckens, die Sohle parallel zur Erde, den kompletten Schwung holt der Läufer aus der Hüfte. Die Dynamik der sehnigen Beine wird befeuert durch die Statik eines geraden Rückens bei versetzt schwingenden Armen, der Blick des hageren Modellathleten ist bereits im Ziel. Die Bronzefigur vermittelt die vorbildliche Haltung beim Laufen, die Nurmi mutmaßlich ebenso genießt wie das Publikum.

Prominent platziert vor dem Olympiastadion in Helsinki, steht eine lebensgroße Statue Nurmis, nicht weit davon eine weitere des finnischen Läufers Lasse Viren, in den 1970er Jahren ein Nachfolger des großen Paavo. Die für den Außengebrauch gefertigten Werke strahlen eher Wucht denn Gefallen aus. Der deutschen Bildhauerin Sintenis ist es mit ihrer filigranen Skizze von 1926 vergönnt, schiere muskuläre Kraft in anmutiger Bewegung zu zeigen; der Nurmi ihrer Plastik könnte binnen eines Augenblicks vom linearen Laufen ins zirkuläre Tanzen fallen, so schwungvoll und zufrieden zeigt er sich in seinem Leib.

Seit Paavos Tagen hat sich die Leichtathletik kolossal weiter entwickelt. Frühkindliche Förderung, wissenschaftlich gesteuerte Trainingsmethoden, besseres Material und genetisch begünstigte Athleten (m/w) lassen heute ganz andere Marken realistisch erscheinen. Doch ist es evident, dass Nurmi, dessen Name zum Synonym für den Ausdauerlauf wurde, mit seiner vegetarischen Ernährung und seinem Verzicht auf Alkohol intuitiv richtig lag. Am Ende zählt ohnehin die sportliche Einstellung, und die dürfte bei Nurmi gelautet haben: Laufen ist Leben, alles andere ist Warten.

Plath

Die Schriftstellerin Sylvia Plath wurde 1932 in Boston geboren, ihren früh verstorbenen deutschstämmigen Vater idealisierte sie zeitlebens. Sie heiratete 1956 den britischen Dichter Ted Hughes, den sie in Cambridge kennenlernte, und wurde Mutter zweier Kinder. Plath war mehrfach wegen Depressionen in psychiatrischer Behandlung. Ihr einziger Roman Die Glasglocke erschien einen Monat vor ihrem Suizid 1963, ein Jahr nach der Trennung von Hughes, unter dem Pseudonym Victoria Lucas in Großbritannien, in den USA erst 1971. Die Gedichtsammlung Ariel wurde von Hughes 1965 herausgegeben, in den 1970er Jahren avancierte Plath zu einer Ikone der Frauenbewegung.

In der autobiografisch gefärbten Glasglocke (im Original The bell jar) thematisiert Sylvia Plath stellvertretend über die Studentin Esther Greenwood ihre Erfahrungen bei einem Modemagazin in New York im Sommer 1953 samt einer dort aufbrechenden Depression. „Es war ein verrückter, schwüler Sommer, dieser Sommer, in dem die Rosenbergs auf den elektrischen Stuhl kamen und ich nicht wußte, was ich in New York eigentlich wollte.“ Die frühen 1950er Jahre markierten in den USA den Beginn des Kalten Krieges; kennzeichnend dafür waren die Hexenjagd auf Kommunisten in der Politik, der Kultur und der Wissenschaft sowie eine ausgesprochene Prüderie selbst in den großen Städten.

Esther Greenwood ist von New York so fasziniert wie verunsichert. Über ihre Zukunft hat sie verschwommene Vorstellungen: Sie träumt davon, Professorin zu werden und nebenbei Gedichte zu verfassen oder als Lektorin in einem Verlag zu arbeiten. Sie gefällt sich in der turbulenten Umgebung in der Pose einer Rebellin: „Uneingeschränkte Sicherheit war das letzte, was ich wollte, und ich wollte auch nicht die Stelle sein, von der der Pfeil abfliegt. Ich wollte Abwechslung und Aufregung und wollte selbst in alle möglichen Richtungen fliegen, wie die farbigen Pfeile bei einer Feuerwerksrakete am Vierten Juli.“

Ihre wachsende Unruhe und ihre permanente Furcht, vor den Augen aller in Tränen zu zerfließen, brechen sich nach einer Party Bahn. Des Nachts verstreut sie ihre Kleider aus dem Hotelfenster auf die Straße: „Stück für Stück verfütterte ich meine Garderobe an den Nachtwind, und wie die Asche eines geliebten Menschen wurde sie in einem Gestöber grauer Fetzen davongetragen, die sich hier und dort, wo genau, würde ich nie erfahren, im dunklen Herzen von New York niederließen.“ Sie flieht abrupt in ihre Heimatstadt, will Finnegans Wake von James Joyce lesen und im Herbst darüber eine Abschlussarbeit am College schreiben.

Schließlich wird sie auf Betreiben ihrer besorgten Mutter als Patientin in eine Klinik eingewiesen. Ohne dass sie eine ärztliche Diagnose erhielte, wird sie ohne jede Vorwarnung mit Elektroschocks ins Hirn behandelt: „Dann kam etwas über mich und packte und schüttelte mich, als ginge die Welt unter. Wii-ii-ii-ii-ii schrillte es durch blau flackerndes Licht, und bei jedem Blitz durchfuhr mich ein gewaltiger Ruck, bis ich glaubte, mir würden die Knochen brechen und das Mark würde mir herausgequetscht wie aus einer zerfasernden Pflanze.“

In den Therapiegesprächen wird sie dazu aufgefordert, ihr Beharren auf Selbstständigkeit zu lockern, sich einen Mann zu suchen und die vorbestimmte Mutterrolle anzunehmen. Esther richtet sich willig im Klinikalltag ein und kann keine rechten Unterschiede zwischen den Patientinnen hier und den Studentinnen am College erkennen, diese wie jene hocken für sie stumm unter einer Glasglocke. Ihre Therapeutin sagt ihr, dass das Stigma einer psychischen Erkrankung ihr auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus erhalten bleibe.

Die niederländische Autorin Connie Palmen hat 2015 das gängige Bild des Lebens und Sterbens Sylvia Plaths gegen den Strich gelesen. In ihrem Buch Jij zegt het (zu Deutsch Du sagst es, 2016) verfasst sie eine fiktive Nacherzählung der Beziehung zwischen Sylvia Plath und Ted Hughes aus der Perspektive des Witwers. Anders als für die zahlreichen Plath-Fans ist dieser in Palmens Augen nicht der Verräter, der seine Frau nach Belieben betrügt, nur an seinem eigenen Erfolg als Autor interessiert ist und aus Sylvias Selbstmord noch Kapital schlägt. Vielmehr ist er wie in einer griechischen Tragödie seinem Schicksal ausgeliefert, das ihn mit seiner Frau über deren Tod hinaus verknüpft:

„In den vergangenen fünfunddreißig Jahren bin ich die schweigende Geisel ihres Mythos gewesen, eingesperrt in ein Mausoleum, in dem ich als die Reliquie einer tragischen Ehe zur Schau gestellt wurde.“ Aus dieser Rolle kommt er nicht heraus; was auch immer er tut und schreibt, wird dem 1998 verstorbenen Dichter im Literaturzirkus zu seinen Ungunsten ausgelegt. Palmens Zeilen sind ebenso arrangiert, wie es der Roman Die Glasglocke ist. Sie sind ebenso wenig Plädoyer, wie jener ein Urteil fällt – sie bemühen sich um ein Audiatur et altera pars. Das wird allzu schnell vergessen, wenn das Publikum nach klarer Scheidung von Gut und Böse lechzt und die Belletristik mit einem Protokoll verwechselt.

Mühlstein

Im Januar 2010 verdichteten sich Gerüchte zur Gewissheit: Über Jahrzehnte hatten katholische Priester am von Jesuiten geleiteten Canisius-Kolleg in Berlin Schülerinnen und Schüler sexuell bedrängt. Die Opfer dieser Übergriffe schwiegen lange aus Scham über das Erlittene, noch heute kämpfen manche mit den seelischen Folgen der Traumen. Ende September 2018 legte die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) eine Studie zu Strukturen und Dynamiken des sexuellen Missbrauchs durch katholische Priester in ihrem Verantwortungsbereich vor, das Canisius-Kolleg war beileibe kein Einzelfall.

Die Studie, erarbeitet von Forschern (m/w) der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen (freilich ohne Zugriff auf Originalakten der katholischen Kirche zu erhalten), offenbart ein bestürzendes System des Wegschauens und des Vertuschens, in Teilen gar der Komplizenschaft. Bischöfe versetzten Pfarrer stillschweigend, ohne sich um Aufklärung oder strafrechtliche Konsequenzen zu kümmern. Kindern und Jugendlichen wurde nicht geglaubt, die bezichtigten Kleriker genossen via Status einen Nimbus der Unschuld. Heute will die DBK, nach einem Eingeständnis der Schuld und des Versagens, die Opfer entschädigen und künftigen Missbrauchsfällen vorbeugen. Mit einem routinierten Kyrie eleison ist es nicht getan, Beichte und Absolution allein helfen nicht.

Das Risiko sexueller Grenzüberschreitung besteht besonders in Verhältnissen, die durch Macht und Abhängigkeit konstituiert sind: Erwachsene gegenüber Minderjährigen, Autoritäten gegenüber Namenlosen, Lehrende gegenüber Lernenden, Charismatiker gegenüber Zöglingen, Männer gegenüber Frauen; bei katholischen Priestern mag der Zölibat als Signum nicht gelebter Sexualität begünstigend für Übergriffe wirken. Die Abwesenheit von Zeugen und das bewusste Situieren der Akte in geschlossenen Räumen lassen unwillkürlich Zweifel an der Richtigkeit potenzieller Vorwürfe aufkommen.

Im Evangelium äußert sich Jesus bildmächtig zur Vernutzung der Schwachen durch die Starken: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde.“ (Mk 9,42) Anlässlich der Präsentation der zitierten Studie wurde am Dom zu Münster die Skulptur „Mahnender Mühlstein“ enthüllt, die den Bibelvers plastisch in den städtischen wie auch sakralen Raum stellt. Für das Mahlen des Korns ist der Mühlstein unentbehrlich, im übertragenen Sinn ist er eine Last, die das Fortschreiten auf gewohntem Wege unmöglich macht und mit dem Untergang droht.

Der Apostel Paulus stimmt in einem seiner Briefe das Hohelied der Liebe an: „Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüßte und alle Erkenntnisse hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts. Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte, und wenn ich meinen Leib dem Feuer übergäbe, hätte aber die Liebe nicht, nützte es mir nichts.“ (1 Kor 13,2-3) Die Kernbotschaft des Christentums vom Ursprung an ist die Liebe, auch gegenüber Fremden und Feinden; sie tritt auf im Gewand des Verzeihens und der Vergebung.

Die Krux jener lyrischen Passage ist ihre kategoriale Unschärfe. Zur Liebe gehören neben der Fürsorge und der Hingabe auch das Begehren und die Erotik, die Verführung und die Sexualität, nicht zuletzt die Lust und der Rausch. Dass die katholische Kirche über Liebe predigt durch Priester, die die körperlich-sinnliche Dimension dieses Gefühls und Handelns anderen Menschen gegenüber qua Amt nicht kennen dürfen, sondern geschlechtslos bleiben sollen, lässt sie in dieser Hinsicht peinlich amputiert wirken. Die begonnene Diskussion über die Folgen des Missbrauchsskandals wird dementsprechend heikel verlaufen.

Die katholische Kirche ist eine Institution, die in ihrer langen Geschichte gewaltige Verwerfungen vom Investiturstreit über das Abendländische Schisma und die Reformation bis zur Säkularisierung im Zuge der Napoleonischen Kriege überstanden hat. Hat sie auch seit der Renaissance deutlich an politischer Macht eingebüßt, ist ihr kultureller Einfluss bis heute ungebrochen, wenn auch regional, national und kontinental unterschiedlich ausgeprägt. Gegenwärtig leben rund 1,2 Mrd. römisch-katholische Christen (m/w), das entspricht etwa 17,5 % der Erdbevölkerung. Die katholische Kirche ist damit zahlen- wie flächenmäßig die größte je gesehene Religionsgemeinschaft.

Die genannte Studie beschränkt sich auf die 27 Diözesen in Deutschland, der Analysezeitraum erstreckt sich von 1946 bis 2014. Demnach gelten 1.670 Kleriker als belastet, 3.677 Minderjährige sind als Opfer zu beklagen; die Dunkelziffern dürften deutlich darüber liegen. Diese spröden Zahlen sind blendende Chiffren für das erschütterte Vertrauen vieler Christen in ihre Gemeinschaft; auch in Australien, Irland und den USA harren vergleichbare Skandale der Aufarbeitung. In einer Zeit, wo in Deutschland Priestermangel und rückläufige Mitgliederzahlen Hand in Hand gehen, könnte sich mit der falsch verstandenen Praxis der Liebe das Ende einer 2.000 Jahre währenden Geschichte der Wunder und Geheimnisse abzeichnen. Dann wäre der Mühlstein keine Metapher mehr.

Pendel

An seiner höchsten Stelle in der Laterne über der Vierung misst der Raum 29 Meter. Das Objekt, das alle Blicke auf sich zieht, schwebt konstant vier Zentimeter über dem Boden und hat bei einem Durchmesser von 22 Zentimetern ein Gewicht von 48 Kilogramm. Mithilfe eines Magneten wird die Kugel aus matt poliertem Edelstahl, die an einem dünnen Stahlseil von der Kuppel herabhängt, in dauernder Bewegung gehalten. Die Amplitude beträgt räumlich etwa vier Meter, zeitlich etwa einen tiefen Atemzug. Hin und her und hin und her und hin und her und hin und …

Kaum betritt die Besucherin die 2017 profanierte Dominikanerkirche im Herzen der Fußgängerzone im westfälischen Münster, ist sie gebannt von der klinisch reinen Installation „Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel“ des Malers Gerhard Richter. Unterhalb der unablässig schwingenden Kugel, wo einst der Altar als Nukleus der Liturgie stand, liegt eine kreisrunde, minimal konkave Platte aus Grauwacke, einem uralten Sedimentgestein. Der Außenrand der schiefergrauen Platte ist in 360 Grade skaliert. An den Seitenwänden der ansonsten leeren Basilika sind zwei sechs Meter hohe Doppelglasplatten montiert, deren Grauwert das Geschehen rund um die Mitte spiegelt und zugleich absorbiert.

Der französische Physiker Léon Foucault hatte 1851 mit der nach ihm benannten Pendelkonstruktion im Pariser Panthéon experimentell die Drehung der Erde um die eigene Achse nachgewiesen und damit den Beweis für das heliozentrische Weltbild geliefert. Die katholische Kirche hatte dieses astronomische Modell jahrhundertelang über jeden nachvollziehbaren Punkt hinaus bekämpft und dabei nicht gezögert, seinen Theoretikern mit dem Scheiterhaufen zu drohen. Es ist ein Akt nachholender Genugtuung, dass das Pendel Gerhard Richters nun in der entweihten Dominikanerkirche hängt und die Grenzen zwischen Wissenschaft, Kunst und Theologie aufhebt.

Gerhard Richter, 1932 in Dresden geboren und seit Jahrzehnten in Köln lebend und arbeitend, ist einer der am höchsten gehandelten Künstler der Gegenwart, er ist mit seinen Gemälden in allen renommierten Museen und Sammlungen der Welt vertreten. 2007 schenkte er seiner rheinischen Wahlheimat ein Glasfenster im weltbekannten gotischen Dom, im Sommer 2018 vermachte er dem katholischen Münster seine Interpretation des Foucaultschen Pendels. Das Grau der oppositionellen Glasplatten hat ihm zufolge „schlechthin keine Aussage, es löst weder Gefühle noch Assoziationen aus, es ist eigentlich weder sichtbar noch unsichtbar; es ist wie keine andere Farbe geeignet, nichts zu veranschaulichen.“

Wer lange genug das Pendel (vom lateinischen pendulum = Schwinggewicht) im Vor und Zurück verfolgt, wird bemerken, dass es entlang der Ziffern auf der Platte wie der Zeiger einer Uhr zu wandern scheint. Dabei unterliegt die Besucherin einer Täuschung: Denn das Pendel verändert seine Schwungrichtung keineswegs, auch wenn es so aussieht – es ist vielmehr der Raum, der sich im Verhältnis zum Pendel langsam dreht, und mit ihm der Boden, das Gebäude, die Menschen, die Stadt und der Planet, als Wirkung der Corioliskraft. Dergestalt wird die sinnlich nicht erfahrbare Erdrotation nachweisbar.

Abseits dieser physikalischen Entzauberung menschlicher Hybris („Ich bin der Mittelpunkt der Welt, die vollumfänglich für mich da zu sein hat!“), entfaltet das Pendel einen hypnotischen Sog. Die Besuchenden verlangsamen unweigerlich ihren Schritt, verharren in kindlicher Überraschungsbereitschaft, setzen sich auf bereitgestellte Stühle und folgen dem Schweigen des melonengroßen Körpers, ein Lächeln auf den Lippen und ein Glänzen in den Augen. Die Wiederholung im Raum nimmt keinen Anfang und nennt kein Ziel, sie geschieht geräuschlos und produziert keine sinnvolle Energie – und stiftet deshalb Heiterkeit und Kontemplation.

Mag die Stahlkugel das Zentrum der Skulptur sein, das beschwörend auf die Nerven wirkt, gehören die leicht geneigten Glasplatten notwendig dazu. In ihnen spiegelt sich der matte Silberton des Pendels, der seinerseits das dumpfe Anthrazit des emaillierten Glases reflektiert. Die umher schlendernden Anwesenden verändern permanent das Bild, das die Spiegel in den Raum werfen. Als weitere Variable kommt die Perspektive der Betrachterin im Spiel hinzu; je nach Entfernung zum Objekt lehnt sie sich an eine Säule, geht in die Hocke oder legt den Kopf in den Nacken. Am Standort Münster benötigt die Erde für eine volle Umdrehung etwa 30 Stunden. In welcher Einheit misst man die Ewigkeit?

Dass der leere Raum zur Fülle neigt, ist eine der zeitlosen Paradoxien des Zen sowie der ignatianischen Exerzitien. So ist die wohl proportionierte barocke Architektur mit ihrem sich im Tagesverlauf wandelnden Licht unabweisbar Element des Arrangements. Die christliche Religion kann im 21. Jahrhundert nicht länger den Anspruch der Welterklärung aufrechterhalten, den haben ihr die Naturwissenschaften längst genommen. Aber im Zelebrieren von Geheimnissen macht der katholischen Kirche niemand etwas vor. Und wenn sie sich dazu mit der Kunst paart, kommt sie der Glückseligkeit ganz nah.

Fernradweg

Abseits der Städte, wo Radfahren mangels geeigneter Infrastruktur mit erheblichen Gefahren für Leib und Leben verbunden ist, gibt sich die Autorepublik Deutschland paradoxe Mühe, den Radverkehr zu fördern. Einrichten, Warten und Kommunizieren sogenannter Fernradwege zielen auf eine naturnahe Erschließung des Landes und seiner Regionen, sowohl für die Alltagsnutzung als auch den sanften Tourismus. Als Beispiele bester Praxis dürfen der Fernradweg Berlin-Kopenhagen sowie der Oder-Neiße-Radweg genannt werden.

Kaum ist die deutsche Kapitale samt Radau und Dichtestress verlassen, rollt das agile Trekkingrad im angestammten Ausdauertempo. Kein permanentes Zucken, Wenden, Drehen und Weichen mehr, stattdessen ein zügiges Gleiten vor sattem Raps in würziger Frühherbstluft. Bis ins dänische Fahrradmekka am Øresund sind gut 600 Kilometer zurückzulegen, wie eine Schautafel am Rande Oranienburgs erläutert. Für den Fernradweg werden schütter befahrene Nebenstraßen mit eigens geschaffenen Radpassagen und abseitigen Wirtschaftspfaden kombiniert und auf Radkarten ausgewiesen, das weiß-grüne Fahrrad-Piktogramm und das spezielle Wegelogo an den Abzweigungen helfen bei der Orientierung.

„An einem Sommermorgen da nimm den Wanderstab, es fallen Deine Sorgen wie Nebel von Dir ab.“ Dieses Motto Theodor Fontanes zu seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg lässt sich umstandslos auf das Radfahren übertragen. Die Route Richtung Fürstenberg, dem südlichen Einfallstor zur Mecklenburgischen Seenplatte, führt durch einen dichten Kiefernwald, fingerlange Nadeln liegen in Büscheln auf dem Boden, zwischen den Stämmen bricht sich der Strahl der tief stehenden Sonne. Die Bäume scheinen kein Ende zu nehmen, sie lichten sich, wenn sich die Flüsse und Kanäle zu Seen verbinden, die ihre Gestade ins Gehölz vorschieben. Ein stilles Wasserland mit einem Hauch von Karelien.

Ein individuell eingesessener Ledersattel ist eine exzellente Investition für eine mehrtägige Tour, während der Nacken und Lenden, Hüften und Schenkel ohne zu schmerzen arbeiten sollen. Die britische Sattlerei Brooks mit ihren Wurzeln im Pferdesport bietet zudem ergonomisch geformte Lenkergriffe mit Lederüberzug feil; ein Accessoire, das das Rad stilistisch veredelt und funktional Taubheitsgefühlen im Handgelenk vorbeugt. Auch mit den klug gefüllten Packtaschen am hinteren und vorderen Gepäckträger läuft das Rad stabil und schnell, dank der straff gepumpten, mäßig profilierten schmalen Reifen.

Die mäandernde Havel, die den Weg nun begleitet, scheint zu stehen, so eben liegt ihre Oberfläche im Licht. Das Bild vom märkischen Sand stimmt für den nördlichen Teil Brandenburgs nur bedingt, die moorige Ebene zwischen Fürstenberg und Schwedt ist ein bewaldeter Archipel, wo nicht ausgemacht ist, ob die Erde, das Wasser oder der Himmel die Oberhand behalten wird. Auf dem Asphalt liegen glänzende Kastanien neben ihren stachligen Gehäusen, teils zu Mus zerquetscht. Einige Meilen weiter säumen Eichen die Etappe, die ihre Frucht unvermittelt auf den Boden fallen lassen. Auch hier ist es sinnvoll, einen Helm zu tragen.

Rund 100 Kilometer ostwärts lässt sich am linken Oderufer erfahren, wie Gelder aus dem Brüsseler EU-Infrastrukturfonds vernünftig angelegt werden können. Von Frankfurt hinauf bis nach Schwedt verläuft neben resp. auf dem Deich ein breiter Radweg, hier können Rennradfahrer beim Tempomachen mit dem Wind kämpfen und Familien entspannt zum Picknick cruisen. Die Oder/Odra ist seit dem II. Weltkrieg die Grenze zwischen Polen und Deutschland, die mit ihren zahllosen Nebenarmen und Poldern ein schlankes Delta bildet. Die regelmäßigen Überschwemmungen im Zuge der Hochwasser machen die Uferauen fruchtbar, die politische Starre während des Kalten Krieges hat das Ihrige dazu beigetragen, dass das Oderbruch heute ein Paradies für Vögel ist.

Dem Rad fährt sein Schatten stetig voraus. Leise surrt die Kette, die Fußgelenke pedalieren im runden Tritt, der Rhythmus des Atems vermischt sich mit dem Schleifen des Windes und dem gelegentlichen Ruf des Adlers, ein selten entgegenkommender Radler wird nickend gegrüßt. Die Lippen schmecken erstes Salz, regelmäßiges Trinken tut not. Die rückwärtig liegende Sonne blendet nicht, aber wärmt, das weit schauende Auge wird gepflegt durch alle Schattierungen zwischen Braun und Grün, auf plötzliche Reize muss es sich hier jenseits des Autoverkehrs nicht einstellen. Das stundenlange Radfahren im Schweigen wirkt kolossal kontemplativ, der Geist ruht ankommend in sich, Körper und Seele genießen das pure Geschehenlassen.

Der Brandenburger Abschnitt des Fernradwegs berührt verfallene Gutshöfe und geputzte Weiler, die KZ-Gedenkstätte Ravensbrück und exklusive Yachthäfen, Pferdekoppeln und einen Ziegeleipark, verstaubte Felder und verschilfte Weiher. Bei der Suche nach einem Nachtlager in dieser fast menschenleeren Gegend feiert die DDR fröhliche Urständ: Alleinreisende, die am nächsten Morgen weiter Richtung Meer wollen, sind keine begehrte Klientel. Doch dieser triste deutsche Klang soll nicht die innige Freude beim Reisen mindern, er erfordert lediglich umsichtige Planung. Am nächsten Morgen gehen die Exerzitien der Bewegung weiter, die Frühluft riecht schon leicht nach See, – auch wenn erst die Grenze Mecklenburgs überquert ist.

Geisterrad

In vielen deutschen Städten finden sich an besonders stark befahrenen Kreuzungen komplett weiß bemalte Fahrräder. Sie sind an einen Baum oder einen Laternenpfahl angeschlossen und können von an der Ampel wartenden Autos aus gut gesehen werden. Jedes dieser Räder trägt ein ergänzendes Schild, auf dem etwa steht „Radfahrerin, 37 Jahre, hier gestorben am 12. August 2018“. Ein sogenanntes Geisterrad erinnert an jede/n Radfahrer/in, der/die im deutschen Straßenverkehr zu Tode kam.

Der Bundesverband des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) unterstützt diese lokal organisierte Form des Gedenkens ausdrücklich: „Solche Maßnahmen helfen, darauf aufmerksam zu machen, dass es um die politische Verantwortung dafür geht, wie und für wen unsere Straßen sicher geplant und gebaut werden. Ebenso muss die Notwendigkeit von viel mehr Forschung und Entwicklung zum Ausdruck gebracht werden hin zu Fahrzeugen und Assistenzsystemen, die nicht nur die Autoinsassen schützen, sondern gerade die ungeschützten Verkehrsteilnehmer*innen.“

Im Jahr 2017 sind nach Angaben des ADFC bundesweit 383 Radfahrende ums Leben gekommen, darunter 15 Kinder. Die häufigsten Verursacher sind laut Radlerlobby abbiegende LKW und PKW. Das „Geisterrad“ soll die Trauer um die Getöteten ebenso ausdrücken, wie es die politisch Entscheidenden an ihre Pflicht gemahnt, den Straßenverkehr für alle Teilnehmenden sicher zu gestalten. Doch es steht zu befürchten, dass die Autofahrer den Sinn eines solchen Mahnmals kaum verstehen; sie werden es vielleicht als lästige Kunst im Raum wahrnehmen, ohne sich selbst zu mehr Aufmerksamkeit zu bequemen.

Es könnte auch den Effekt haben, dass potenziell Interessierte erst gar nicht aufs Rad steigen. Im Kopf bleibt das Bild der Lebensgefahr, die in deutschen Städten objektiv nicht von der Hand zu weisen ist. Daher sollte der ADFC seine Kommunikationsstrategie überdenken: Wie können wir, gegebenenfalls in Kooperation mit Verkehrsplanern, Medizinern und Werbefachleuten (m/w), neben den bereits Überzeugten weitere Menschen dazu bewegen, in der Stadt das Rad zu nutzen? Wie wird Radfahren attraktiv nicht nur für Sportler, sondern auch für Kinder, Senioren und Frauen?

Einmal mehr kommen die Antworten auf diese Fragen aus Kopenhagen. In der dänischen Hauptstadt wurden bereits in den 1960er Jahren die Asphaltstellen, an denen PKW Radfahrende getötet hatten, mit einem weißen Kreuz versehen. Diese militante Form des Aktivismus ist im Norden nicht länger zeitgemäß, da eine kluge Stadtverwaltung der Ostsee-Metropole das weltweit beneidete Netz an Radstraßen beschert hat – mit der Folge eines exponenziellen Wachstums der Zahl der Cyclists. Während auf deutschen Straßen die Radler oft in schwarzer Funktionsuniform in den Krieg zu ziehen scheinen, sitzen in Kopenhagen viele Frauen im Rock und auf High Heels im Sattel – sie kleiden sich für ihr Ziel, nicht für die Reise.

Im Lobbying pro Cycling geht es darum, weniger den Risikoaspekt zu betonen, sich nicht in technischen Details zu verlieren und auch nicht moralinsauer ökologisch zu argumentieren. Radfahren ist kolossal praktisch wie sexy, es ist seit 130 Jahren Teil der urbanen Kultur, es ist demokratisches Mobilitätshandeln und individuelle Gesundheitsvorsorge in einem, es hat das Zeug zur Passion und zum Lifestyle. Diese positiv besetzten Themen sollten kommuniziert werden, mit für Vielfalt stehenden Testimonials, auf Plakaten und in den digitalen Netzwerken, verführerisch für die ganze Gesellschaft. Das Geisterrad als Werkzeug von gestern zementiert die Opferrolle des Fahrrads und anerkennt die Dominanz des Autos.

Zimmer

Ein Zimmer ist das kleinste Element eines Hauses oder einer Wohnung. Es ist zum einen durch seinen Zweck bestimmt, zum anderen durch seine Abgrenzung zu anderen Räumen. So gibt es in der bürgerlichen Wohnung neben der Küche, dem Bad und dem Flur jeweils ein Zimmer zum Arbeiten, zum Schlafen, zum Wohnen und zum Essen, gegebenenfalls eines für das Kind. Jedes dieser Zimmer lässt sich durch eine Tür öffnen und schließen. Das sprichwörtliche eigene Zimmer der Schriftstellerin Virginia Woolf ist eine Bedingung dafür, literarisch tätig zu werden: „Eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können.“

Virginia Woolf, 1882 in London geboren als Virginia Stephen, wuchs in einem großbürgerlichen und kulturell lebendigen Elternhaus auf. Der Tod ihrer Mutter 1895 verletzte sie schwer und löste lebenslange Depressionen aus. Mit ihrem Ehemann Leonard Woolf gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press, das Paar war Mittelpunkt des Londoner Intellektuellenzirkels The Bloomsbury Group. Mit ihren experimentellen Romanen Mrs. Dalloway (1925), Orlando (1928) und The Waves (1931) trug sie entscheidend zur Modernisierung des europäischen Romans bei. Virginia Woolf nahm sich 1941 in Sussex das Leben.

Der berühmte Essay A room of one’s own erschien 1929, er ist die ausgearbeitete Fassung zweier Vorträge, die die Autorin im Oktober 1928 vor Studentinnen am Newnham College und am Girton College zum Thema „Frauen und Literatur“ hielt. Im Zuge der Frauenbewegung der 1970er Jahre wurde Ein eigenes Zimmer zu einem Manifest des Feminismus. Woolf, der als Frau ein Hochschulstudium verwehrt wurde und die sich autodidaktisch ihr literarisches, historisches und politisches Wissen aneignete, geht den Fragen nach, warum es so viel mehr Bücher von Männern als von Frauen gibt und welche Bedingungen speziell Frauen zum Schreiben brauchen.

Die Antwort, die sie auf die zweite Frage gibt, ist wenig überraschend: „Die Nachricht von meiner Erbschaft erreichte mich eines Abends ungefähr zur gleichen Zeit, als das Gesetz verabschiedet wurde, das den Frauen das Wahlrecht gab. Der Brief eines Notars fiel in den Briefkasten, und als ich ihn öffnete, stellte ich fest, daß sie mir fünfhundert Pfund im Jahr auf Lebenszeit hinterlassen hatte. Von den beiden – dem Wahlrecht und dem Geld – schien mir, das muss ich zugeben, das Geld unendlich viel wichtiger.“ Von einem Tag zum anderen findet ihre wacklige Existenz als Hauslehrerin und freie Journalistin ein Ende; sie muss nicht länger mehr nach einem begüterten Liebhaber Ausschau halten, sondern kann sich als Leisuree vollumfänglich der Schriftstellerei widmen.

Die Erlösung von der Reproduktionsfron eröffnet den Raum zum künstlerischen Schaffen. Wer den ganzen Tag am Webstuhl sitzt oder Rüben erntet, Eisen biegt oder Kohl verkauft, erfindet am Abend keine Geschichten. Erst recht nicht, wenn im engen Heim die schmutzigen Kinder vor Hunger schreien und der nächste Balg im Bauche wächst. Implizit korreliert Woolf die Frage des Geschlechtes mit der Frage der Klasse. Denn erst ein finanziell gesichertes Leben mit Dienern und Ammen erlaubt die literarische Kreation für Frauen wie Männer. So gelesen ist Ein eigenes Zimmer ein postfeministischer wie elitärer Text, der den Zutritt in die Sphären der Kunst der Oberschicht vorbehält.

Umso höher ist die dichterische Leistung des Schweizers Robert Walser (1878 – 1956) einzuschätzen, dem eine höhere Bildung aus materiellen Gründen versagt blieb, der sich zeitlebens als Gehilfe verdingte und der Gedichte und Geschichten hinterließ, deren Glanz die Sterne verblassen lässt. Die Schweizerin Annemarie Schwarzenbach (1908 – 1942) hingegen, in eine der reichsten Familien des Landes geboren, produzierte trotz der privilegierten Umstände ihres Schreibens weitgehend halbgare, zu Recht vergessene Prosa. Doch sind dies Ausnahmen der ehernen Regel – die Tür zum eigenen Zimmer hinter sich zu schließen, um in Ruhe und Muße zu schreiben, können sich Reiche eher als Arme leisten, zumal die Bourgeoisie größere Flächen bewohnt als das Proletariat.

In den 1920er Jahre müssen sich schreibende Frauen in England nicht länger hinter männlichen Pseudonymen verbergen wie George Sand oder verstohlen im Pfarrhaus über ihrem Stickrahmen dichten wie Jane Austen. Den unbeschränkten Zugang zu universitären Weihen aber genießen sie anders als ihre Brüder erst seit einer Generation. Und ein zügelloses Leben à la William Shakespeare hätte seine imaginäre Schwester eher ins Bordell als auf die Bühne geführt. Die Professuren in Oxbridge, die Chefredaktionen der Fleet Street, die Richterposten am High Court und die Mandate im House of Commons bleiben bislang den Männern vorbehalten. Freedom grows by inches.

So sind die Ratschläge, die Virginia Woolf ihren Zuhörerinnen resp. Leserinnen gibt, wohlfeil: „Deshalb möchte ich Sie bitten, Bücher aller Art zu schreiben und vor keinem Sujet, ganz gleich wie unbedeutend oder gigantisch, zurückzuschrecken. Sei es auf geraden oder krummen Wegen, ich hoffe, daß Sie sich in den Besitz von genug Geld bringen, um zu reisen und müßigzugehen …“ Um von Männern ernst genommen zu werden, sollten sich Frauen nicht auf weibliche Formen wie Gedicht und Roman beschränken, sondern sich professionell ausbilden und sich harten Feldern wie der Architektur, der Medizin, der Ökonomie und dem Recht zuwenden. Dann kommen die einflussreichen Posten und mit ihnen Ruhm, Wirkung und das eigene Büro. Unterm Strich geht es um Macht – dieser Gedanke ist erfrischend aktuell.

Fahrverbot

Vor drei Jahren wurde bekannt, dass die Volkswagen AG jahrelang, systematisch und unter Billigung des Vorstands durch eine manipulierte Software das Ausmaß der Stickoxid-Emissionen aus den Dieselmotoren ihrer Fahrzeuge verschleiert hatte. Mit diesen kriminellen Machenschaften konnten die von der Europäischen Union (EU) definierten Grenzwerte zur NOx-Konzentration in der Atemluft formal eingehalten werden. Mediziner (m/w) weisen seit langem auf die kausale Verbindung zwischen dem dauerhaften Einatmen von Stickoxiden („Feinstaub“) und schweren Erkrankungen der Atemwege (Asthma, Bronchitis, COPD) hin.

Dessen ungeachtet hat die deutsche Politik bis heute nichts unternommen, um die Gesundheit der Bevölkerung speziell in den stark verdreckten Großstädten zu schützen. Vom Bundesverkehrsminister über die Ministerpräsidenten der Länder bis zu den Kommunalpolitikern ist es erklärter Konsens, die Verursacher der Luftverschmutzung zu schonen und ein medizinisch wie volkswirtschaftlich dringend gebotenes Fahrverbot um jeden Preis zu vermeiden. Die – kurzfristigen – Interessen der Autofahrer und der Automobilindustrie sind der Bundesregierung offensichtlich wichtiger als effiziente Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Menschen. Das darf man guten Gewissens als Leistungsverweigerung bezeichnen.

In einer Demokratie mit einer funktionierenden Gewaltenteilung übernimmt nun die Jurisdiktion die Aufgaben der Exekutive und der Legislative. Mit seinem Urteil vom 27. Februar 2018 erklärte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig Fahrverbote für Dieselautos in Düsseldorf und Stuttgart grundsätzlich für zulässig, um die kommunalen Luftreinhaltepläne zu erfüllen. Den Regierungen der Autoländer Nordrhein-Westfalen (Ford) und Baden-Württemberg (Daimler) wird somit amtlich bescheinigt, bei weitem nicht genug getan zu haben für eine gesündere Atemluft in den Städten.

Einen Schritt weiter geht nun das Verwaltungsgericht Wiesbaden mit seinem Urteil vom 5. September 2018, das für Frankfurt am Main verkehrspolitisches Handeln anordnet: „Angesichts der hohen Grenzwertüberschreitung im Stadtgebiet Frankfurt hat das Gericht die Einführung eines zonenbezogenen Fahrverbots für notwendig erachtet. Wegen der nach wie vor starken Gesundheitsgefährdung der Innenstadtbewohner, der Fahrradfahrer, der Fußgänger und Insassen der durchfahrenden Fahrzeuge verpflichtet die Kammer deshalb das Land, dieses Fahrverbot für Fahrzeuge der Dieselfahrzeuge einschließlich der Klasse Euro 4 und Benziner der Klassen 1 und 2 bereits ab dem 1. Februar 2019 vorzusehen.“

Die Befürworter (m/w) einer menschengerechten und modernen Stadtplanung können angesichts dieser schallenden Klatsche für die Versäumnisse der politisch Verantwortlichen ins Schwärmen geraten, lassen sich doch selbst in der notorischen Autorepublik Deutschland die immensen Kosten des motorisierten Verkehrs nicht länger leugnen. So hält das Umweltbundesamt in einer Studie vom März dieses Jahres fest, dass die kardiovaskuläre Mortalität durch NO2-Langzeitexposition auf jährlich knapp 6.000 vorzeitige Todesfälle und rund 50.000 verlorene Lebensjahre beziffert wird.

Die Lösung ist naheliegend: Weniger PKW, mehr Fahrräder, bei Förderung des ÖPNV. Die NGO Greenpeace dokumentiert in einem Papier vom August dieses Jahres, dass jeder gefahrene Kilometer Autoverkehr 20 Cent an gesellschaftlichen Kosten generiert (Verkehrsunfälle, Luftverschmutzung, Klimaerwärmung), während der Radverkehr einen gesellschaftlichen Nutzen von 30 Cent pro gefahrenem Kilometer bringt (Radfahrer werden seltener krank und produzieren keinerlei Emissionen). Allerdings muss dafür die Infrastruktur in deutschen Städten deutlich verbessert werden – in Berlin wurden im laufenden Jahr bereits acht Radfahrer (m/w) von Autofahrern getötet.

Der größte Konstruktionsfehler in der Geschichte des PKW bleibt indes der Fahrer, der sich in seiner klimatisierten Blechkiste von seiner Umwelt isoliert und lediglich seinen eigenen Mobilitätsinteressen folgt, ohne zu realisieren, dass er damit andere Verkehrsteilnehmer behindert – er steht nicht im Stau, er ist der Stau. Für ihn ist das Fahren wie ein Computerspiel, in dem er auf bewegliche Ziele zusteuert. Wie viele junge Männer, gerne mit Migrationshintergrund und dafür ohne Empathie, möchten einmal straffrei Anis Amri spielen! Und jene Helikoptereltern, die ihre Kinder im Schlampenpanzer zur Kita spedieren, misstrauen ihresgleichen: Sie wollen ihren Nachwuchs nicht dem mörderischen Autoverkehr aussetzen, für den sie mitverantwortlich sind. My car is my tank.

Aus den USA stammt im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr der Begriff der Critical Mass. Damit ist die notwendige Anzahl an Radfahrern gemeint, ab der sie sich auf der Straße, umgeben von Autos, sicher fühlen. Analog dazu kann man von der Toxic Mass sprechen, jener Masse an Autos, die die Straßen chronisch verstopfen und mit ihrem Lärm, ihrem Flächenfraß und ihren Abgasen eine Zumutung des städtischen Lebens darstellen. In deutschen Metropolen ist diese Zahl schon längst überschritten, es wird höchste Zeit für einen Paradigmenwechsel in Sachen urbaner Mobilität. Fahrverbote sind so simple wie wirksame Werkzeuge auf dem Weg dahin.