Entstellt

Der Eingriff liegt nun über zwanzig Jahre zurück. Er war seinerzeit medizinisch notwendig, weil ein Tumor an der Zunge, der im Jahr zuvor herausgeschnitten worden war, bereits Metastasen gestreut hatte. In einem Lymphknoten unterhalb des Kiefers hatte sich ein Krebsnest gebildet, spürbar als harte Murmel. Bei der neck dissection genannten Operation wurden sämtliche Lymphbahnen und -knoten der linken Halsseite entfernt, unter Mitnahme des Großen Kopfwenders, der das Hirn versorgenden Vene, des Nervus assessorius, der Ohrspeicheldrüse und des lokalen Bindegewebes.

Blickt man Kerstin ins entstellte Antlitz, sieht man einen konkav deformierten Hals, die Haut ist hier und im Übergang zum Schulterblatt schrundig, pergamenten und dunkler pigmentiert als der Teint. Diese Verfärbung rührt von der Bestrahlung nach der Operation her, das verbrannte Areal hat sich nicht regenerieren können. Rings um die linke Mundhälfte zieht sich ein Netz tiefer Runzeln. Vom Ohr verläuft eine violette Narbe den Halsrest hinunter, um oberhalb der Clavicula Richtung Schulter abzubiegen. Auf Höhe des Kehlkopfes hat sich über einem zweiten Schnitt ein voluminöses Keloid gebildet. Dieses überschießende Narbengewebe ist hartnäckig wiedergekommen auch nach mehreren Versuchen seiner chirurgischen Abtragung; die dauernde Spannung des Dekolletés begünstigt die Geschwulst.

Wer Kerstin zum ersten Mal sieht, zuckt unweigerlich zusammen, vor Ekel, Scham und Aggression. Wie kann sich so was nur nach draußen trauen? Lässt sich eine Begegnung partout nicht vermeiden, reagieren Frauen künstlich fröhlich, als sei es die Erfüllung ihres Traumes, mit einem so verzerrten Wesen Aug in Aug zu sprechen. Männer hingegen vermeiden beharrlich den Blickkontakt und verhehlen ihr Unbehagen nicht. Kinder können sich von Kerstins Erscheinung nicht losreißen, wie bei einem Feuer müssen sie hinschauen, so sehr es auch schmerzt. Manche stupsen ihre Mutter an, andere springen impulsiv zurück wie vor einem Hund.

Kerstin hat Rollkragen und Schals probiert, lässt die langen Strähnen die Wangen entlang auf die Schultern fallen, hat mit Camouflage-Make-up experimentiert und plastische Chirurgen konsultiert. Vergeblich, die Stelle ist zu groß, als dass sich die Läsion kaschieren ließe. Sie neigt zudem zur Narbenwucherung, an eine kosmetische Auffüllung des Loches ist nicht zu denken. Sie ist heilfroh, dass sie keine anatomisch bedingten Schmerzen in Hals, Nacken, Kopf und Schulter hat, dass die Stimmbildung einwandfrei funktioniert und dass die Rotation der Wirbelsäule durch die fehlenden Muskeln, Sehnen und Adern lediglich minimal behindert ist; Kraulschwimmen und Rennradfahren sind problemlos möglich.

Warum ist Kerstin für ihre Mitmenschen eine Zumutung? Sie sprengt das vertraute Körperschema, das auf vertikaler Harmonie beruht, auf unverhältnismäßige Weise. Ein Gesicht wird als besonders attraktiv empfunden, wenn beide Hälften sich annähernd gleichen. Leichte Abweichungen vom symmetrischen Ideal werden als akzeptabel erlebt, mit Piercings lässt sich ein Bruch der Sehgewohnheiten temporär bewusst herbeiführen. Aber ein klaffender Krater aus leblosem Gewebe von der Größe dreier Handteller so nah am Gesicht ist zu viel der Überschreitung. Die stattgefundene Verletzung bedroht das Gefühl eigener Unversehrtheit – Kerstins Halsschlagader, von keinerlei Faszien umhüllt, fließt so nah unter der Haut wie eine Vene auf dem Handrücken. Diese Wunde schreit Memento mori!

In der Wildnis werden kranke oder verletzte Tiere von ihren Artgenossen nicht beschützt, sondern gebissen und vom Futter weggestoßen. Sie stellen eine Belastung der Herde dar, von der sich diese im Sinne der eigenen Stabilität umgehend trennt. Die Exklusion aus der menschlichen Gemeinschaft erfolgt subtiler. Kerstin wird erst gar nicht in private oder professionelle Zirkel aufgenommen, sie disqualifiziert sich für deren Teilhabe durch einen Bruch ästhetischer Normen. Ihre Narbe ist mehr als ein Verweis auf eine medizinische Intervention, die ihr das Leben gerettet hat. Sie ist nach Erving Goffman als Brandmal ein Zeichen der Beschädigung ihrer sozialen Identität.

Im Zeitalter von Instagram und Pinterest wird von jedem Menschen die permanente Arbeit am Aussehen erwartet. Dieser Zwang zur Perfektion trifft Frauen härter als Männer. Kerstin mag einen schlanken Körper besitzen, sich geschmeidig bewegen, dichtes Haar und warme Augen haben, ebenmäßige Zähne, volle Lippen und gepflegte Hände vorweisen, dabei belesen und kultiviert sein – der Makel der Hässlichkeit überwiegt all diese Vorzüge. Einen Partner hat sie nicht, Flirten kennt sie nicht, für einen gelegentlichen Liebhaber fehlt ihr das Geld. Im Büro wird Diskretion erwartet, Projekte mit Kundenkontakt und Dienstreisen werden hübschen Kolleginnen übertragen. Und auch die Eltern sind erleichtert, dass Kerstin weit weg vom Ort ihrer Geburt lebt.

Ihr Arzt ist der einzige Mensch, der sie an der intimen Zone berührt, alle zwei Jahre bei der Kontrolluntersuchung. Die Haut ist trotz der zerstörten Nerven sensibel, Kehlkopf, Schlüsselbein, Luftröhre und Zungengrund sind wie bei einem Relief präzise tastbar. Im Sprechzimmer erinnert sich Kerstin, dass sie eine Überlebende einer mörderischen Krankheit ist. Sie ist dankbar für die geschenkte Zeit und hat sich notgedrungen in ihrer Geschlechtslosigkeit eingerichtet. Ihr ist bislang kein einziger Mensch mit einer vergleichbaren Verwundung begegnet. Nicht allein auf diesem Wege zu wandeln, ließe sie ihre Entstellung leichter tragen. In Gegenwart ihres Arztes kann sie nicht darüber weinen, das gelingt ihr erst daheim beim Blick in den Spiegel.

Zusatzprotokoll

Am 23. August 1939 unterzeichneten die Außenminister des Deutschen Reiches und der Sowjetunion Joachim von Ribbentrop und Vjaceslav Molotov in Moskau einen spektakulären Nichtangriffspakt. Auf zehn Jahre verpflichteten sich die beiden Diktaturen zur friedlichen Lösung möglicher zwischenstaatlicher Konflikte und zur Neutralität im Kriegsfall. Das Besondere dieses sogenannten Hitler-Stalin-Paktes war das geheime Zusatzprotokoll, das die Aufteilung des nordöstlichen Europas im Ostseeraum unter den ideologischen Todfeinden regelte.

Am 1. September 1939 begann mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen der II. Weltkrieg. Im Zusatzprotokoll hatte Josef Stalin seinem deutschen Widerpart Adolf Hitler freie Hand bei der Okkupation Polens zugesichert und im Gegenzug seinen Anspruch auf die jungen baltischen Republiken erhoben. 1940 fügte die UdSSR Estland, Lettland und Litauen gewaltsam ihrem Territorium ein; Finnland, ebenfalls aus der Konkursmasse des Russischen Zarenreiches hervorgegangen und im Protokoll als Teil des Baltikums definiert, konnte hingegen im Winterkrieg 1939/40 seine Souveränität verteidigen.

Die Interessen der beiden Diktaturen am überraschend geschlossenen Vertrag lagen auf der Hand. Das Deutsche Reich wurde bei seinem Expansionsdrang Richtung Osten nicht weiter von einem ernsthaften Gegner gestört, während die industriell rückständige Sowjetunion, die zudem vom Nachbeben des Großen Terrors der Jahre 1936 bis 38 erschüttert wurde, sich außenpolitisch absichern wollte. Doch der kalte Frieden zwischen den Regimes währte nicht lange: Am 22. Juni 1941 überquerten deutsche Flugzeuge und Panzer die sowjetische Westgrenze, das „Unternehmen Barbarossa“ eskalierte.

Die im Zusatzprotokoll (das sechs Jahre nach der Unterzeichnung bekannt wurde und dessen Existenz die sowjetische Führung bis zum Dezember 1989 leugnete) vereinbarte Annexion des Baltikums wurde von den Alliierten nach 1945 gebilligt. Estland, Lettland und Litauen wurden nach der deutschen Herrschaft von 1941 bis 44 in die Kollektivierung gezwungen, die KP übernahm das Kommando, Zehntausende Menschen wurden in den Gulag deportiert oder gleich erschossen. Finnland musste Teile Kareliens an die UdSSR abtreten, behielt aber seine Unabhängigkeit. In den Jahren des Kalten Krieges verfolgte Finnland einen außenpolitisch neutralen Kurs, bis heute ist das Land kein NATO-Mitglied.

Die periphere Lage im Sowjet-Imperium bot den Menschen der estnischen, lettischen und litauischen SSRen eine gewisse kulturelle, nationale und auch ökonomische Zuflucht – nicht umsonst wurde das Baltikum als „unser Westen“ (nas zapad) bezeichnet. Zum 40. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes 1979 forderten Dissidenten im „Baltischen Appell“ ein Ende der sowjetischen Besatzung. Doch erst Glasnost und Perestroika machten es möglich, dass sich am 23. August 1989 geschätzte zwei Millionen Menschen zu einer 600 Kilometer langen Kette von Tallinn über Riga bis Vilnius zum „Baltischen Weg“ zusammenschlossen. Im Zuge der Epochenwende 1989/91 implodierte die UdSSR, Estland, Lettland und Litauen erlangten ihre Eigenstaatlichkeit zurück.

Copenhagenize

Life-size cities. Städte fürs Leben. So einfach lässt sich das Konzept Mikael Colville-Andersens zur Befreiung der chronisch autoverstopften Städte verdichten. Der Däno-Kanadier gründete 2009 die Copenhagenize Design Company, der er heute als CEO vorsteht. Ein Team aus Architekten, Stadtplanern, Designern und Soziologen (m/w) widmet sich von Kopenhagen aus der (verkehrs)politischen Beratung von Städten. Das Fahrrad spielt bei der Umgestaltung des urbanen Raumes eine prominente Rolle als Mobilitätselement. Das jüngst publizierte Buch Copenhagenize – The definitive guide to global bicycle urbanism fasst das Credo Colville-Andersens und seiner Mitstreiter beredt zusammen.

Der ausgebildete Drehbuchautor und Regisseur argumentiert weniger identitär, vielmehr pragmatisch. In der gut 7.000 Jahre währenden Geschichte der Städte spielte sich das soziale Leben zum großen Teil auf den Straßen und Plätzen ab. Im 19. Jahrhundert stellten die Verstädterung im Zuge der Industriellen Revolution und der beginnende Siegeszug des Verbrennungsmotors die Situation in Europa und Nordamerika auf den Kopf. Städte wurden nicht länger für Menschen geplant, sondern für Maschinen; Fahrräder und Fußgänger, die bis in die 1950er Jahre rund 50 % des Verkehrsaufkommens ausmachten, wurden im Wortsinn an den Rand gedrängt. Das Leitmotiv der „life-size city“ stellt daher ein Zurück in die Zukunft dar, angesichts der globalen Landflucht und der wachsenden Agglomerationen in Afrika und Asien ein Megathema des 21. Jahrhunderts.

Das Büro Copenhagenize Design gibt seit 2011 den Index der fahrradfreundlichen Städte heraus, der anhand von 14 Parametern vergleichende Messungen erlaubt. Beispielhafte Variablen sind etwa die offizielle Stadtplanung, der Einfluss von NGO auf die städtische Verkehrspolitik, die Geschlechterverhältnisse auf dem Rad, die Existenz einer Fahrrad(sub)kultur, die vorhandene Fahrradinfrastruktur, Radunfälle bezogen auf den Gesamtverkehr sowie Tempolimits und Verkehrsberuhigungen. Verlässlich auf dem Treppchen landen Kopenhagen, Amsterdam und Utrecht. Im jüngsten Index 2017 finden sich unter den Top 20 mit Berlin (10), München (15) und Hamburg (17) überraschend drei deutsche Metropolen, die für ihre blechgefüllte City berüchtigt sind.

Das Buch beschreibt Zustand und Utopie in einem. In Kopenhagen ist es für viele Menschen aller Altersstufen selbstverständlich, in Sicherheit zu radeln: Es gibt ein dichtes Netz an breiten Fahrradstraßen, die im Winter vom Schnee geräumt werden; gut 600 Fahrradläden bieten unkompliziert Service, Verkauf und Pannenhilfe; spezielle Ampeln gewähren Fahrrädern eine grüne Welle; überall finden sich Bügel zum Anketten des Rades etc. In deutschen Städten hingegen ist das Fahrrad kein gleichberechtigtes Verkehrsmittel – wer sich in den Sattel schwingt, fährt gefährdet. Das liegt zum einen am schrankenlosen Einfluss der Automobilindustrie auf die Verkehrspolitik und Stadtplanung des Bundes und der Kommunen, zum anderen am Weiterleben der autogerechten Stadt der 1950er und 60er Jahre in den Köpfen und Füßen der Menschen.

Nur zögerlich kommt die Einsicht in die Notwendigkeit der Stadtplanung 2.0 auch in Deutschland an. Copenhagenize gibt praktikable Rezepte in Richtung vernetzter Mobilität inklusive der Hebung der Attraktivität des ÖPNV. Dabei versteht sich Colville-Andersen nicht als „cyclist“, sondern als  „citizen“, der seine Mobilitäts- und Logistikbedürfnisse mit dem sich anbietenden Gerät befriedigt: „Das Fahrrad gehört in die Städte. Es steht für Transport und Einkaufen, es ist eine Hilfe für Familien und eine analoge Dating-App. Diese menschliche Form des Verkehrs repräsentiert die perfekte Synergie zwischen Technologie und dem menschlichen Verlangen nach Bewegung.“

Das im Unternehmensnamen verwendete Design meint den Entwurf einer Gestaltung (vom italienischen disegnare = beabsichtigen, bezeichnen). Im Deutschen wird das Design überwiegend auf die ästhetisch-dekorative Seite eines Gegenstandes reduziert, sein Gebrauchswert fällt dabei oft unter den Tisch. Durchdachtes Design drängt sich nicht auf, sondern erfüllt seinen definierten Zweck. Farblich markierte, breite und regelmäßig gewartete Radstraßen wie in Kopenhagen sind Open-Source-Monumente, die ikonisch für die Stadtkultur stehen und andernorts anschlussfähig sind. Wird die geeignete Infrastruktur zur Verfügung gestellt, treten die Menschen in die Pedale.

Die flächen- und bevölkerungsmäßig kleinen Länder Dänemark und die Niederlande mit ihren großen Designtraditionen repräsentieren in Sachen urbanen Radverkehrs die internationale Avantgarde, während in Deutschland Ingenieure die Stadtplanung unter ihrer Fittiche haben und dabei benzinzentrierte Lösungen anstreben, ohne die Menschen nach ihren Bedürfnissen zu fragen. Willfährige Schützenhilfe bekommen die politischen Entscheider von der Werbung, die Autos als Fetisch inszeniert, ohne je die Frage nach ihren gesellschaftlichen Kosten zu stellen. Angesichts der Verletzten und Getöteten auf den Straßen müsste jede Karosserie einen weithin sichtbaren Warnhinweis à la „Autofahren stellt eine ernste Gefahr für Sie und Ihre Mitmenschen dar“ tragen.

Die Schaffung einer lebenswerten Stadt mit weniger Lärm und gesünderer Atemluft, mehr Bäumen und weniger Unfallopfern beginnt nach Colville-Andersen mit einem Paradigmenwechsel. Nur weil Autos seit vier Generationen alle erdenklichen Privilegien genießen, muss das nicht so bleiben. Die einschlägigen Berichte und Bilder aus der dänischen Hauptstadt wirken dabei so betörend wie verheißend. So wie das Zeitalter des Erdöls seinem Ende entgegen geht, gerät auch die Arrogance of Space unter Druck: „Es ist eine Tatsache, dass Autos keinen Platz mehr haben in den großen Städten unserer Zeit.“ So sieht es Bertrand Delanoë, von 2002 bis 2014 Bürgermeister von Paris.

Abendlob

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben? Im Gegenteil, das ganze Tagwerk steht im Zeichen des Hymnus des Herrn. Das klösterliche Leben katholischer Mönche und Nonnen kennt nach der Regel des Heiligen Benedikt sieben tägliche Gebetszeiten, Horen genannt, die mit dem Morgenlob beginnen und mit dem Nachtgebet enden. Die Vesper (im Lateinischen der Abend) im profanen Sinn bezeichnet eine kleine Mahlzeit am späten Nachmittag, im sakralen Sinn meint sie das Abendgebet.

Kurz vor 18:00 Uhr im Kloster St. Gabriel im schattigen Berliner Westend. Nach und nach betreten zwölf Nonnen den Kirchenraum und nehmen kniend im Chorgestühl Platz, den Blick zum Altar gerichtet. Ihr knöchellanges Gewand ist in einem satten Altrosa gehalten, Überwurf und Haarschleier leuchten in Wäscheweiß. Die Vesper beginnt mit einem gemeinsam rezitierten Ave Maria, an das sich das Deklamieren eines Psalms im Wechselgesang der Leitstimme und der Antiphone anschließt. Die Akustik ist exzellent; wenn die Schwestern zu spärlicher Orgelbegleitung singen, scheinen die Stimmen über ihren Häuptern zu schweben.

Die Klosteranlage, die neben der Kirche und dem Wohnhaus auch einen Garten zur Subsistenzwirtschaft umfasst, wurde zwischen 1933 und 1937 errichtet, sie enthält stilistische Anklänge an die Neue Sachlichkeit und den Expressionismus. Die hier lebenden Steyler Anbetungsschwestern, 1896 als Kongregation gegründet, widmen ihr Leben komplett dem Gebet: „Sie verwirklichen ihre Sendung durch ihr kontemplatives Leben im Lobpreis und der Anbetung des eucharistischen Herrn im Dienst der Glaubensverkündigung und im Gebet für alle Menschen. In der Verborgenheit und im Schweigen ihres klausurierten Lebens, im ora et labora ihres Tagewerkes, wissen sie sich solidarisch mit allen Menschen.“ So steht es auf der Webseite der Gemeinschaft.

Diese Mission empfängt die stets willkommenen Besucher der Horen auch architektonisch: Venite adoremus jesum steht als Relief über der Eingangstür. Ein Messinggitter trennt den allgemein zugänglichen Raum vom klösterlichen Bereich – die Gäste sind beim Gebet dabei und bleiben zugleich außen vor. Die rund halbstündige Vesper schließt nach der Tageslesung mit den Fürbitten und dem Vaterunser. Die Klosterkirche ist tagsüber durchgehend geöffnet, gepolsterte Kniebänke laden zur Begleitung des monastischen Gebetes ein, eingedenk des 113. Psalms: „Der Name des Herrn sei gepriesen von nun an bis in Ewigkeit. Vom Aufgang der Sonne bis zum Untergang sei der Name des Herrn gelobt.“

Leben die Steyler Anbetungsschwestern, etwa 400 weltweit, auch in Klausur und Schweigen, bleibt ihre Kontemplation keineswegs folgenfrei. Sie hören auf das Wort Gottes und öffnen sich für die Leiden und Hoffnungen aller Menschen. Es ist, wie bei allen Ritualen, das Element der Wiederholung, das dem Leben Struktur und Tiefe gibt. Nach einem vollen Arbeitstag mit Lesen und Schreiben, Sprechen und Wirken ist das schlichte Hören der Vesper für die Besucherin ein Labsal. Die Litanei schwingt in der Seele nach, gestärkt und beschenkt klingt der Tag in der Rückschau aus. Das Echo des Gesangs der Schwestern, die sich in ihren Konvent zurückziehen, lagert sich an den Wänden als Frieden ab. Stille ist ansteckend.

Schwimmen

Der menschliche Körper besteht zu 60 % aus Wasser, vermutlich schwimme ich deswegen so gern. Ich stehe am Strand von Taurito im Südwesten Gran Canarias, die Zungen der Wellen lecken meine Zehen und locken mich ins Nass. Vor mir liegt der Ozean, ein Tuch in Dunkelblau mit hüpfenden Tupfen und einer Borte in Weiß. Ich drehe meine langen Haare zum Dutt und zwänge sie unter eine Kappe aus Silikon; das schützt sie ein wenig vor dem Salz und verhindert, dass sie mir wie Algen vor den Augen flattern. Ich justiere die Schwimmbrille und lasse die Karte meines Hotelzimmers unter den Badeanzug rutschen, bis sie auf Nabelhöhe angelangt ist.

Das Meer klatscht gegen meine Knie, dann gegen die Hüften, ein beherzter Sprung und meine Füße verlieren den Bodenkontakt. Mit energischen Zügen und wippendem Hüftschlag durchtauche ich die brechenden Wellen und gelange schnell dreißig Meter vom Ufer weg. Die Luft mag 24 °C warm sein, das Meer hat kaum weniger Temperatur; gute Konditionen für mein Vorhaben, entlang des Ufersaums nach Puerto de Mogan zu schwimmen, das rund drei Kilometer von Taurito hinter einem griffigen Felsvorsprung liegt.

Das Meer macht mir sein Geschenk der optimalen Wasserlage, durch seinen Salzgehalt bekommt mein Unterkörper mächtig Auftrieb, sodass ich eben auf dem Wasser liege und vorbildlich kraule. Die See ist ruhig, ein mäßiger Wind geht, die hoch stehende Sonne wird von keinerlei Wolken verdunkelt und bricht sich gleißend in tausend kleinen Spiegeln auf der Oberfläche. Das klare Wasser wird hier etwa zwölf Meter tief sein, ich kann dank der Sonnenstrahlen die Riefen auf dem sandigen Grund sehen, auf dem mein Schatten sich abzeichnet.

Die Kanarischen Inseln sind berüchtigt für ihre tückischen Strömungen, die ohne weiteres austrainierte Schwimmer packen und auf den Atlantik ziehen, wenn ihnen danach ist. Ich habe einen Punkt erreicht, an dem meine durch das Leben an Land geprägte Orientierung verschwimmt; hin und her geschaukelt von den sanften Wellen, die sich zwischen mein Gesicht und das Ufer schieben, verliere ich die Maßstäbe des Schnell und Langsam, des Nah und Fern.

Am Horizont erkenne ich eine Fähre auf ihrer Fahrt zwischen Gran Canaria und Teneriffa. Meine ersten Erinnerungen drehen sich um das Wasser, um das Schwimmenlernen im Freibad, um Ferien an der Nordsee, um das Planschen, Toben und bald darauf Schwimmen im Meer. Bei allem wachsenden Respekt im Umgang mit dem Flüchtigen blieb mir die unbedingte Liebe erhalten. Das Meer ist für mich ein Zustand und eine Haltung, ein Ja zum Fluss des Weichen.

Automatisch atme ich ins Wasser aus, fühle das Salz als Peeling auf der Haut, hebe den Kopf zur Sicht, nutze Schultern, Flanken und Arme zum Vortrieb und die Beine mehr zum Balancieren. Ich bin weit genug vom Ufer entfernt, um den Pico de las Nieves zu erkennen, einen Vulkankegel, von dem abfallend sich Gran Canaria kreisförmig in den Atlantik ergießt. Ich schwimme ruhig und konzentriert im Rhythmus der Muskelkontraktionen, mein Rumpf rotiert wie eine Spindel auf der Längsachse, ein tief ins Leibgedächtnis eingelassenes Muster.

Schließlich sehe ich die Umfassung zur Bucht von Puerto de Mogan, durch eine Kordel abgesichert, damit die Kinder gefahrlos ins Wasser können. Die Bucht wird von einem flachen Riff gehegt, ich muss aufpassen, dass ich mir an den scharfen Steinen nicht die Füße aufreiße und lasse mich beim Anlanden von einer Welle über die Korallen heben. Ich plansche im schritttiefen Blaugrün, will das Aufrichten so lange wie möglich hinauszögern. Nach einer Wassereinheit muss ich mich wieder ans Land gewöhnen, zu vertraut ist mir das Meer.

Ich schüttle die Tropfen aus den Ohren und drehe mich um Richtung Ozean, ich bin weder erschöpft noch durstig, stattdessen erfüllt von süßer Absichtslosigkeit. Ich mache auf der Ferse kehrt, schon umspielt das Wasser wieder mein Becken und ich überlasse mich dem Sog ins Freie. Zum Glück liegt die Hälfte der Strecke noch vor mir – wenn das Meer wüsste, wie glücklich es mich macht. Sollte es ein Leben nach dem Tod geben, möge meines bitte im Wasser stattfinden. Wahrscheinlich rührt dieser Wunsch daher, dass ich im Sternzeichen der Fische geboren wurde.

Dumoulin

Die Tour de France 2018 geht in ihre dritte Woche, das Feld nimmt Kurs auf die Pyrenäen, wo die Entscheidung über den Gesamtsieg fallen wird. Dem übel beleumdeten britischen Team Sky, das das Rennen in den vergangenen Jahren dominiert hat, schlägt die wohlverdiente Ablehnung des Publikums am Straßenrand entgegen; die Entscheidung des Weltradsportverbandes UCI, den des Dopings überführten Vorjahressieger antreten zu lassen, hat den Ruch der Korruption.

Dessen ungeachtet avanciert en passant ein Niederländer zum heimlichen Patron der Tour. Der 27 Jahre alte Tom Dumoulin, im letzten Jahr überzeugender Gewinner des Giro d’Italia, hat vor den anstehenden Etappen über die kahlen Pässe an der französisch-spanischen Grenze gute Aussichten auf das Maillot Jaune. Der liebevoll „Schmetterling von Maastricht“ genannte einstige Zeitfahrspezialist ist zu einem vollendeten Rundfahrer mit hoher Rennintelligenz bar jeder Schwäche gereift: Er bleibt enorm stark im Kampf contre la montre, kann im Hochgebirge mit den Kletterern locker mitgehen, fährt in den steilen Rampen ökonomisch sein eigenes Tempo, steuert sein Rad sicher die Abfahrten hinab und kann im Schlussanstieg gegebenenfalls noch attackieren.

Die Ästheten des Rennrads bekommen ob seiner Erscheinung leuchtende Augen: Dumoulin steht in der Tradition der großen Stilisten der Landstraße, die auf jedem Terrain elegant auf ihrem Sportgerät sitzen und geschmeidig aus der Hüfte im runden Tritt pedalieren. Sein Fahren wirkt so unaufgeregt wie zwingend, sein Rumpf bleibt auch bei großer Anstrengung ruhig und unverkrampft, er vergeudet keine Energie beim Hin- und Herwerfen des Rades im Wiegetritt, ganz selten geht er einmal aus dem Sattel, die Gesichtszüge bleiben entspannt. Und überhaupt sieht er so blendend aus, dass er auch auf dem Laufsteg fraglos bella figura machte.

Die reinen Bergziegen haben den zierlichen Körperbau eines Jockeys, Dumoulin verfügt über die definierte Gestalt eines Triathleten. Er äußert sich in Interviews stets reflektiert zum Renngeschehen – eine wohltuende Ausnahme im Peloton, wo es von Floskeln à la „wenn die Beine da sind“, „Gas geben“ und „nach hinten einen raushauen“ nur so wimmelt. Vor dem Beginn seiner Profikarriere liebäugelte er mit dem Medizinstudium, bei aller Höflichkeit lässt er einen selbstbewussten Charakter erkennen: Im vergangenen Jahr nach seinem souveränen Gewinn des Maglia Rosa lehnte er ein Angebot des Teams Sky ab, das ihn als Sklaven auf der Galeere verpflichten wollte, um dergestalt einen ernsthaften Herausforderer des eigenen Kapitäns zu neutralisieren. Stattdessen trägt er zum Renommée seines kleinen, aber feinen deutschen Rennstalls Sunweb bei, wo er die klare Nummer Eins ist.

Das Licht des Südens empfängt nun das Feld, das bereits die Vendée, die Bretagne, die Ardennen, die Alpen, das Massiv Central und die Provence durchquert hat. Der Niederländer mit dem frankophonen Namen (Dumoulin = zur Mühle) wäre ein würdiger Träger des Maillot Jaune auf den Champs Elysées am kommenden Sonntag, der Abstand zum aktuell Führenden im Klassement ist durchaus aufzuholen. Diese Tage werden es zeigen, wer nach gut 2.500 km Strapazen durch Hitze, Staub und Wind im verschwenderisch schönen ländlichen Frankreich noch Kräfte freisetzen kann im Kampf um die Spitze. Tom Dumoulin wird sich klug entscheiden, hoffentlich erfolgreich.

Oksanen

Bei klarem Wetter kann man von Helsinki fast bis nach Tallinn blicken, lediglich 80 km Ostsee liegen zwischen der finnischen und der estnischen Hauptstadt. Neben der geografischen Nähe teilen die beiden EU-Länder auch kulturelle und politische Erfahrungen: Das Finnische und das Estnische gehören zur Gruppe der finno-ugrischen Sprachen, beide Länder sind digital affin (Nokia, Skype), beide wurden nach Jahrhunderten russischer Dominanz 1917 (Finnland) resp. 1918 (Estland) unabhängig. Im geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes von 1939, der die territoriale Aufteilung des nördlichen Ostseeraumes zwischen dem III. Reich und der UdSSR regelte, wurden beide Republiken dem Baltikum zugeschlagen.

Die Schriftstellerin Sofi Oksanen, 1977 in Mittelfinnland geboren, ist qua Biografie eine Mittlerin zwischen den Welten. Ihre Mutter ist estnisch-sowjetischer, ihr Vater finnischer Herkunft. Nach einem Studium der Dramaturgie an der Theaterakademie in Helsinki lebt die mittlerweile verheiratete Autorin in der finnischen Kapitale. Sie zählt zu den wichtigsten Stimmen der zeitgenössischen finnischen Literatur und wurde mit mehreren Preisen geehrt.

Anders als Finnland, das sich im sogenannten Winterkrieg 1939/40 erfolgreich des sowjetischen Überfalls erwehren konnte und seine politische Souveränität behielt, wurde Estland 1940 zwangsweise als Sozialistische Sowjetrepublik der UdSSR eingegliedert. Während der deutschen Besatzung Estlands von 1941 bis 1944 wurden überwiegend Juden verfolgt, nach dem erneuten Einmarsch der Roten Armee 1944 erfolgte die Sowjetisierung mit voller Härte; Zehntausende Esten wurden in den Gulag deportiert resp. gleich erschossen, im Gegenzug wurden Zehntausende ethnische Russen in Estland angesiedelt.

Dieses bis in die Gegenwart reichende nationale Trauma muss man beim Lesen der Bücher Oksanens mitbedenken. In ihrem Buch „Fegefeuer“ (finnisches Original 2008, deutsche Fassung 2010), das zu ihrem literarischen Durchbruch führte und in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurde, verknüpft sie auf gekonnte Weise die Geschichte mehrerer Generationen über Tausende von Kilometern. Aliide ist eine alte Bäuerin, die im Westen Estlands eigenbrötlerisch vor sich hinlebt. 1992, kurz nach der Wiedererlangung der estnischen Eigenstaatlichkeit, taucht die junge Zara bei ihr auf, eine russisch sprechende Estin, die sich als die Enkeltochter ihrer nach Sibirien verschleppten Schwester entpuppt.

Zara ist unter falschen Versprechungen nach Europa gelangt, wird im Berlin der Wendejahre zur Prostitution gezwungen und schafft es schließlich, ihre brutalen Zuhälter zu übertölpeln. Die Ankunft der jungen Frau auf dem verfallenden Gehöft löst in Aliide lange verschüttete Erinnerungen aus – an ihren Geliebten, der nach 1944 als sogenannter Waldbruder in den Wäldern gegen die neuen Herrscher kämpfte, an ihren Ehemann, einen überzeugten Kommunisten, aber auch an das dauernde Klima der Beklommenheit in der Sowjetunion: „Die aus den Lagern Zurückgekehrten beklagten sie nie über irgendetwas, waren nie anderer Meinung und nörgelten niemals. Das war unerträglich.“

Oksanens Roman „Als die Tauben verschwanden“ (finnisches Original 2012, deutsche Fassung 2014) rückt die Affaire zwischen Juudit, einer estnischen Widerstandskämpferin, und Hellmuth, einem SS-Offizier und dem Kommandeur des von den Deutschen besetzen Reval aka Tallinn in den Mittelpunkt. Juudit verfolgt anfangs ihren konspirativen Auftrag und versorgt ihre Kombattanten mit brisanten Informationen, findet aber zugleich Gefallen am Luxusleben an der Seite Hellmuths und verliebt sich in ihn.

Edgar, einer ihrer Untergrundkollegen, bleibt der klandestinen Arbeit treu, nur nach 1944 eben auf sowjetischer Seite. Opportunistisch wie er ist, hat er keine Skrupel, auch persönlich Bekannte der Staatsmacht ans Messer zu liefern. Juudit ist nach Hellmuths Tod verwahrlost und zwischenzeitlich mit dem Spitzel Edgar liiert, findet sich im tristen Alltag nicht zurecht und erkrankt seelisch schwer: „Und der jetzige Zustand seiner Frau? Sich um ihren Medikamentenbedarf zu kümmern, verlangte schon Planung. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich um das Auffüllen der Hausapotheke selbst zu kümmern, denn seine Frau würde kaum imstande sein, taktisch vorzugehen und die Apotheken zu wechseln.“

Das Leitmotiv der Romane Sofi Oksanens ist das Geworfenwerden zahlloser Menschen durch das Spiel der Großmächte, dessen Grausamkeit sich im Einzelschicksal zeigt. Epochenwenden wie 1940/44 oder 1989/91 ziehen die Menschen eines kleinen Landes in einen mächtigen Strudel, der ihnen alles abverlangt zum Überleben. Oksanens literarische Technik lässt sich gut als szenisch charakterisieren: Die einzelnen Kapitel resp. Episoden lesen sich sprechend, Dialoge, Reflexionen und Landschaftsskizzen lösen sich ab, die Geschichten werden beharrlich in Richtung Klimax vorangetrieben, Rückblenden erzeugen einen theatralen Rhythmus. Die Bücher vermengen historische Tatsachen mit literarischer Fantasie zu einer fesselnden Melange, die versunkene Sowjetunion lebt weiter als Schreckgespenst.

Eden

Das menschliche Leben beginnt gemäß des Alten Testamentes im Garten Eden: „Dann legte Gott, der Herr, in Eden, im Osten, einen Garten an und setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. Gott, der Herr, ließ aus dem Ackerboden allerlei Bäume wachsen, verlockend anzusehen und mit köstlichen Früchten, in der Mitte des Gartens aber den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.“ (Gen 2,8-9) Dieser Garten Eden, synonym zum Paradies (vom altpersischen paridaida, dem Lustgarten) verwendet, ist ein Ort des wunschlosen Glückes; Adam und Eva brauchen nichts weiter zu tun, als umherzugehen, erlaubte Früchte zu genießen und sich des sorglosen Daseins zu erfreuen.

Was sie verloren haben, wird dem Mann und der Frau erst nach dem Sündenfall klar: Gott vertreibt sie aus dem Paradies und bereitet ihnen in der Folge große Mühsal. Der Mann muss im Schweiße seines Angesichtes dem Ackerboden das Korn für das Brot abringen, die Frau wird unter Schmerzen Kinder gebären (Gen 3,16-19). Das menschliche Elend mit harter Arbeit, Konkurrenz, Gier und Missgunst nimmt hier seinen Anfang. Eden ist das mythische Reich, das noch ohne Trennung von Gott definiert war und zugleich weiter wirkt als Utopie und Verheißung.

Bei der gerade laufenden Fußball-WM in Russland gibt es einen Spieler, der auf den magnetischen Vornamen „Eden“ hört. Im belgischen Team, das es bis in die Vorschlussrunde geschafft hat, ist er zuständig für die kreativen und verblüffenden Momente im Spiel nach vorn. Er ist schnell und wendig, kann den störrischen Ball eng am Fuß kontrollieren, hat eine panoramaweite Übersicht für seine Mitspieler und ist obendrein torgefährlich. Er strebt nach Vollkommenheit und agiert so wertvoll, dass er im Garten Eden sicher in eine Startelf berufen worden wäre.

Doch damit nicht genug: Eden trägt auch noch den sprechenden Nachnamen „Hazard“, was im Englischen so viel wie Zufall, aber auch Wagnis bedeutet (die arabische Wurzel az-zahr meint den Würfel zum Spielen). Der Wallone Hazard spielt mit dem populären Fußball ein Spiel, das bei aller Kommerzialisierung und Verwissenschaftlichung offen geblieben ist für das Scheitern des eigenen Bemühens, für die geglückte Finte des Gegners, für das Pech in Gestalt vergebener Gelegenheiten. Der Zocker, also der Hasardeur, weiß das – und schätzt seine Chancen zu gewinnen höher ein als die des Opponenten.

Eden Hazard ist in der beneidenswerten Lage, sich niemals Gedanken über einen Künstlernamen machen zu müssen. Auch mögliche kommende Ehrentitel zur Charakterisierung seines Auftritts sind in seinem Taufnamen bereits enthalten. Er steht zum einen für die schiere Freude am Spiel um des Spieles willen, das in der Kindheit angelegt ist und im Wachstum verloren zu gehen droht; er steht zum anderen für das Vertrauen, dass alles schon gut ausgehen werde, wie hoch auch der Einsatz sein möge. Die Summe beider Namen darf man Glauben nennen.

Pranger

Der „Pranger“ ist historisch betrachtet eine hölzerne Vorrichtung, mit der gefesselt ein Verurteilter der Öffentlichkeit zur Verspottung und Demütigung präsentiert wird; funktionelle Synonyme sind das Halseisen, die Schandbühne und der Schandpfahl. In Deutschland wird der Pranger etwa seit dem Jahr 1400 allgemein angewendet, er verschwindet als Bestrafungsinstrument erst im Zuge der Verbreitung der Ideen der Aufklärung, die die Würde des einzelnen Menschen philosophisch grundiert. An seine Stelle der Normierung und Sanktionierung gesellschaftlichen Fehlverhaltens tritt peu à peu das Gefängnis.

Die Historikerin Ute Frevert konstatiert für die frühe Neuzeit generell akzeptierte Schand- und Ehrenstrafen, die sich im Am-Pranger-Stehen ausdrücken: „Nach traditioneller Auffassung hatten sich Verbrecher gegen die soziale Ordnung und den öffentlichen Frieden vergangen. Deshalb sei es nur recht und billig, sie vor den Augen der Öffentlichkeit zu bestrafen.“ Die Etymologie des Prangers ist von geradezu körperlicher Eindeutigkeit, wie der Kluge nachweist: Er wurzelt im mittelhochdeutschen pfrengen, was bedrücken resp. bedrängen bedeutet. Das ebenfalls geltende mittelniederdeutsche prangen meint drücken oder klemmen.

Die eigentliche Funktion des Prangers ist der Ausschluss des Gebrandmarkten aus der Gemeinschaft. Während er der Lächerlichkeit preisgegeben wird, geht er seines Rufes, seiner Würde, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Identität verlustig. Der weltgeschichtlich wohl bekannteste Pranger ist Jesu Kreuz auf Golgatha (Mk 15,29-32). Im römischen Imperium war die Kreuzigung eine besonders qualvolle und entehrende Art der physischen Vernichtung, die sich je nach Konstitution des Delinquenten über Tage hinziehen konnte, während derer der Pöbel es nicht an Häme fehlen ließ. Zur Praxis des Prangers gehört unweigerlich das Publikum, das das schaurige Spektakel der Demütigung genießt, ähnlich der Gladiatorenkämpfe im Zirkus oder der unter freiem Himmel vollzogenen Auspeitschungen.

Das Verschwinden des realen Prangers in der europäischen Moderne kann nicht umstandslos mit einem Zugewinn an Zivilisierung gleichgesetzt werden. Das Geschäft der öffentlichen Beschämung übernimmt ab Ende des 19. Jahrhunderts der Journalismus über die Zeitungen, im 20. Jahrhundert wird es zu einer Domäne des neuen Massenmediums Fernsehen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schließlich findet der mediale Pranger seinen Platz in den asozialen Medien des Internets. Der substanzielle Unterschied zum mittelalterlichen Schandpfahl ist die Entkopplung vom juristischen Verfahren: War das öffentliche Beschämen bis zur Aufklärung eine vom Gericht verhängte und vom Publikum weithin goutierte Strafe, kommt der Pranger im Netz ohne Beweis und Urteil aus. Der Schaden, den er anrichtet, ist deswegen nicht weniger gravierend.

Ute Frevert sieht hier ein Weiterwirken des asymmetrischen Dialoges von Macht und Ohnmacht: „Es geht nun weder um die Vindizierung von Normverstößen, die Integration sozialer Gruppen und Gemeinschaften oder die Feier von Initiationsriten. Im Zentrum steht vielmehr die Demütigung als Demütigung, der Spaß an der Erniedrigung, Beschämung als Selbstzweck. Man kann das als Zeichen sozialer Desintegration und Anomie deuten: Statt allgemein gültiger Regeln und Konventionen zählt nur die eigene Wunschökonomie, das persönliche Gesetz. Andererseits bedarf auch dies einer sozialen Validierung, und dafür bietet die Digitalisierung unbegrenzte Möglichkeiten.“

Anhand der #MeToo-Debatte lässt sich exemplarisch studieren, wie auch überaus mächtige und gefürchtete Männer binnen Tagen ihr bisheriges Leben verlieren können, wenn sie in den Strudel des Online-Prangerns von unten geraten. Der der sexuellen Belästigung und der Vergewaltigung bezichtigte Filmproduzent Harvey Weinstein ist durch die Anschuldigungen zahlreicher Schauspielerinnen auf Twitter ein vorab erledigter Fall – egal, wie das mittlerweile gegen ihn eröffnete Verfahren vor Gericht dereinst ausgehen wird.

Alle wohlwollenden Gönner aus der Politik, den Medien und dem Show-Business meiden ihn als Aussätzigen, seine Firma ist bankrott, seine Frau hat die Scheidung eingereicht. Seriöse Zeitungen drucken genüsslich ein Bild Weinsteins in Handschellen auf dem Weg zum Untersuchungsrichter; was sie vorgeblich tun als Berichterstattung, kommt dem Anheizen des Feuers gleich. Der Pranger lebt – im Bewusstsein, moralisch auf der sicheren Seite zu stehen, dürfen Krethi und Plethi auf den Mann am Boden spucken. Wenn das keine Angst vor Enthemmung macht.

Jubel

Der „Jubel“ ist ein Ausbruch der Freude, der Begeisterung und der Erleichterung, der meist in und mit der Masse vollzogen wird. Diese lässt sich kollektiv gehen, schreit, weint, lacht und stöhnt mit einer Stimme. Bei der gerade laufenden Fußball-WM in Russland lässt sich anschaulich verfolgen, wie sich nach einem Tor Anspannung und Bangigkeit lösen, wenn fremde Menschen im Stadion einander in die Arme fallen.

Das Verb „jubeln“, seit dem 13. Jahrhundert im Mittelhochdeutschen ansässig, kommt vom altfranzösischen jubiler (= jauchzen), das wiederum vom lateinischen jubilum, dem Freudenruf der Hirten und Jäger stammt. Eine wesentlich ältere Quelle verweist auf das hebräische jovel (= Widderhorn), mit dem nach mosaischem Gesetz das „Jubeljahr“ eingeläutet wird. Dieses ist alle 50 Jahre zu feiern und trägt bereits den Charakter christlicher Umkehr und Vergebung in sich: Die Israeliten werden aufgerufen, die Feldarbeit ruhen zu lassen, einander die Schulden zu erlassen, einheimische Sklaven freizulassen und verkauften Boden zurückzugeben.

Unter Lev 25,8-10 heißt es: „Du sollst sieben Jahreswochen, siebenmal sieben Jahre, zählen; die Zeit von sieben Jahreswochen ergibt für dich neunundvierzig Jahre. Im siebten Monat, am zehnten Tag des Monats, sollst du das Signalhorn ertönen lassen; am Versöhnungstag sollt ihr das Horn im ganzen Land ertönen lassen. Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig, und ruft Freiheit für alle Bewohner des Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr. Jeder von euch soll zu seinem Grundbesitz zurückkehren, jeder soll zu seiner Sippe heimkehren.“ Die Menschen sind gehalten, ihre Streitigkeiten zu vergessen und Gott, dem Herrn zu danken.

Papst Bonifatius VIII. rief 1300 in einer feierlichen Bulle erstmals das kirchliche Jubeljahr aus, das alle hundert Jahre wiederkehren sollte und den Gläubigen bei einer Pilgerfahrt nach Rom vollkommenen Ablass ihrer Sünden zu gewähren versprach. Die Ewige Stadt wurde seinerzeit von angeblich zwei Millionen Pilgern heimgesucht, zu verführerisch war die Aussicht der umfassenden Lossprechung. Der Abstand wurde von späteren Päpsten auf 50, dann auf 33 und schließlich 25 Jahre verkürzt. Heute meint die Wendung „alle Jubeljahre“ so viel wie „höchst selten“ und „kostbar“, getränkt mit Bedauern über das rare Erscheinen.

Der Dornseiff postiert den Jubel nahe zu Ekstase, Rausch und Taumel; in religiöser wie erotischer Hingabe drängen starke Emotionen der Überwältigung, die von körperlicher Verzückung begleitet werden, zur Entladung. Genau deswegen dürfen sich erwachsene Männer im Jubel über ein Tor auf dem Fußballfeld orgiastisch abküssen und ihre definierten Leiber rhythmisch aneinander reiben, ohne in den Ruch der Homosexualität zu geraten. Der Kontext des Sports erlaubt die inszenierte Entgrenzung und feiert sie mit dem Publikum auf den Rängen. Der Moment der Freiheit möge ewig dauern.